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Geschichte zwischen Wissenschaft und Gedenken – Erinnerungskultur in Sachsen

15. Belter-Dialoge
Freitag, 12. Mai 2023
Alter Senatssaal, Universität Leipzig

Geschichte zwischen Wissenschaft und Gedenken

Widerstand in der DDR wird in der Regel mit der Friedlichen Revolution von 1989 assoziiert oder mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953. Doch beiden Ereignissen gingen viele Widerstandshandlungen bereits in der Stalinzeit voraus, in denen die Beteiligten gewaltvolle Erfahrungen machten.

So auch die Gruppe um Herbert Belter, der wir in den Belter-Dialogen gedenken. Belter, Student an der Leipziger Universität, hatte vor der ersten Volkskammerwahl 1950 auf Flugblättern freie Wahlen gefordert. Er und andere Beteiligte der Gruppe wurden daraufhin verhaftet, nach Moskau verschleppt und dort in einem
Geheimverfahren verurteilt. Herbert Belter, 21 Jahre alt und werdender Vater, wurde 1951 als Anführer der Gruppe erschossen, die anderen Mitglieder der Gruppe sollten für 25 Jahre Zwangsarbeit leisten.
Zwei Jahre später endete der Aufstand vom 17. Juni 1953 gewaltsam und blutig. Bürgerinnen und Bürger hatten zunächst die Senkung der Arbeitsnormen gefordert, dann politische Freiheiten und die Deutsche Einheit. Bekanntlich beendeten sowjetische Panzer die Proteste, an die wir in diesem Jahr zum 70. Mal erinnern.
Auch andere Staaten unter sowjetischer Kontrolle machten ähnliche Gewalterfahrungen wie etwa Ungarn oder die Tschechoslowakei. Das brutale Vorgehen zeigte zunächst Wirkung, denn öffentlicher Widerstand wurde seltener; doch der Druck stieg in den achtziger Jahren erneut deutlich an. Das Oppositionelle verlagerte sich in private oder kirchliche Räume, die große Zahl von Menschen, die die DDR verließen, setzte das Regime zunehmend unter Druck. Am Ende siegte die Freiheit.

Mit herzlicher Einladung zu dieser Veranstaltung
Dr. Marco Arndt
Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
für den Freistaat Sachsen


Programm

15.00 Uhr
Begrüßung
Dr. Marco Arndt
Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-
Stiftung e. V. für den Freistaat Sachsen

Grußwort
Rektorin Prof. Dr. Eva Inés Obergfell
Universität Leipzig

15.20 Uhr

Wie gehen wir mit Diktaturerfahrungen
in Deutschland um?
Michael Kretschmer
Ministerpräsident des Freistaates Sachsen
Erinnerungskultur in Sachsen –

Dem Widerstand in der DDR gedenken
Dr. Joachim Klose
Leiter des Politischen Bildungsforum Berlin
und Leiter Grundlagenforum der Konrad-
Adenauer Stiftung e. V.


16.00 Uhr

Pause mit Imbiss

16.15 Uuhr
Woran erinnern wir uns?
Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig
Professorin für Politische Theorie und
Ideengeschichte an der Universität Passau
von 1999 bis 2022


Musikalische Umrahmung
Konstanze Hollitzer
Pianistin

Veranstaltungsort

Universität Leipzig
Alter Senatssaal
Ritterstr. 26
04109 Leipzig


Organisation


Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Politisches Bildungsforum Sachsen
Königstr. 23, 01097 Dresden


T +49 351/563 446-0
F +49 351/563 446-10kas-sachsen@kas.de
www.kas.de/sachsen
Feedback: lina.berends@kas.de


Anmeldung
Bitte melden Sie sich online unter
www.kas.de/sachsen an.

Veranstaltungsflyer

Feindbilder und Geschichtsbilder , Wie wächst Europa zusammen?

14. Belter-Dialoge

Mittwoch, 27. April 2022
Alter Senatssaal, Universität Leipzig

Beginn: 15.30 Uhr, Begrüßung, Dr. Joachim Klose, Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. für den Freistaat Sachsen

Die Staaten und Völker der Europäischen Union sind
über ihre gemeinsame und wechselvolle Geschichte mit-
einander verbunden. Im Laufe der Zeit trennt sich jedoch
die von Zeitzeugen erlebte Wirklichkeit von der erzähl-
ten. Es war vor allem Deutschland, das in den letzten
150 Jahren immer wieder mit seinen Nachbarländern in
Konflikte geraten ist. Wie dominieren unvergessene und
oft politisch instrumentalisierte Auseinandersetzungen
die Gegenwart? Welche Narrative überlagern die gegen-
wärtigen Krisen der EU und was hält den Staatenbund
zusammen? Wie wird mit deutschem Lösungsdruck um-
gegangen? Tritt die Bundesrepublik als Lehrmeister der
europäischen Integration, des Multikulturalismus und
des Klimaschutzes auf oder schaffen wir es, ein Ethos
zu vermitteln, das die anderen Länder ansteckt? Wieviel
Toleranz verträgt die EU oder bedarf es in einer multipo-
laren Welt externer Feindbilder als Klammer?

Die Ausgestaltung eines europäischen Freiheitsbünd-
nisses ist sowohl eine gesellschaftliche als auch individu-
elle Aufgabe. Im Rahmen der diesjährigen Belter-Dialoge
wollen wir darüber ins Gespräch kommen.
Mit herzlicher Einladung zu dieser Veranstaltung
Dr. Joachim Klose
Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
für den Freistaat Sachsen

Programm

15.30 Uhr Begrüßung Dr. Joachim Klose
Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-
Stiftung e. V. für den Freistaat Sachsen

15.45 Uhr Erinnerungs(un)kultur: Ein Blick auf Europa im Kriegsjahr 2022 Prof. Dr. Maren Röger
Direktorin Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Leipzig Professorin für Geschichte des östlichen Europa/Ostmitteleuropa, Universität Leipzig

16.45 Uhr Imperien und Identitäten
Dr. Jacek Kołtan
Europäisches Solidarność-Zentrum, Danzig

18.00 Uhr Imbiss

19.00 Uhr Feindbilder und Geschichtsbilder , Wie wächst Europa zusammen? Grußworte

Rektorin Prof. Dr. Eva Inés Obergfell
Universität Leipzig

Staatsminister Sebastian Gemkow
Sächsischer Staatsminister für Wissenschaft, Vorsitzender des Parlamentarischen Forums Mittel- und Osteuropa

Diskussion mit Dr. Jacek Koltan, Prof. Dr. Maren Röger, Staatsminister Sebastian Gemko

Veranstaltungsort

Universität Leipzig

Alter Senatssaal
Ritterstrasse 26, 04109 Leipzig

Organisation
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Politisches Bildungsforum Sachsen

Königstr. 23, 01097 Dresden
T +49 351/563 446-0F

+49 351/563 446-10
kas-sachsen@kas.de
www.kas.de/sachsen
Feedback: joachim.klose@kas.de

Einladung als pdf

Zwischen Windelwechsel und Wehrpassverweigerung

Annemarie Müller

Die DDR-Regierung hatte beschlossen, auch an Frauen mit medizinischen Berufen einen Wehrpass auszugeben. Rechtsanwalt Schnur berichtete davon beim Friedensseminar in Meißen, an dem auch mein Mann teilnahm. Das war im Herbst 1983. Ich hatte gerade mein viertes Kind bekommen und deshalb nicht selbst im Meißen dabei sein können. Mein Mann wusste auch, dass Frauen in Berlin dagegen Widerstand gezeigt hatten. Gemeinsam warfen sie ihre Absage an das Wehrkreiskommando demonstrativ in einen Briefkasten auf dem Alexanderplatz. Alle waren dabei schwarz gekleidet.

Mit meinen vier Kindern hatte ich im Herbst 1983 eigentlich andere Sorgen. Aber da auch ich Krankenschwester gelernt und diesen Beruf ausgeübt hatte, betraf mich diese Bestimmung ebenfalls. Irgendwann wollte ich wieder in meinen Beruf zurückkehren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man mich unter Druck setzen und im Ernstfall zum medizinischen Dienst im Militär verpflichten könnte.

Das Militär betrachtete ich skeptisch. Als Freunde und auch mein Bruder den Wehrdienst mit der Waffe verweigerten und Bausoldaten wurden, war ich beeindruckt und stolz auf sie. Sie nahmen Schikanen und folgenschwere Auswirkungen für den weiteren Bildungsweg auf sich. Aber bisher betraf das nur die jungen Männer. Und nun sollten auch wir Frauen mit dem Wehrpass da hineingezogen werden! Eine unvorstellbare Tatsache.

Zwischen Stillen, Windeln und Breikochen suchte ich den Kontakt zu ebenfalls betroffenen Freundinnen. Wir tauschten uns aus und überlegten, wie weit wir gehen könnten, ohne unseren Familien zu schaden. Am Ende entschieden sich mehrere zu einer schriftlichen Absage an das Wehrkreiskommando. Allerdings hatten wir nicht den Mut, unsere Briefe gemeinsam und in einem demonstrativen Akt abzugeben. Jede von uns tat es individuell und auf ihre Art. Auch ich schickte meinen Brief ab. Ich habe keine Ahnung, wie viele Briefe das Wehrkreiskommando wirklich erreichten. Die möglichen Folgen konnten wir damals nur erahnen. Dass die Handlung aber überhaupt keine sichtbaren Auswirkungen zeigte, verwundert mich bis heute. Wollte man uns damals nur einschüchtern oder war die politische Situation wirklich so brenzlig, dass auch die Frauen in den militärischen Strukturen gebraucht wurden?

An der Aktion war gut, dass wir Frauen uns mit der Wehrpflicht auseinandersetzten und uns eine eigene Meinung zum Thema Gewissensentscheidung bildeten. Bis dahin lebten wir doch in dem Glauben, dieses Thema betreffe nur das männliche Geschlecht. Heute weiß ich, dass viele Männer erst bei der Musterung durch die Fragestellung der Gewissensentscheidung den Weg zum Friedensengagement fanden.

Wir Frauen erlebten es ähnlich. Sich mit der Annahme oder Ablehnung des Wehrpasses zu beschäftigen, öffnete uns überhaupt erst den Blick auf das Friedensthema. Uns wurde bewusst, dass wir in einer durchmilitarisierten Gesellschaft lebten, deren Auswirkungen auch im Alltag spürbar waren. Beispiele dafür gab es genug. Sobald unsere Kinder staatliche Kinderkrippen oder Kindergärten besuchten, waren sie diesem Einfluss ausgesetzt. Das betraf fast alle Kinder, denn die Mehrheit der Mütter war berufstätig.

Wie erfolgte die Einflussnahme? Ein Beispiel dazu: Am 1. März, dem Tag der NVA (Nationalen Volksarmee), konnte es sein, dass die Kinder einen Liedtext mit nach Hause brachten, in dem der Bruder oder Vater gelobt wird, weil er seinen „Friedensdienst“ als Soldat ableistete. Das sollte die Kinder mit Stolz erfüllen. Oder ein Lied handelte davon, wie die NVA den Kindern Sicherheit bot. Wie intensiv diese Lehrplanvorgaben im Kindergarten umgesetzt wurden, hing immer von den Erziehern ab. Meine Kinder hatten wohl Glück mit der ideologischen Einflussnahme im Kindergarten.

In der Schule wurde die Beeinflussung viel intensiver. Wir als Eltern erfuhren nur punktuell davon. So fiel meine Tochter auf, als sie in der 3. Klasse im Zeichenunterricht nicht das vorgeschriebene Thema malte. Die Aufgabe hieß: Male einen Soldat mit Gewehr! Wie bei allen anderen in der Klasse entstand auch auf ihrem Papier ein Uniformierter. Nur anstatt einem Gewehr gab meine Tochter ihrem Soldaten einen Spaten in die Hand. Ihr Nachbar hatte wohl abgeguckt und tat es ihr nach. Große Verwunderung der Zeichenlehrerin und eine Zensur schlechter, denn meine Tochter hatte das Thema verfehlt. Anschließend richtete die Lehrerin die Frage an mich, wie das Kind denn zu einer solchen Darstellung gekommen sei? Ich konnte ihr nur erzählen, dass meine Tochter das gemalt hatte, was sie bei ihrem Onkel gesehen hatte, der gerade Bausoldat war.

Nicht so problemlos ging es beim jährlichen Pioniermanöver für meine Kinder ab. Sie waren nicht bei den Pionieren und mussten trotzdem an dieser Veranstaltung, die statt Schulunterricht angeboten wurde, teilnehmen. Schon das gefiel uns Eltern nicht, und zudem fanden wir es nicht richtig, dass dafür auch ein Wandertag geopfert werden sollte. Zum Glück betraf es acht Kinder in der Grundschule, die nicht zu den Pionieren gehörten und das Manöver ablehnten. Auf Rückfrage bei der Pionierleiterin, was beim Manöver „Schneeflocke“ passieren würde, beruhigte man uns: Es sei ganz harmlos, wie ein Geländespiel, und es würde den Kindern wirklich viel Spaß bereiten, sich sportlich zu betätigen. Was mit „Minen entschärfen“ betitelt sei, bedeute nur, im Laub nicht auf ein darunter verstecktes Quietschtier zu kommen. Sonst wäre das Kind leider auf eine „Mine“ getreten – natürlich nicht in Echt! Und beim „Handgranatenwerfen“ würde natürlich auch nicht mit scharfen Waffen gearbeitet, sondern nur Sportkeulen geworfen. Auch das sei ein harmloses Spiel für die Kinder, so die Aussage der Schulleitung, als sie die renitenten Eltern zu einem Gespräch zitierte. Es war für die Schule unverständlich, dass Eltern diese kindlichen Spiele ablehnten und intensiv forderten, dass ihre Kinder stattdessen Unterricht erhielten. Von der Direktorin wurde uns Eltern zudem vorgehalten, dass wir mit dieser Einstellung den Bildungs- und Entwicklungsweg unserer Kinder gefährden würden. Dabei könnte aus ihnen so viel werden!

Zum Glück kannten wir Eltern uns aus der Kirchgemeinde und überlegten immer gemeinsam, welcher der nächste Schritt sein könnte. Diese Prozedur um das Pioniermanöver wiederholte sich über mehrere Jahre. Wir Eltern beschwerten uns deshalb auch bei der damaligen Bildungsministerin, Margot Honecker, und wurden darauf von Mitarbeitern des Stadtbezirkes empfangen. Dort gestand man unseren Kindern einen Ersatz für den fehlenden Wandertag zu. Darauf warten sie noch heute. Geändert hat sich bis zum Herbst 1989 an der Praxis in der Schule nichts.

Noch nach 1990 machte mir eine Klassenlehrerin klar, dass sie nie begriffen hätte, warum wir uns wegen des „Pioniermanövers“ in der DDR so aufgeregt hätten.

Unsere Motivation, uns nach 1983 in einem Friedenskreis in der Kirchgemeinde zu engagieren, war wohl vorrangig die Sorge um die Zukunft unserer Kinder. Wir waren vor allem junge Mütter und einige Väter oder Ehemänner, die monatlich in privaten Räumen zusammenkamen. Gemeinsam diskutierten wir über Friedensthemen in „Westliteratur“, informierten uns über aktuelle politische Fragen und tauschten uns über kirchliche Treffen aus. Die jährliche Friedensdekade für die Kirchgemeinde bereiteten wir mit unterschiedlichen Veranstaltungen vor. Diese zehn Tage im November wurden für uns zur Möglichkeit, auch außerhalb des Friedenskreises unsere Themen zu bewegen, für Kinder, Familien, Gemeindekreise oder im Gottes dienst.

Unser Friedenskreis, einer von zwölf in Dresdner Kirchgemeinden, war auch in der „AG Frieden“ der Dresdner Kirchenbezirke vertreten. Die Evangelische Kirche bot nicht nur Schutz für Andersdenkende, sondern unterstützte auch eine Vernetzung über das Stadtgebiet hinaus. In einer Zeit ohne Telefon und sonstiger schnellen Nachrichtenübermittlung waren diese persönlichen Treffen von großer Bedeutung.

Hier lernte ich unterschiedlichste Friedensakteure kennen. Für manche war besonders die persönliche und kirchliche Ebene von Bedeutung. Aber es gab auch Gruppierungen, die sich nicht mehr länger unter dem Dach der Kirchen verstecken wollten. Sie nutzen etwa die Demonstrationen am 1 . Mai aus, um für kurze Zeit eigene Plakate, die provozieren sollten, zu zeigen. Diese Friedenskämpfer wären auch bereit gewesen, dafür ins Gefängnis zu gehen. Soweit wären wir in unserem Friedenskreis nie gegangen. Wir fühlten uns stärker für die kritische Auseinandersetzung zwischen uns oder über Bildungsthemen zuständig. Dabei wollten wir nie staatliche Stellen bewusst herausfordern. Aus heutiger Sicht würde ich uns als übervorsichtig einschätzen.

Aber die Stasi hatte trotzdem vor uns Angst, beschattete uns, schleuste einen Informanten ein. Erst nach der Akteneinsicht erfuhren wir, wie der Staat DDR sich durch unsere schlichte Friedensarbeit bedroht und verunsichert gefühlt hatte.

Im Jahr 1987 gab es in der DDR die erste legale Demonstration der Friedensbasisgruppen, an der auch wir beteiligt waren. Durch die „friedliebende“ DDR sollte im September von Nord nach Süd der Olof-Palme Friedensmarsch verlaufen. Geplant war ein Abschluss an der tschechoslowakischen Grenze. Davon wurde, aus welchen Gründen auch immer, Ab stand genommen und man beschloss, die staatliche Abschlusskundgebung, unter Beteiligung der dazu verpflichteten Werktätigen, in Dresden auf dem Schlossplatz durchzuführen.

Wir vom Friedenskreis fühlten uns zuerst veralbert, als wir von der offiziellen Einladung an die kirchlichen Friedensgruppen in Dresden hörten. Es war sogar erwünscht, mit eigenen Plakaten, ohne vorherige Zensur, zu erscheinen. Nachdem wir die Realität begriffen hatten, stellten sich uns Fragen: Was soll auf den Plakaten stehen und wie stellt man so etwas überhaupt her? Nach langen Diskussionen entschied sich unser Friedenskreis für zwei Banner mit folgendem Wortlaut: „Wir wünschen uns: atomwaffenfreie Zone, chemiewaffenfreie Zone, panzerfreie Zone“ und „Abbau von Feindbildern in Beruf, Schule, Kindergarten, Armee“. Dass man die Plakate mit Luftlöchern versieht, damit sie weniger Widerstand bilden, lernten wir erst später.

Es war schon ein sehr eigentümliches Gefühl, als sich etwa 180 Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen mit ihren vielfältigen Plakaten gemeinsam von der Reformierten Kirche in Dresden aus, vorbei an Wasserwerfern der Polizei und westlichen Journalisten, in Richtung Schlossplatz in Bewegung setzten. Dort traf unser Zug mit den roten Fahnen und vorgegebenen Plakaten der Werktätigen zusammen. Die signalisierten uns deutlich Misstrauen und Unverständnis über unser Auftreten. „Was erlauben wir Dresdner uns da?“, werden sie gedacht und teilweise auch gesagt haben. Damit die Redner und die Fernsehkameras auf der Tribüne nicht ständig auf das große Symbol von „Schwerter zu Pflugscharen“ schauen mussten, stellten sich immer wieder FDJler mit ihren roten Fahnen davor.

Da kam unter den Demonstranten Bewegung auf, denn auch die kirchlichen Demonstranten wollten in Sicht bleiben. Zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam es zum Glück nicht. Alles endete für uns friedlich mit einem Gebet in der Kreuzkirche. Danach zogen wir mit unseren eingerollten Plakaten nach Hause, immer noch erstaunt, was doch alles in der DDR möglich war.

Diese Erfahrungen machten uns übermütig. Wir glaubten, es könnte jetzt in dieser Offenheit weitergehen. Im November desselben Jahres, zur Friedensdekade, war es deshalb für uns selbstverständlich, unsere einmal in der Öffentlichkeit gezeigten Plakate erneut aufzuhängen, diesmal an den gerade an unserer Kirche aufgestellten Baugerüsten. Es war schon dunkel. Trotzdem hatte uns jemand verpfiffen, und schon nach wenigen Stunden erhielt unser Pfarrer vom Stadtbezirk die Aufforderung, die Plakate umgehend zu entfernen. Wir hatten wohl zu viel Hoffnung in die Erlebnisse des Olof-Palme-Friedensmarsches gelegt. Die DDR war noch nicht so weit. Doch wir hatten schon einen Zipfel der Freiheit erhascht. Das machte Mut, auch weiterhin kritisch zu bleiben und, wo nötig, Widerstand zu zeigen. Aber unsere Kinder wollten wir dabei nicht gefährden.

Für das Engagement am Ende der DDR wurde für uns die Ökumenische Versammlung bedeutsam. Als Delegierte für die Basisgruppen war ich von Beginn an an den gesellschaftskritischen Diskussionen beteiligt und gut informiert. Meine Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ öffnete mir und auch dem Friedenskreis neue Horizonte. Einige Mitglieder der Arbeitsgruppe erlangten Bedeutung, z.B. Ruth Misselwitz

( Pastorin in Berlin-Pankow), Markus Meckel und Richard Schröder (beide Theologen, später politisch in der SPD tätig) oder Reinhard Höppner (Magdeburg, später Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt). Auch wurden Themen mutig angesprochen, über die wir bisher kaum gewagt hatten, offen zu reden. Das DDR-Schulsystem mit seiner ideologischen Einflussnahme wurde ebenso kritisiert wie das Ein-Parteien-System oder die geduldete Unmündigkeit der DDR-Bürger.

Es war eine für mich bewegende und Mut machende Zeit zwischen Februar 1988 und April 1989. Da war es folgerichtig, dass die Kommunalwahlen im Mai 1989 auch von den Bürgern aufmerksamer beobachtet wurden, mit großer Beteiligung bei der Auszählung. Ich erinnere mich an eine öffentliche Kandidatenvorstellung im Stadtteil. Es waren erstaunlich viele Teilnehmer, die gekommen waren, um mit den Kommunalwahlkandidaten der Parteien zu reden. Dann kam ein Anwesender auf die Idee, eine Vorabstimmung per Handzeichen über die uns vorgesetzten Kandidaten durchzuführen. Alle waren so perplex, dass keiner widersprach und alle Kandidaten diese vorgezogene Wahl über sich ergehen lassen mussten. Ein Kandidat erhielt so viel Ablehnung, dass fast alle im Raum der Meinung waren, er könne nicht zur Wahl im Mai kandidieren. Das wurde anschließend an die Stadtbezirksleitung weitergereicht und der Mann wurde wirklich von der Kandidatenliste gestrichen. Unfassbar, was wir erreichen konnten!

Das war im Frühling 1989, als schon zu spüren war, dass sich die Bürger in der DDR nicht mehr alles gefallen lassen würden. Was daraus folgen könnte, war unklar. Aber viele von uns wollten das System der DDR reformieren, nicht abschaffen. Dazu gehörte für uns, dass jeder Bürger an freien und geheimen Wahlen teilnehmen oder sie auch verweigern konnte, ohne benachteiligt zu werden.

Ich erinnere mich an ein anderes Beispiel von aufkeimender Mündigkeit im September 1989. In der 8. Klasse meiner Tochter stand die Wahl zum neuen Elternaktiv an. Im Vorfeld hatte mir die Klassenlehrerin schon nahegelegt, ich möchte nicht wieder kandidieren, denn meine Tochter werde ja nicht zur Jugendweihe gehen und dann könnte ich wohl kaum die für den Jahrgang anstehenden Aktivitäten unterstützen. Mit der Begründung, er sei nicht der leibliche Vater des Kindes, wurde auch einem anderen langjährigen Elternaktivmitglied ähnliches angetragen. Wir beide waren aber nicht bereit, sofort zurückzuziehen, sondern wollten dies vor der Elternschaft klären. Neben der Klassenlehrerin nahm auch die Direktorin an dieser Elternversammlung teil und musste erleben, dass sich die Mehrheit der Anwesenden hinter uns stellte. Wir wurden wirklich wiedergewählt. Für die Lehrerinnen war dies eine schreckliche Niederlage, für die Eltern ein Erfolg.

Im Oktober 1989 erfolgte in der Klasse meiner Tochter die Aufnahme in die FDJ. Entsetzt kam meine Tochter nach Hause, um zu erzählen, dass bis auf wenige Ausnahmen alle eingetreten wären, auch Kinder, deren Eltern einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Die ideologische Anpassung funktionierte in den Schulen bis zum Schluss.

Unser Friedenskreis wurde im Juli 1989 noch einmal aktiv, als es in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu gewalttätigen Ausschreitungen kam. In unserer Kirchgemeinde boten wir ein Friedensgebet an. Wir wollten damit unserer Hilflosigkeit Ausdruck verleihen. Außerdem sammelten wir Unterschriften für einen Brief an die Chinesische Botschaft – eine Aktion, die in der DDR unerwünscht war. Anschließend schickte ich den Brief per Post nach Berlin ab, erhielt aber nie eine Reaktion. Erst Jahre später entdeckte ich in den Stasi-Akten, dass dieser Brief nie in der Botschaft angekommen, sondern von der Briefkontrolle sofort abgefangen worden war.

Unsere Sensibilität für die Friedensthemen in der DDR begann durch unsere persönliche Betroffenheit über den Wehrpass. Bei den Bildungsthemen lag uns die Zukunft unserer Kinder am Herzen. Mit dem Ende der DDR gab es zunehmend weniger Momente, sich kritisch mit der Militarisierung in unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Spätestens durch die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland gibt es kaum mehr einen Anlass, seine eigene Gewissensentscheidung zu überdenken. Schade eigentlich für das Friedensengagement bei uns!

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Karl Eduard von Schnitzler und die Folgen – Feindbilder und Feindbildvermittlung in der DDR

HINTERGRÜNDE

Rüdiger Steinmetz

Karl-Eduard von Schnitzler markierte und mediatisierte den Ost-WestGegensatz im Kalten Krieg und darüber hinaus in den Zeiten der deutschdeutschen Annäherung wie kein anderer. Wir haben ihn fast ausschließlich als Kommentator des Schwarzen Kanals in Erinnerung – und die jüngere Generation nicht einmal das. In diesem Beitrag sollen andere Facetten seines journalistischen Handelns in der DDR im Vordergrund stehen, zunächst aber soll eine kurze, für das Verständnis des DDR-Journalisten nicht unwichtige Vorgeschichte erzählt werden. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, des Ringens der DDR um internationale Anerkennung, der Zweistaatlichkeit Deutschlands und schließlich des Scheiterns des sozialistischen Experiments an seiner eigenen Ökonomie und seinen Bürgern, die die Friedliche Revolution unternahmen, ist dies alles zu sehen. Von Schnitzler war ein wesentlicher Repräsentant des DDR-Mediensystems, das die Aufgabe hatte, zum Sozialismus zu erziehen, und damit im deutlichen Gegensatz zum westlichen, demokratischen Mediensystem stand. Beide waren massen-kommunikativ miteinander über die Block-Grenzen hinweg in einem „kontrastiven Dialog“verbunden, der mal hitziger, mal entspannter, mal gar kooperativ verlief.

Von Schnitzler hatte in britischer Kriegsgefangenschaft seit 1944 in der Redaktion der täglichen BBC-Sendung Hier sprechen deutsche Kriegsgefangene zur Heimat mitgearbeitet, war seit Oktober 1945 Leiter des Frauenfunks und ab Januar 1946 des Ressorts „Politisches Wort“ beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR), Funkhaus Köln. Aus dem NWDR gingen dann 1956 der Norddeutsche Rundfunk (Hamburg) und der Westdeutsche Rundfunk (Köln) hervor. Von Schnitzler war als deutscher  übergelaufener Kriegsgefangener in Ascot/GB von den Briten als Journalist beim deutschsprachigen Dienst der BBC ausgebildet worden, gemeinsam mit anderen Sozialisten und Kommunisten; er hatte also eine journalistische Prägung nach westlich-demokratischem Muster und zugleich eine linke Überzeugung. Im Zuge der beginnenden Ost-West-Auseinandersetzungen entließ Hugh Carletone Greene, britischer Chief Controller des NWDR, ehemals BBC, ab dem Frühjahr 1947 die deutschen Kommunisten Max Burghardt (Funkhausdirektor in Köln), Hans-Günther Cwojdrak, Dr. Egel, Karl Gass und eben auch von Schnitzler, letzteren nach Versetzung nach Hamburg im November 1947. Um von Schnitzler hatten sich die „linken“ Programmverantwortlichen im NWDR geschart, und dieses „Nest“ sollte zerschlagen werden. Auslöser dafür waren interne, aber auch öffentliche, in den Printmedien geführte Auseinandersetzungen darüber, dass im frühen Nachkriegs-NWDR die Säuberungen von NS-belasteten Mitarbeitern in einem Missverhältnis zu stehen schienen zum harschen Umgang mit den linken, remigrierten Mitarbeitern. Im März 1947 schrieb der 29-jährige von Schnitzler an den NWDR-Chief Controller Greene:

„Die Hörer des NWDR werden eines Tages erkennen, dass der NWDR in den Geburtswehen der deutschen Demokratie unter Ihrer Leitung versagt und seine historische Aufgabe der Völkerverständigung und des sozialen und geistigen Wandels nicht erfüllt hat.“

Zum 31. Dezember 1947 entließ Greene von Schnitzler aus dem NWDR, und dieser ging im März 1948 in die Sowjetisch Besetzte Zone (SBZ) zum „Berliner Rundfunk“ und zum „Deutschlandsender“. Greene hatte sich nach seinen eigenen Erinnerungen für von Schnitzler etwas besonders Perfides ausgedacht:

Es waren „alle Vorbereitungen getroffen worden, damit er nach dem Westen zurückkommen konnte. Erst im letzten Augenblick hielt er sich nicht an die Verabredung. Ich hatte geplant, ihn wieder beim NWDR einzustellen, ihn im Rundfunk die Gründe für seine Rückkehr nach dem Westen erläutern zu lassen und ihn dann wegen Charakterlosigkeit zu entlassen.“

Diese Vorgeschichte dürfte einer der Schlüssel für die Verbissenheit sein, mit der von Schnitzler in der DDR gegen die Bundesrepublik agitierte.

Mit dem Schwarzen Kanal befeuerte von Schnitzler fast dreißig Jahre lang den medialen Kalten Krieg zwischen Bundesrepublik und DDR – zwischen den Ost-West-Blöcken. Seine massen-kommunikativen Gegenspieler in diesem „kontrastiven Dialog“ waren auf westlicher Seite vor allem drei Journalisten: der Kommentator des Senders Freies Berlin ( SFB), Günther Lincke, der die Hörfunksendung Mitteldeutsches Tagebuch prägte; Hanns Werner Schwarze, der ab Januar 1966 mit Drüben (später Kennzeichen D) im ZDF ein 20-minütiges, sehr sachliches Magazin über Alltag und Ereignisse in der DDR realisierte; und vor allem – entgegengesetzt  kämpferisch zu von Schnitzler, aber nicht minder verbissen – Gerhard Löwenthal ab 1969 mit seinem ZDF-Magazin.Die Programm- und journalistisch-biographische Geschichte dieses kontrastiven Dialogs, vor allem seiner beiden Haupt-Protagonisten, ist aus den Akten- und Programmarchiven erst noch zu erforschen und zu schreiben. Nachdem wir in einem sehr umfangreichen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt die Programmgeschichte des DDR-Fernsehens in vielen ihrer Facetten untersucht haben,ist es an der Zeit, künftig nur noch vergleichende Programmforschung zu betreiben. Dabei würden das Kommunikative dieses Prozesses und auch gewisse Ähnlichkeiten seiner Formen deutlicher als bisher hervortreten.

Von Schnitzler hielt bis zu seinem Lebensende verbissen an seinen Maßstäben fest. Das wird in seinen Erinnerungenund auch an folgendem Beispiel seiner Beurteilung der martialisch befestigten „Staatsgrenze“ und der Verurteilung von „Republikflüchtlingen“ noch im Jahr 1992 deutlich:

„Es gab da die verschiedensten Motive, es gab zum Teil auch gar keine Gründe für jemand abzuhauen. Abenteurerlust ist kein Motiv. (Frage Interviewer: Warum?) Weil man Abenteurerlust auch auf andere Weise befriedigen konnte. (Frage Interviewer: Können Sie das den Leuten vorschreiben?) Ich rede ja nicht von vorschreiben. Abenteurerlust heißt ja, dass man irgendein Bedürfnis hat, und das kann man auch befriedigen – ohne eine Grenze zu verletzen. (Frage Interviewer: Wenn man nicht rauskommt?) (Schnitzler laut:) Ich will Ihnen etwas sagen: Diese ganze Diskussion über die Grenze kotzt mich auf Deutsch an.“

Karl-Eduard von Schnitzler wird immer auf den Schwarzen Kanal reduziert. Aber sein Fernsehschaffen war durchaus viel umfangreicher. Er schrieb szenische, politische Dokumentationen (z.B. 1963 Der Fall Humphrey, George) , womit eine Mischform des Fernsehspiels gemeint war, die aus Spielszenen, dokumentarischem Filmmaterial, Zeitungsausschnitten und Zitaten bestand. Er moderierte politische Diskussionsrunden und verfasste Kommentare für den Hör- und Fernsehfunk. Von Schnitzler gehörte außerdem zu einer von drei dokumentarischen Filmgruppen, die sich auf Westdeutschland konzentrierten, neben den Dokumentaristen Walter Heynowski und Gerhard Scheumann (H&S) und der Gruppe Sabine Katins (FernsehReihe Alltag im Westen) . In dieser Gruppe realisierte von Schnitzler u.a.

Dokumentationen aus Anlass des 50. Jahrestages der Machtergreifung

Hitlers (1983: Was war Faschismus wirklich?)  und des 40. Jahrestages der Gründung der beiden deutschen Staaten: Wie die BRD entstand (1989). Jahrestage waren überhaupt sein Thema: der fünfte des Mauerbaus, der 40 . des Beginns des Zweiten Weltkriegs, der 20. des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944. Immer wieder handelte es sich um subjektive Geschichtsdarstellungen, die er im Gewand unanfechtbarer Fakten und „objektiver“ Dokumentationen auftreten ließ: ein „historisch nachprüfbares Dokument“. Von Schnitzler war ebenfalls sehr umfangreich für die DEFA tätig, u.a. mit dem Drehbuch für Du und mancher Kamerad (Andrew und Annelie Thorndike, DDR 1956). In all seinen journalistischen Hervorbringungen stellte er die Diskreditierung des „Gegners“, des kapitalistischen Systems, seiner Geschichte und seiner Repräsentanten, vor die Faktentreue. Diverse Fälschungen mit Mitteln der Filmtechnik, der Montage und der Inszenierung haben Tilo Prase und Judith Kretzschmar nachgewiesen.

Zumindest für das letzte Jahrzehnt der DDR und des DDR-Fernsehens kann man die begründete Behauptung aufstellen, dass diese Art der Agitation aus Zeiten des Kalten Krieges, die Karl-Eduard von Schnitzler praktizierte, einen Effekt hatte, der der eigentlichen Absicht diametral zuwider lief. Die Unglaubwürdigkeit der projizierten Feindbilder kontrastierte allzu sehr mit den Alltagserfahrungen der Menschen.

FEINDBILD UND FREUNDBILD

Judith Kretzschmar

Zur Reiz- und Symbolfigur eines parteiischen DDR-Journalismus wurde der am 28. April 1918 in Berlin-Dahlem geborene Karl-Eduard Richard Arthur Gerhard von Schnitzler wie bereits oben beschrieben vor allem durch die von 21. März 1960 bis 30. Oktober 1989 ausgestrahlten 1.519 Folgen der propagandistischen Hetzsendung Der Schwarze Kanal, in der er das Fernsehen des westdeutschen ‚Klassenfeindes‘ und die Entwicklung in der Bundesrepublik polemisch kommentierte.Die erste Sendung, bei der von Schnitzler Autor und Moderator war, leitete er mit folgenden Worten ein:

„Der Schwarze Kanal, den wir meinen, meine lieben Damen und Herren, führt Unflat und Abwässer; aber statt auf Rieselfelder zu fließen, wie es eigentlich sein müsste, ergießt er sich Tag für Tag in hunderttausende westdeutsche und Westberliner Haushalte. Es ist der Kanal, auf welchem das westdeutsche Fernsehen sein Programm ausstrahlt: Der Schwarze Kanal. Und ihm werden wir uns von heute an jeden Montag zu dieser Stunde widmen, als Kläranlage gewissermaßen.“

Die 20-minütige Sendung wurde künftig jede Woche am Montagabend nach dem beliebten Filmklassiker im I. Programm ab etwa 21.30 Uhr ausgestrahlt und am Dienstag im II. Programm wiederholt. In der letzten Sendung am 30. Oktober 1989 erhielt von Schnitzler für eine abschließende Stellungnahme fünf Minuten Sendezeit und verabschiedete sich mit einem trotzigen Manifest:

„In diesem Sinne werde ich meine Arbeit als Kommunist und Journalist für die einzige Alternative zum unmenschlichen Kapitalismus fortsetzen, als Waffe im Klassenkampf zur Förderung und Verteidigung meines sozialistischen Vaterlandes. Und in diesem Sinne, meine lieben Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Genossinnen und Genossen: Auf Wiedersehen.“

Diese Worte zeigen deutlich, dass von Schnitzler obgleich der deutlichen und in den Wendemonaten immer lauter werdenden Kritik an dem Schwarzen Kanal keine Reue zeigte. Stets kennzeichnete er den Kanal als wichtige „Hygiene im Äther“und betonte den Verdienst der Sendung, mit der er der ‚Hetze‘ westlicher Medien gegen den Sozialismus die ‚Wahrheit‘ entgegengesetzt habe. Bis zum Schluss – er starb im Alter von 83 Jahren am 20. September 2001 in Zeuthen bei Berlin– stand von Schnitzler überzeugt zu seiner Arbeit und zur DDR: „Da dem deutschen Kapitalismus nichts Schlimmeres passieren konnte als die DDR, musste ihr schärfster Vorkämpfer in den Dreck gezogen werden. Völlig klar. Amüsiert mich. Bestätigt meine Haltung.“

Doch nicht das bekannte und durch von Schnitzler vehement propagierte Feindbild soll hier im Zentrum der Betrachtung stehen, sondern sein damit eng verknüpftes und dennoch weniger geläufiges Freundbild.

16 Jahre nach dem ersten Kanal begann er mit Rügen – Entdeckung einer Insel (1976) für sich eine neue Form von Fernsehbeiträgen zu entdecken, der in zehn Jahren 15 wenig bekannte abendfüllende Heimatreportagen folgten.Ausgangspunkt war der IX. Parteitag der SED 1976, auf dem gefordert wurde, dass in allen gesellschaftlichen Bereichen eine intensive Hinwendung zur Darstellung der DDR mit betont heimatverbundenem Charakter verstärkt werde, um die Identifikation der Bevölkerung mit ihrem sozialistischen Vaterland voranzutreiben, die zunehmenden inneren Spannungen einzudämmen und die Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik emotional zu stützen.Das Fernsehen war zu dieser Zeit endgültig zum Leitmedium aufgestiegen, die Heimatreportagen, mit ihrer identitätsstiftenden Funktion nach innen, sollten den Menschen die Ideen des sozialistischen Zeitalters näher bringen. Und auch von Schnitzlers Triebfeder war es, „Heimatgefühl, sozialistischen Patriotismus, richtige Einstellung zum sozialistischen Vaterland, wenn nicht zu erwecken, so doch zu fördern.“

Andreas Zirke, der für seine Diplomarbeit an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Sektion Journalistik, Karl-Eduard von Schnitzler interviewte, formulierte das Ziel der Reportagen wie folgt: „Mit dem Entdecken von Landschaften, interessanten Menschen und Geschichten möchte er einen anschaulichen Beleg für das Neue und Schöne in unserem Land geben und Stolz auf das bisher Erreichte ausprägen.“Und auch von Schnitzler betonte, dass er Heimatfilme im sozialistischen Sinne gestalten wollte:

„Es kommt darauf an, was man unter ‚Heimatfilm‘ versteht. Ist damit die Idylle, die Schnulze gar gemeint, die Abkapselung vom großen Ganzen, die Flucht vor Zeit und Welt, dann gewiss nicht! Keine Beschränkung also auf das ‚Kleine‘, um vom Großen abzulenken. Aber die Heimat als Bestandteil, als Baustein des Ganzen, eingebettet in das große sozialistische Vaterland, und das als dialektische Einheit mit allen Wechselbeziehungen auch von Geschichte und Gegenwart: solcherart als Heimatfilm verstanden – ja!“

Der Grundgedanke war stets der gleiche – er wählte eine bestimmte Region aus ‚seiner‘ sozialistischen Heimat, um die Vielschichtigkeit des kleinen Landes zu zeigen und sie parallel in Bezug zum gesamten Staatsgebilde zu setzen. Zuerst stellte er ganze Kreise vor (z.B. Überraschungen zwischen Elend und Sorge 1977 – Kreis Wernigerode, Rund um den Kuhberg 1980  – Kreis Reichenbach). Später erkannte er selbst: „Das führt leicht zu einem Schematismus, weil natürlich jeder Kreis die Industrie und die Besonderheit den Volkskünstler und die Landschaft hat. Dann habe ich mich auf immer kleinere Themen beschränkt – die kleine Insel Poel, die Universität Leipzig oder ein Dorf in Sachsen.“

Doch ganz im Sinne der offiziellen Definition, nach der die sozialistische Heimat nicht lokal begrenzt, sondern das gesamte Vaterland ist, zeichnete von Schnitzler – stets pädagogisch und belehrend – ein parteiisches Bild ohne regionale Spezifik. Er wollte dem Zuschauer ein Gesamtbild vermitteln, wollte darlegen, was die Heimat DDR wirklich bedeutet, was für Fähig keiten und Kräfte in diesem Land stecken und wie es eine Heimat für alle Menschen sein kann:

„Ich liebe, was man ‚Land und Leute‘ nennt. ‚Land und Leute‘ sagt sich leicht. Aber deutsche Landschaft und die Menschen, die sie bevölkern – das ist mehr. Wie erst, wenn die Heimat im sozialistischen Vaterland liegt und die Menschen – ob Sozialisten oder noch nicht – ihrem Leben und ihrer Arbeit einen neuen Sinn gegeben haben. Das mitzuteilen und zu helfen, es bewusst zu machen – das ist die Absicht meiner Fernseh-Reportagen aus Dörfern, Städten und Kreisen unserer Republik […].“

Alle Filme haben einen identischen Bauplan. Welche Region oder Stadt er auch für seine Reportagen ausgewählt hatte, der Aufhänger war dabei stets der gleiche: „Ich versuche in den Mittelpunkt immer ein soziales Problem zu stellen.“Diesen sozialen Rahmen füllte er dann – ganz im Sinne der 1971 beschlossenen Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik – mit wirtschaftlichen Schwerpunkten der Region aus. Das Wichtigste und Interessanteste war für von Schnitzler nach eigenen Angaben aber immer der Mensch.Umso beachtlicher ist, dass die Menschen in seinen Reportagen nur Statisten, Funktionsträger bleiben, als Teil des Vaterlands, der Arbeiterschaft, der Produktion dargestellt werden und mit ihren Aussagen nur vorgefertigte Muster stärken. Protagonisten werden nicht individualisiert, handelnde Personen weder künstlerisch noch emotional näher vorgestellt. Die Menschen sind Beiwerk, um die Effizienz der Betriebe zu präsentieren und damit der Wirtschaft eine glänzende Zukunft zu bescheinigen.

Gemäß dem eigenen subjektiven und ideologisch eindeutigen Heimatbild sortiert von Schnitzler alle Fakten mittels Gut-Böse-Schablone und bringt fortwährend fixe inhaltlich-thematische und inhaltlich-dramaturgische Konstanten zur Anwendung. Kritische Aspekte werden dabei rigoros ausgeblendet, ebenso komplexe Geschichten, die mehr hätten transportieren können als das unmittelbar Gezeigte. Von realen Problemen weit entfernt, wird ausschließlich die Überwindung maschineller Schwierigkeiten durch sozialistische Heldentaten thematisiert. Die Erfolge beim Aufbau werden gepriesen, um die Stärke der SED zu untermauern und die Bürger anzuhalten, mit ihrer ganzen Kraft für die Verwirklichung der Pläne der Partei einzutreten. Hierzu diente auch der Blick auf geschichtliche Details, auf die Erbauer des historischen Fundamentes der DDR: Lückenhaft wird das berichtet, was für das weltanschauliche Anliegen verwertbar schien.

Die Heimat-Reportagen sollten zum ideologischen und moralischen Selbstverständnis sowie zur geistigen Bewahrung des kulturellen Erbes beitragen, das Geschichtsbewusstsein fördern und historische Leitbilder vermitteln. Hierzu entwarf von Schnitzler ein farbenprächtiges Gemälde von der DDR, einem Land mit moderner und hochproduktiver Industrie, künstlerischer Vielfalt, mit besten deutschen Traditionen und zufriedenen Einwohnern. Die Bilder sind dabei oft ästhetisch überzogen und der inhaltlichen Abfolge fehlt jede Chronologie. Sprunghaft in der Erzählung und doch ermüdend gleichförmig in der Gesamtdarstellung präsentierte von Schnitzler ‚seine‘ sozialistische Heimat und schilderte die Gegenwart aus der Perspektive einer strahlenden Zukunft.

In Karl-Eduard von Schnitzlers gesamten Schaffen ist die Feindbilddarstellung mit seinem „Freundbild“ eng verwoben. Das Bild der DDR diente ihm als Beweis für das progressive, bessere Gesellschaftssystem, aber die Beweisführung stützte sich immer auch auf die Abgrenzung zur Bundesrepublik Deutschland – eine Perspektive, die im Gesamtwerk von Schnitzlers gegenwärtig ist. Doch nicht nur dadurch stehen die Reportagen in direktem Bezug zum Schwarzen Kanal. Ebenso wie in seiner politisch-agitatorischen Sendung, in der er die Machtverhältnisse in der Bundesrepublik mittels Ausschnitten aus westlichen Nachrichten, Reportagen und politischen Magazinen attackierte, die zunächst gezeigt und anschließend mit aggressiver Polemik und rücksichtsloser, auch persönlich angreifender Argumentationsweise kommentiert wurden, sucht er auch in den Heimatreportagen die Auseinandersetzung mit dem ‚kapitalistischen deutschen Staat’. In bekannter Weise zitiert er auch hier (vermeintliche oder reale) Aussagen aus der Bundesrepublik, stellt sie als Lüge bloß und untermauert seine Aussagen mit der Präsentation einer DDR, die bis hin zum kleinsten Areal als innovativ, kraftvoll und zukunftsträchtig präsentiert wird. Beide Sendeformen zeugen von Schnitzlers unnachgiebiger Position: die DDR war für ihn der wahre Sieger der deutschen Geschichte und deren glänzende Gegenwart und Zukunft galt es zu zeigen, andererseits war es sein erklärtes Ziel, den Gegner Bundesrepublik zu bekämpfen und die Feinde der DDR an den Pranger zu stellen.

Der Zusammenhang war für ihn klar: „[…] kann man die Heimat und das sozialistische Vaterland wirklich lieben, aktiv lieben in dem Sinne: sich Gedanken machen, lernen, anpacken – ohne diejenigen aus ganzem Herzen zu hassen, die unsere Heimat zerstören, unser sozialistisches Vaterland aus der Welt haben wollen?“Die sozialistischen Errungenschaften galt es für ihn zu verteidigen, gegen die Feinde in der Bundesrepublik, und gleichzeitig versicherte er: „Ich hasse nicht und ich erziehe nicht zum Hass. Ich versuche zur Liebe zu verführen, zur Liebe zum Menschen, zur Liebe zur Heimat, zur Liebe zum Frieden.“

Ein weiterer, nicht unerheblicher Aspekt war sicher auch, dass er die Reportagen als Ausgleich zum Schwarzen Kanal sah. Sein Produktionsleiter Manfred Marotzke bestätigt dies: „Die Reportagen waren Ventil zum Kanal und zur Kommentatorentätigkeit. Mit ihnen konnte er auf dem Bildschirm zeigen, dass er sich nicht nur mit Konterpropaganda, die ja damals auf beiden Seiten mit harten Bandagen ausgefochten wurde, sondern sich auch mit Land und Leuten der DDR befasste.“Und von Schnitzler selbst zeigte sich glücklich darüber, dass er – im Gegensatz zum Schwarzen Kanal, in dem er das Feindbild zeichnete – nun auch ein „Freundbild“machen könne: „Sich mit dem Freund und Genossen, mit dem eigenen, real existierenden und funktionierenden Sozialismus zu beschäftigen ist angenehmer. Das eine hat mit Liebe zu tun, das andere mit Hass.“

Ungeachtet dieser hehren Intention verfehlten Schnitzlers Reportagen klar die realen Bedürfnisse der Zuschauer. Programme, die die (idealisierte) DDR zum Inhalt hatten, fanden ohnedies beim Fernsehpublikum kaum Beachtung, da die DDR-Bürger wenigstens visuell aus dem eingeengten Lebensbereich entfliehen wollten und die ersehnte weite Welt über das Fernsehen der Bundesrepublik in die Wohnzimmer kam. Die Ergebnisse der Zuschauerforschung untermauern dies: Die realitätsfremden Heimat-Reportagen von Karl-Eduard von Schnitzler haben nur klägliche Einschaltquoten erzielt.Sie konnten kein Akzeptanzpotential für die DDR schaffen, keinen Beitrag zur Identitätsbildung, zum ‚Wir-Gefühl‘ leisten. Kritische Aspekte wurden so unverkennbar verschwiegen, dass den Zuschauern die Vertuschung und Beschönigung zu offenkundig war. Die Sicht Schnitzlers auf sein „sozialistisches Vaterland in den Reportagen war meistens zu einfach und realitätsfremd dargestellt. Das merkten die Zuschauer und dann ging manche gute Absicht nach hinten los. Vertane Mühe.“, so Marotzke im Rückblick.Nach dem Ende der DDR antwortete Karl-Eduard von Schnitzler selbst auf die Frage eines Journalisten, warum er in diesen Reportagen jede Härte und jeden kritischen Zeitgeist völlig verdrängt habe: „Ich habe es nicht als meinen Auftrag angesehen, eine Reportage gegen die DDR zu machen. Auch bin ich kein Ökonom. Ich bin Außenpolitiker. Ich bin ein Außenpolitiker, der sein Land mit sehr freundlichen Augen sah und zeigen wollte.“

Wehrerziehung, Wehrunterricht und die Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“

Harald Bretschneider

Als Schulanfänger habe ich 1948 mit der Klasse geschworen, nie eine Waffe in die Hand zu nehmen. Einer von den in Leisnig stationierten russi schen Panzern hatte die Kurve um unser Haus zu scharf genommen. Sein Rohr schaute in unser Wohnzimmer und den Ketten fiel die Hausecke zum Opfer. Mein Banknachbar hatte das aufregende Ereignis gemalt. Der gerade aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Lehrer zerriss die Kin derzeichnung, erklärte, wie schlimm Krieg ist. Er nahm uns den Schwur ab.

Es soll nicht außer Acht gelassen werden, dass die Entwicklung des Militärischen in der DDR immer auch mit der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland und den jeweiligen Bündnissystemen verbunden war. Aber auch wer von der Friedensliebe der sozialistischen Länder überzeugt war, musste einsehen, dass die emotionale Wehrerziehung und praktische Wehrausbildung bei Kindern und Jugendlichen und die Erziehung zum Hass überhaupt wenig zu den vertrauensbildenden Maßnahmen beitrug, die für die Abrüstung eigentlich nötig gewesen wären.

Doch die pädagogische Haltung zum Militär und zur Wehrbereitschaft entwickelte sich vom Schwur „Nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen“ bis zur Bereitschaft, das sozialistische Vaterland mit der Waffe in der Hand und unter Einsatz des Lebens zu verteidigen. Der pädagogische Fachbegriff hieß „sozialistische Wehrerziehung“.

1 . DIE SOZIALISTISCHE WEHRERZIEHUNG

„Umfassend wie das Verteidigungsgesetz (1962) es berücksichtigt und die Bedingungen des modernen Krieges es verlangen, sind alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in irgendeiner Form mit der Landesverteidigung verbunden. (Sozialistische Wehrerziehung in Beruf und Bildung, Verlag Volk und Welt, Berlin 1968, S. 10.)

Nach der Verabschiedung des Gesetzes über das einheitliche sozialisti sche Bildungssystem vom 25.2.1965 wird im gesamten Bildungswesen darauf hingearbeitet, die Wehrbereitschaft von Kindern und Jugendlichen systematisch zu erhöhen. Das Bildungswesen übernahm die Aufgabe, die Jugend ideologisch, physisch und fachlich auf den Wehrdienst vorzubereiten.

Nach dem Bildungs- und Erziehungsplan für Kindergärten (1963) hatte die sozialistische Wehrerziehung der Vorschulkinder zum Ziel, Gefühle und Emotionen auszubilden. Es sollten sich gefühlsbetonte Beziehungen der Verbundenheit zu den Angehörigen der bewaffneten Streitkräfte herausbilden. Nachdem nach 1945 jegliches Kriegsspielzeug verboten worden war und der Besitz hart geahndet wurde, gab es Ende der 1960er Jahre wieder Soldaten, kleine Panzer u. a. Es hieß nun aber „patriotisches Spielzeug“ und wurde von den Kindergärten zur Erfüllung des Erziehungsplanes angeschafft.

Die sozialistische Wehrerziehung der Schulkinder der Unterstufe war in den Schulbüchern z. B. in Form von Rechenaufgaben mit Panzern u. a. eingebunden. Sie sollte das Interesse und die Bereitschaft zu einer positiven Motivation und Einstellung zum Militärischen fördern und Interesse für mili tä rische Berufe wecken. Es war Erziehung zum Gehorsam, zur Disziplin und zum klaren Bekenntnis zur DDR. Jegliche Kritik wurde als mangelndes Klas senbewusstsein und gefährliches Stehen zwischen den Fronten dargestellt.

Die sozialistische Wehrerziehung in der Mittel- und Oberstufe erstreckte sich ab der 7. Klasse nicht mehr nur auf die Wehrbereitschaft, sondern auch auf die Wehrfähigkeit. Man nutzte die Technikbegeisterung der Schüler dieses Alters und besichtigte die moderne technische Ausstattung der NVA. Die ungeheure Vernichtungskraft der Waffen wurde verschwiegen und verschleiert.

Im Handbuch für Lehrer und Erzieher (Volk und Wissen, Berlin 1974, S.299) heißt es: „Der junge sozialistische Staatsbürger ist dazu zu erziehen, für die sozialistische Heimat zu lernen und zu arbeiten und zugleich die sozialistischen Errungenschaften gegen jeden Feind zu schützen und in einem der DDR aufgezwungenen Krieg, im Kampfbündnis mit der Sowjet union und den anderen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft, den Aggressor auf eigenem Territorium zu vernichten.“

Wurde in der Unter- und Mittelstufe der Gegner nur als Fakt ohne Gesicht hingestellt, trug er in der Oberstufe – im Gegensatz zu den fröhlichen und freundlichen Gesichtern der NVA-Soldaten – das Gesicht und die Uniform von Angehörigen der Bundeswehr, vom Soldaten bis zum General.

Für die Abiturstufen, in denen die Werbung zur Verpflichtung als Soldat auf Zeit bzw. als Berufsoffizier intensiv betrieben wurde, heißt es im Handbuch für Klassenleiter: „Die Schüler der Abiturstufen sollen jegliche Illusion über die Rolle der imperialistischen Feinde als auch der Angehörigen der Bundeswehr überwinden. Sie sollen begreifen und anerkennen, dass der Kampf für die Sicherheit des Friedens und des Sozialismus auch von jedem einzelnen Opferbereitschaft fordert, wenn es sein muss auch die Bereitschaft zum Einsatz des Lebens.“

Schließlich erstreckte sich die wehrpolitische Erziehung auch auf die außer schulische Betätigung der Kinder. Dazu gehörten u. a. das „Manöver Schneeflocke“ in den Klassen der Unterstufe und die „Hans-Beimler-Wettkämpfe“ der FDJ für die 8. bis 10. Klasse.

Die sozialistische Wehrerziehung in der Berufsausbildung begann bereits mit der Unterschrift der Eltern und Lehrlinge unter den Lehrvertrag. Im Lehrvertrag hieß es (entsprechend Gesetzblatt 2/70 Nr. 41): „Der Lehrling hat an der militärsportlichen Ausbildung teilzunehmen, sich militärpolitische und militärfachliche Kenntnisse anzueignen bzw. an Maßnahmen der Zivilverteidigung mitzuwirken.“ Die sozialistische Wehrausbildung gipfelte in der vormilitärischen Grundausbildung der Gesellschaft für Sport und Technik (GST).

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die militärische Erziehung in der DDR längst vor der Einführung des Faches Wehrunterricht stufenweise beim Kleinkind begann und bis zum Abitur bzw. zum Lehrabschluss fortgeführt wurde. Doch offensichtlich hatten alle diese Formen der sozialistischen Wehrerziehung noch nicht genügend zur „klassenbewussten“ Wehrbereitschaft beigetragen. Deswegen wurde zum 1. September 1978 das Pflichtfach „Wehrunterricht“ eingeführt.

2. DER WEHRUNTERRICHT ALS PFLICHTFACH FÜR

DIE 9. UND 10. KLASSE

Häufig wurde anstelle von Wehrunterricht von Wehrkundeunterricht gesprochen. „Wehrkunde“ war aber der Titel einer westdeutschen Zeitschrift.

„Die Direktive Nr. 3 des Ministers für Volksbildung zur Einführung und Gestaltung des Wehrunterrichts für die Schüler der 9. und 10. Klassen der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule in der DDR“ vom 1. Februar 1978 basierte auf dem Beschluss des Präsidiums des Ministerrates Nr. 203/2 /76 vom 21. Oktober 1976 über die Konzeption zur Einführung des Wehrunterrichtes und im Einverständnis mit dem Minister für Nationale Verteidigung.

In der Direktive werden als Ziele des Wehrunterrichtes formuliert:

„Der Wehrunterricht dient der sozialistischen Wehrerziehung der Jugend und ist fester Bestandteil der Bildungs- und Erziehungsprozesse der Schule. Er fördert die Entwicklung der Wehrbereitschaft und Wehrfähigkeit der Schüler und hat zum Ziel,

▪ die Mädchen und Jungen auf die Wahrnehmung des in der Verfassung festgelegten Rechts und der Ehrenpflicht zum Schutz des Friedens, des sozialisti schen Vaterlandes und der sozialistischen Staatengemeinschaft vorzubereiten.

▪ die klassenmäßige, patriotische und internationalistische Haltung der Schüler weiter auszuprägen und die Wehrmotivation zu festigen,

▪ die systematische und planmäßige Vorbereitung der Jugendlichen auf die Anforderungen des Wehrdienstes und der Zivilverteidigung durch Vermittlung entsprechender Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu unterstützen.“

Deswegen umfasste der Wehrunterricht obligatorisch in der 9. Klasse vier Doppelstunden zu Fragen der sozialistischen Landesverteidigung für alle Schüler. Dazu kam für Jungen die freiwillige Wehrausbildung im Lager mit zwölf Ausbildungstagen zu je acht Stunden. Für alle Mädchen und den Teil der Jungen, der nicht an der Wehrausbildung teilnahm, war der Lehrgang für „Zivilverteidigung“ Pflicht. Auch er umfasste zwölf Lehrgangstage mit je sechs Stunden.

Für die 10. Klasse waren wieder vier Doppelstunden zu Fragen der sozialistischen Landesverteidigung für alle Schüler angesetzt. Außerdem gehörten drei Tage der Wehrbereitschaft mit insgesamt 18 Stunden für alle Schüler dazu.

Die Direktive enthielt dann die genauen Inhalte und Gestaltungsaufgaben, die von den Direktoren jeder Schule umzusetzen waren.

Diese Direktive löste bei vielen, vor allem auch christlichen Eltern Unverständnis, Widerspruch und schließlich auch Widerstand aus.

Die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR (KKL) bedauerte, dass ihrer Bitte, von der Einführung des Wehrunterrichts abzusehen, nicht entsprochen wurde. Sie trug in einem Schreiben vom 15.6.1978  an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, die Bedenken und Argumente, wie sie aus dem Wechselgespräch mit Kirchgemeinden, Eltern und jungen Erwachsenen und aus den Erörterungen in Beratungs- und Entscheidungsgremien der Kirchen deutlich geworden waren, nochmals vor.

In dem Schreiben wurde formuliert:

▪ „Der im Evangelium begründete Friedensauftrag verlangt von den Kirchen und jedem einzelnen Christen eine nüchterne Prüfung dessen, was in der gegenwärtigen Weltsituation Spannungen abbaut, Vertrauen fördert und dem Frieden dient.

▪ Wir verkennen nicht die Verpflichtung des Staates, die Sicherheit seiner Bürger zu schützen. Darum müssen wir uns fragen, was uns heute wirklich sicher macht. Ein von Angst und Bedrohung bestimmtes Sicherheitsdenken stellt nach unserer Überzeugung keinen Schritt auf mehr Frieden dar, weil es zu Handlungen führt, die auf der Gegenseite ebenfalls Angst erzeugen und zur Gegendrohung verleiten.

▪ Weil der beabsichtigte Unterricht ein Teil dieses gefährlichen Mechanismus zu werden droht, erscheint er uns als Mittel der Friedenssicherung wenig geeignet.

▪ Abrüstung ist ein dringendes Gebot der Stunde. Wir sehen eine untrennbare Beziehung zwischen den globalen politischen Bemühungen um die Beendigung des Wettrüstens und der Erziehung zu einem informierten Abrüstungsbewußtsein in der Gesellschaft. Abrüstung wird nur möglich sein, wenn sie wirklich gewollt und im Denken der Gesellschaft fest verankert wird. Wir sehen die Gefahr, dass obligatorische Wehrerziehung Minderjähriger zu einer Gewöhnung an militärische Mittel der Konfliktlösung führt, die sich langfristig als Hindernis für wirkliches Abrüstungsbewußtsein erweisen könnte. Um der Abrüstung willen brauchen wir eine Erziehung, die Menschen zu gewaltlosen Formen der Beilegung von Streit fähig macht.

▪ Junge Menschen, die die Schrecken des Krieges nicht kennen und zu einem differenzierten Urteil über die Risiken militärischer Friedensicherung im nuklearen Zeitalter nicht in der Lage sind, werden durch den beabsichtigten Unterricht, der die Möglichkeit einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Ost und West als selbstverständlich voraussetzt und die Vorbereitung darauf zum Inhalt hat, in ihrer Friedensfähigkeit ernsthaft gefährdet. Die frühzeitige Anerziehung militärischer Denkweisen, Einstellungen und Verhaltensnormen im Schulunterricht kann dazu führen, dass die Chancen friedlicher Konfliktbeilegung in späteren Jahren gar nicht mehr wahrgenommen werden.

▪ Die Deutsche Demokratische Republik bekennt sich konsequent zur Friedensund Entspannungspolitik. Wir befürchten, dass die Glaubwürdigkeit dieser Politik im Ausland durch die Einführung des Wehrunterrichts Schaden leidet. Die weltweiten Bemühungen um die Schaffung nicht-militärischer Sicherheitssysteme können nicht zum Erfolg führen, solange innerhalb der Staaten einseitig auf militärische Sicherheit hin erzogen und ausgebildet wird. Das Ziel einer Welt ohne Waffen, dem sich der Sozialismus verpflichtet weiß, sollte nach unserer Auffassung gerade im Bereich der schulischen Erziehung und Bildung deutlicher hervortreten. Die Oekumene erwartet von Vertretern aus Kirchen in sozialistischen Ländern hier eine spezielle Hilfe und Wegweisung.

▪ Wenn die Deutsche Demokratische Republik trotz dieser erneut vorgetragenen Bedenken es nicht für möglich hält, von der Einführung des Faches Wehrerziehung/Wehrunterricht abzusehen, möchten wir an die Regierung appellieren,

▪ dass im Erziehungsprozess die Einübung friedlicher Verhaltensweisen und der Gesichtspunkt der Vertrauensbildung Vorrang behalten;

▪ dass Gewissensbedenken von Eltern und Schülern entsprechend Artikel 20 der Verfassung geachtet werden und die Regierung eine Benachteiligung derjenigen, die einer Beteiligung am Wehrunterricht nicht zuzustimmen vermögen, nicht zuläßt.

▪ Die Konferenz wird ihrerseits die Gemeinden in Fortsetzung ihrer bisherigen Bemühungen zu verstärkter Friedenserziehung ermutigen und ihnen dazu Hilfen zur

Verfügung stellen (…).“

Für die Kirchgemeinden wurde eine Orientierungshilfe zur Verfügung gestellt, die diese Position ausführlich vorstellte und die Argumente konkretisierte.

In einer Schnellinformation an die Kirchen und Gemeinden wurde von dem Gespräch der KKL mit dem Vorsitzenden des Ministerrates berichtet und dessen Positionierung mitgeteilt: Er betonte, dass alle Vorschläge und Empfehlungen mit großem Ernst zur Kenntnis genommen würden und sagte: „Je mehr Menschen richtig und gut denken, umso besser ist es für die Zukunft unseres Volkes.“

Auch die Katholische Berliner Bischofskonferenz hat sich in ähnlicher Form und mit ähnlichem Inhalt brieflich an den Staatssekretär gewandt.

Aber der Wehrunterricht wurde am 1. September 1978 in den Schulen eingeführt.

Es gab viele Eltern oder Schüler, die sich aus Glaubens- und Gewissensgründen bzw. aus pädagogischen Gründen weigerten, am Wehrunterricht teilzunehmen. Sie hatten es schriftlich den jeweiligen Schuldirektoren angezeigt und sich mit Eingaben an die Regierung gewandt. Von staatlicher Seite war gegenüber den Kirchen zugesichert worden, dass Schüler wegen Nichtteilnahme am Wehrunterricht nicht benachteiligt werden dürfen.

Trotzdem war die Anzahl der Eltern und Schüler, die sich durch Eingaben zu Wort gemeldet hatten bzw. die Teilnahme am Wehrunterricht verweigerten, weniger überwältigend als die klare Haltung der Kirche hatte erwarten lassen. Die Sorge um das Weiterkommen der Kinder, denen die Zukunft nicht verbaut werden sollte, wog für viele schwerer als die angebotenen Argumente.

Außerdem muss festgehalten werden, dass Nichtteilnehmer der Wehrlager die Tage als „unentschuldigt gefehlt“ eingetragen bekamen. Es zeigte sich, dass vor allem die ganz wenigen, die auch die Teilnahme an den vier Doppelstunden verweigerten, dafür aber zivile Aufgaben in der Schule erledigten, durchaus weitere Benachteiligungen beim Abschluss eines Lehrvertrages in Kauf nehmen mussten bzw. keine Delegierung zur erweiterten Oberschule mit Abitur erhielten.

Trotz vielfältigen Gesprächen und persönlichem Einsatz für die Betroffenen durch die Kirchen wurde nur selten die staatliche Entscheidung geändert.

3 . DIE BEWEGUNG „SCHWERTER ZU PFLUGSCHAREN“ UND DIE WIRKUNGEN DES PROPHETISCHEN WORTES DURCH DIE FRIEDENSDEKADEN BIS IN DIE GEGENWART

Um 1980 hatte das Wettrüsten zwischen Ost und West Mitteleuropa in ein Pulverfass verwandelt.

Das angehäufte Vernichtungspotential in aller Welt und die zunehmende Militarisierung in der DDR ängstigte immer mehr, besonders junge Menschen. Die Modernisierung russischer Raketen, die Stationierung der SS 20 in der DDR und der Pershing II in der Bundesrepublik, der NATODoppelbeschluss, der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die zunehmende Bedrängnis für die Gewerkschaft in Polen sowie der 1978 in der 9. Klasse eingeführte Wehrunterricht bildeten den Hintergrund der Angst. Die Jugendlichen ahnten, dass sie die Soldaten der Zukunft sind, die im Ernstfall mit ihrem Leben bezahlen würden. Sie engagierten sich stärker in Friedensfragen.

Diese Situation spiegelt die totale Militarisierung von Staat und Gesellschaft. Als einer, der geschworen hatte, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen, beriet ich Jugendliche bei ihrer Entscheidung in Wehrdienstfragen.

Auf der Vertreterversammlung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Jugend (AGCJ) 1980 wurde über die Anregung des Europäischen Ökumenischen Jugendrates informiert, dass junge europäische Christen je in ihrem eigenen Land einen Abrüstungstag gegen die Militarisierung gestalten sollten. Diesen Impuls habe ich als Landesjugendpfarrer aufgegriffen und umzusetzen versucht. Dazu schenkte Gott im Gespräch mit Freunden und Mitarbeitern wunderbare Ideen.

Die Umsetzung dieses Impulses führte mich zu der theologischen Überlegung, dass Abrüstung neues Denken, Umdenken, Umkehr und Buße benötigt.

Buße als Betroffenheit über komplizierte politische Wechselwirkungen zwischen Ost und West, über persönliches Verhalten und staatliche Erwartungen sowie über die menschliche Neigung, die Schuld – nicht nur am Wettrüsten – einfach der anderen Seite zuzuschieben.

Buße als Bekenntnis eigener Schuld, infolge menschlicher Manipulierbarkeit, Angst vor Repressalien und mangelnder Zivilcourage.

Buße aber auch als Besinnung auf Gottes Möglichkeiten, geschichtliche Ereignisse – trotz menschlicher Unmöglichkeiten – gnädig zu führen.

Deswegen habe ich, nach Rücksprache mit den Landesjugendpfarrern und in Abstimmung mit den Bischöfen, den Bußtag als Abschluss einer zehntägigen Friedensdekade vorgeschlagen.

Dazu passend fiel mir das biblische Wort „Schwerter zu Pflugscharen“ aus Jesaja 2,4 und Micha 4,3 ein: „Gott wird richten unter den großen Völkern und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln umschmieden. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben. Und sie werden hinfort nicht mehr lernen Krieg zu führen“. „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde zu einem eigenständigen, bibelorientierten Ansatz kirchlicher Friedensarbeit in der DDR.

Als Landesjugendpfarrer wusste ich, dass Jugendliche Zeichen und Sym bole brauchen, um sich zu erkennen und um sich artikulieren zu können.

Im Gespräch mit Freunden erinnerte ich mich an die Skulptur des Russen Jewgeni Wutschetitsch mit dem Titel „Wir werden die Schwerter zu Pflugscharen umschmieden“. Sie war 1958 für die Weltausstellung in Brüssel geschaffen worden und nach dem prophetischen Wort gestaltet. Der atheistische Staatsmann Nikita Chruschtschow schenkte 1959 den Vereinten Nationen im christlichen Abendland eine Kopie des Kunstwerks. Damit stand die Skulptur in Moskau und New York. Sie war nicht einseitig politisch und als biblisches Symbol unanfechtbar für das Friedenszeugnis der Christen.

Um die öffentliche Wirksamkeit zu erhöhen, entwarf ich ein Lesezeichen „Frieden schaffen ohne Waffen – Schwerter zu Pflugscharen“, das auch in die Schulbücher gelegt werden konnte. Es zeigte die Abbildung der Plastik von Wutschetitsch und Hinweise zu Buß- und Bittgottesdiensten, zu Jugend- und Gemeindeabenden und zur „Friedensminute“.

Da der Bußtag immer auf einen Mittwoch fällt und jeden Mittwoch um 13.00  Uhr die Sirenen in der DDR überprüft wurden, schlug ich vor, zu den Sirenen gleichzeitig die Glocken zu läuten. Sie sollten zum Friedensgebet mahnen und die Menschen auf der Straße an die Gefährlichkeit des Wettrüstens erinnern.

Die Grafikerin Ingeborg Geißler aus Dresden setzte meinen Entwurf als Reinzeichnung um. Nach Abstimmung mit dem Sekretär des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Manfred Stolpe, ließ ich bei der Firma Abraham Dürninger & Co. in Herrnhut 100000 Stück auf Vliesstoff drucken. Ich wusste, dass Vlies-Druck „Textiloberflächenveredlung“ war und keiner Druckgenehmigung bedurfte.

Die auf Vlies gedruckten Lesezeichen und die Materialmappen für die Friedensdekade mit Gestaltungsvorschlägen und Argumentationshilfen wurden über die Landesjugendpfarrer in den Jungen Gemeinden verteilt. Viele Junge Gemeinden und Kirchgemeinden haben sich damit beschäftigt. Die erste Friedensdekade 1980 traf die Friedenssehnsucht vieler Jugendlicher.

Jugendliche diskutierten nicht nur in der Jungen Gemeinde, sondern auch in der Schule darüber. Einige nähten das Lesezeichen sogar auf ihre Parkas. Sie trugen damit ihren Wunsch nach Frieden noch weiter in die Öffentlichkeit.

Deswegen beschloss die Kommission kirchlicher Jugendarbeit des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR, 1981 die zweite Friedensdekade unter dem Thema „Gerechtigkeit, Abrüstung, Frieden“ durchzuführen.

Angeregt durch die aufgenähten Lesezeichen verständigte ich mich mit Landesjugendpfarrer Manfred Domrös, dass für die zweite Friedensdekade nicht nur 100 000 Lesezeichen, sondern dazu 100000 Aufnäher mit dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ gedruckt würden.

Der Grafiker Herbert Sander nahm die Umsetzung des Denkmals von Ingeborg Geißler auf und setzte sie als Aufnäher in den Farben der Trikolore um.

Da die Aufnäher größte Öffentlichkeitswirkung erreichten, hatten die „herrlichen Ideen“ „schlimme Folgen“. Obwohl es sich um ein Bibelwort und um ein russisches Denkmal, das in Moskau und New York steht, handelte, griff der Staat hart ein.

Nach dem November 1981 hatten vor allem die Mittel- und Oberschüler, aber auch die Lehrlinge und Berufsschüler harte Konsequenzen zu tragen, wenn sie diesen Aufnäher nicht entfernten. Anfangs setzten sich Lehrer wie Schüler mit dem biblischen Wort auseinander. Dann verlangten die Lehrer in den Schulen und die Polizisten auf der Straße die Entfernung der Aufnäher von den Jacken, weil „der undifferenzierte Pazifismus friedensfeindlich sei“, „die Aufnäher als Emblem des sozialen Friedensdienstes in der DDR verboten seien“, „die Herstellung illegal wäre“, „Offiziersbewerber und die länger Dienenden dadurch verunsichert würden und die Wehrkraft zersetzt würde“ usw.

Wenn der Aufnäher nicht entfernt wurde, durfte die Schule nicht mehr betreten werden; wurden Lehrverträge gekündigt; durfte das Abitur nicht abgelegt werden und waren die Studienplätze gefährdet. Es hat sogar strafrechtliche Verurteilungen und Gefängnisstrafen gegeben.

Erst nach der friedlichen Revolution wurde der Grund für die politische Härte gegenüber den Aufnäherträgern bekannt.

In einem Schreiben des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, vom 17. März 1982 an alle Verantwortlichen der Volksbildung und Leiter der Diensteinheiten des Inneren über „Maßnahmen zur Unterbindung des öffentlichen Tragens und des Verbreitens von Abzeichen, Aufnähern, Aufklebern, sonstigen Gegenständen, Symbolen und Texten mit pazifistischer Aussage“ heißt es:

„(…) Im Zusammenhang mit (…) so genannten Friedensinitiativen der evangelischen Kirche werden besonders von auf oppositionellen Positionen stehenden oder politisch-schwankenden und teilweise auch negativ-dekadenten Jugendlichen/Jungerwachsenen demonstrativ Abzeichen, textile Aufnäher u. ä. mit pazifistischer Aussage sichtbar an Bekleidungsgegenständen angebracht. Sie verfolgen das Ziel, sich mit der von reaktionären kirchlichen Kräften popularisierten Idee von einer so genannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung in der DDR zu solidarisieren und ihre oppositionelle und ablehnende Haltung, insbesondere zur sozialistischen Verteidigungspolitik, damit offen zum Ausdruck zu bringen. Zur wirksamen Unterbindung dieser Aktivitäten sind folgende Maßnahmen durchzuführen:

  1. Die zuständigen zentralen staatlichen Organe, insbesondere die Ministerien für Volksbildung und für das Hoch- und Fachschulwesen und das Staatssekretariat für Berufsausbildung (…), haben zu gewährleisten, dass in ihren Verantwortungsbereichen das Tragen und Verbreiten derartiger Symbole unterbunden wird und

zu diesem Zweck die bestehenden Disziplinar-, Schul-, Internats- und anderen Ordnungen konsequent durchgesetzt werden.

2.           Das Ministerium des Inneren hat zu gewährleisten, dass die Deutsche Volkspolizei das Tragen derartiger Gegenstände in der Öffentlichkeit (…) unterbindet, indem Träger derselben zur Entfernung und Herausgabe aufgefordert werden, in deren Ergebnis die entschädigungslose Einziehung erfolgt.

3.           Im Weigerungsfalle erfolgt die Zuführung der entsprechenden Person (…) und die anschließende Durchsetzung der vorgenannten Maßnahme (…).

4.           Durch die Leiter der Bezirksverwaltungen des MfS ist zu gewährleisten, dass die vorgenannten Maßnahmen in geeigneter Form mit tschekistischen Mitteln wirksam unterstützt und durch kluges differenziertes Handeln Konfrontationen vermieden werden (…).“

Die Konferenz der Kirchenleitung und die Synoden der Landeskirchen stellten sich hinter die Jugendlichen und zu dem von ihr gebilligten Symbol. Sie erklärten:

„Das Wort drückt unsere christliche Hoffnung aus, dass Gott einmal eine Welt schaffen wird, in der wir Menschen keine Waffen mehr brauchen, um uns zu schützen. Es drückt zugleich, als Folge solcher Hoffnung, unsere christliche Verantwortung aus, schon jetzt das Mögliche zu tun, damit Menschen und Völker ihre Konflikte ohne Waffen bewältigen. Die Atomwaffen unserer Zeit werden, falls sie zur Anwendung kommen, keine Sieger mehr hinterlassen. Sich im Sinne des Bildwortes „Schwerter zu Pflugscharen“ einzusetzen, heißt insbesondere, sich für Abrüstung einzusetzen. Es handle sich nicht um ein „simples Rezept“ gegen Atom waffen. Es ist ein Wegweiser, der die Richtung weist, in die gehen muss, wer Abrüstung will“.

Die sächsische Synode fühlte sich zu einer Kanzelabkündigung vom 24. März 1982  genötigt, weil die Kirche auch weiterhin hinter dem Symbol stand, aber es keine Möglichkeit mehr gab, die Träger der Aufnäher durch Vorsprache bei Vertretern des Staates zu schützen.

Im September 1982 bekannte die Bundessynode der evangelischen

Kirchen: „Wir halten an dem Symbol ,Schwerter zu Pflugscharen‘ als dem Zeichen der Friedensdekade fest.“ Aber „Wir verzichten um des Friedens willen“ auf den Druck weiterer Aufnäher.

Dafür gab es für die Materialien der Friedensdekaden ab 1982 Druckgenehmigungen durch das Staatssekretariat für Kirchenfragen. Sie waren wohl auch Ausdruck eines Bemühens um Schadensbegrenzung. Es bedeutete gleichzeitig, dass die gedruckten Materialien einer intensiven kirchlichen und staatlichen Zensur unterzogen wurden.

Die Friedensdekade war zuerst eine Initiative der Landesjugendpfarrer und das Material wurde in Zusammenarbeit mit dem Sekretariat des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR herausgegeben. Dann wurde die Vorbereitungsgruppe für die Materialien der weiteren Friedensdekaden zunehmend auch durch die Mitarbeit der Kirchen des Bundes und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen unterstützt.

Die Friedensdekaden wurden in den folgenden Jahren fortgeführt und hatten die Themen:

  1. „Frieden schaffen ohne Waffen – Schwerter zu Pflugscharen“
  2. „Gerechtigkeit, Abrüstung, Frieden“
  3. „Angst, Vertrauen, Frieden“
  4. „Frieden schaffen aus der Kraft der Schwachen“
  5. „Leben gegen den Tod“
  6. „Frieden wächst aus Gerechtigkeit“
  7. „Friede sei mit euch“
  8. „Miteinander Leben“
  9. „Friede den Fernen und Friede den Nahen“
  10. „Kain und Abel – und was es heißt ein Mensch zu sein“

Immer stärker wirkten die Friedensdekaden durch die jungen Menschen in die Kirchgemeinden und in die Gesellschaft hinein und initiierten neue Impulse. Im „Berliner Appell – Frieden schaffen ohne Waffen“ von 1981 hatte Rainer Eppelmann das Thema der Friedensdekade 1980 aufgenommen.

Auf der Suche nach weiteren Wegen zum Frieden hatten 1981 die Dresdner Pfarrer Christoph Wonneberger, Dr. Christoph Wetzel und Christian Burkhardt auch unter Bezug auf das Thema der Friedensdekade 1980 zur Initiative „Sozialer Friedensdienst“ aufgerufen und für Unterschriften geworben, damit die Volkskammer einen sozialen Friedensdienst beschließen möge.

Angeregt von dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ hatten Jugend liche aus Dresden ein Flugblatt entworfen, mit dem sie zu einer kleinen Gedenkfeier am 13. Februar 1982, dem Jahrestag der Zerstörung Dresdens, einluden. Sie sollte von Jugendlichen selbst organisiert werden, die ihren Wunsch nach Frieden ohne „höhere“ Genehmigung zeigen wollten. Die Jugendlichen wurden sehr bedrängt, wandten sich an die Kirche und es kam zum 1. Forum Frieden in der Kreuzkirche.

Schon 1980 hatte Pfarrer Christian Führer zusammen mit dem Studentenpfarrer Dieter Ziebarth und einigen Studenten die zur Friedensdekade angeregte „Friedensminute“ in der Nikolaikirche Leipzig gehalten. Auf der Synode war er vom Landesjugendpfarrer über die Friedensdekade informiert worden. Auch 1981 gestaltete er die Friedensdekade mit Stadtjugendpfarrer Wolfgang Gröger in der Nikolaikirche. 1982 hielt er täglich um 17.00 Uhr mit den Texten des Leporellos der Friedensdekade das Friedensgebet. 1982 wandten sich die Jugendlichen der Jungen Gemeinde Probstheida mit dem Diakon Günter Johannson, unterstützt vom Jugendmitarbeiter der Thomaskirche, Hans-Joachim Döhring, an Superintendent Magirius mit dem Wunsch, sich auch außerhalb der Friedensdekade zu engagieren und Friedensgebete in der Nikolaikirche durchzuführen. Das war der Beginn der weltweit bekannt geworden Friedens- bzw. Montagsgebete, die am 9. Oktober 1989 schließlich zur Demonstration der 70000 führten und entscheidend zur friedlichen Revolution beitrugen.

Zum Kirchentag 1983 in Wittenberg hat Friedrich Schorlemmer mit dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ einen weiteren Akzent gesetzt. Er bat den Schmied Stefan Nau in Gegenwart des Bundespräsidenten Richard v. Weizsäcker, ein Schwert in eine Pflugschar umzuschmieden.

Die internationale Bekanntheit der Friedensdekade und die Wirkung der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ hatte dazu geführt, dass ich als sächsischer Landesjugendpfarrer auf der Jugendvollversammlung des Lutherischen Weltbundes 1984 in Budapest zum Thema „Frieden und Gerechtigkeit in der Ost-West-Perspektive“ referieren sollte. Das Thema veranlasste mich auch, zum verantwortlichen Umgang mit der Macht zu sprechen. Der rigide Umgang mit den Jugendlichen Aufnäherträgern 1981/1982  nötigte mich, über den Missbrauch von Macht zu berichten. Ich formulierte: „Macht ist eine gute Gabe Gottes, mit der Menschen verantwortlich umgehen müssen. Verantwortlicher Umgang mit der Macht wird nicht nur von Politikern und Wissenschaftlern gefordert, sondern von allen Menschen erwartet. Aber Machtmissbrauch führt zum Gottesgericht, nicht nur im letzten Gericht der Ewigkeit, sondern in Form der Zerstörung der Gemeinschaft von Menschen schon in der Gegenwart.“

Ich sagte weiterhin: „Unverantwortlicher Umgang mit der Macht, selbstsüchtige Gier und Begehrlichkeit sind Schuld von Menschen. Sie wirken sich so aus, dass die Gesellschaft mürber und zerbrechlich wird, und Menschen an ihrem eigensüchtigen Tun zugrunde gehen.“

Damit war die Frage des Umgangs mit der Macht und ihres Missbrauchs in der internationalen Öffentlichkeit angesprochen. Das blieb nicht ohne Folgen.

Die Landeskirchen und Synoden, besonders auch die Bundessynode, haben sich intensiv mit den Friedensfragen beschäftigt und mutig Beschlüsse dazu gefasst.

Auch Friedenskreise, die von Nichtchristen geleitet wurden, übernahmen das Zeichen des Aufnähers als Zeichen der Friedensbewegung in der DDR.

Schließlich soll darauf hingewiesen werden, dass die die Demonstrationen begleitenden Ordner des Neuen Forums auf ihren gelben Schärpen die Aufschrift „Keine Gewalt“ trugen. Sie war von der Kraft der Gewaltlosigkeit durch die Wirkung von „Schwertern zu Pflugscharen“ abgeleitet.

Die Friedensdekade wird seit der Wiedervereinigung weitergeführt und findet in Kirchgemeinden in Ost und West statt. Sie ist einer der Impulse, die die Kirchen aus den neuen Bundesländern eingebracht haben, und hat mit dem Bußtag einen festen Platz im Kirchenjahr.

„Schwerter zu Pflugscharen“ hat die kirchliche Jugendarbeit in der DDR und die christliche Friedensbewegung weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt gemacht. Wir haben erlebt, wie Gott die biblische Vision zu einem Impuls für die friedliche Revolution ohne Gewalt werden ließ.

Es ist atemberaubend und hat etwas mit der Kraft biblischer Botschaft zu tun, wie Schüler und Lehrlinge mit dem Zeichen der Friedensdekade „Schwerter zu Pflugscharen“ das Friedenszeugnis der Bibel so ins Gespräch gebracht haben, dass in der Öffentlichkeit darüber diskutiert und der atheis tische Staat hinterfragt wurde.

Bis heute bewegt es mich, wie Jugendliche besonnen und reif, um ihres Friedenszeugnisses willen, Schwierigkeiten auf sich zu nehmen, ja sogar zu Leiden bereit waren und gegen alle Resignation unverdrossen versucht haben, dem christlichen Friedenszeugnis Hände und Füße zu geben.

Nicht zuletzt erwuchs der Mut zur Gewaltlosigkeit am 8. Oktober 1989 in Dresden angesichts der bedrohlichen staatlichen Machtdemonstrationen auch aus der Kraft des biblischen Wortes und der prophetischen Vision von den „Schwertern zu Pflugscharen“.

An diesem Tag siegte der Gesprächswunsch, den Frank Richter und Andreas Leuschner, selbst mit eingekesselte Demonstranten, an den verantwortlichen Einsatzleiter von Polizei und Armee herantrugen. Nach langem Warten kam es zu dem Gespräch. Zum Zeichen legten die Polizisten und Soldaten die Schilde und Helme ab.

Gleichzeitig und voneinander unabhängig ertrotzten die Vertreter der Kirche, Landesbischof Dr. Hempel, Superintendent Christof Ziemer und OLKR Reinhold Fritz, ein Gespräch mit dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Sie baten ihn, keine weitere Eskalation zuzulassen, die Gewaltdemonstration von Polizei und Armee zu beenden und in einen Dialog einzutreten. Schließlich wurde ein Gespräch mit der kurzfristig gebildeten „Gruppe der Zwanzig“ und dem Oberbürgermeister für den 9. Oktober verabredet, über das am Abend in den vier größten Kirchen Dresdens die Bevölkerung durch Vertreter der „Gruppe der Zwanzig“ informiert werden sollte.

Die Kirchenleute wurden mit dem Dienstwagen des Oberbürgermeisters zu den Demonstranten gefahren. Sie teilten das Gesprächsergebnis mit und baten die Anwesenden, entsprechend der Bitte des Oberbürgermeisters, friedlich die Prager Straße zu verlassen.

In Erinnerung an dieses wunderbare Ereignis, dass mit den Gesprächen ein erster Ansatz zur Strategie eines friedlichen Machtwechsels gefunden wurde, hat die Initiativgruppe „Dresdner Aufbruch“ am 8. Oktober 2010 die Plastik „Steine des Anstoßes“ an der Südseite der Kreuzkirche in Dresden enthüllt.

In einem großen steinernen Würfel ist der schmiedeeiserne Abguss des Aufnähers eingelassen. Auf die Rückseite wurde die Inschrift eingemeißelt: „Schwerter zu Pflugscharen, Friedens- und Protestbewegung, die das Land veränderte, tausende Menschen mit Kerzen stimmen an: Dona nobis pacem!“

Dieser Würfel steht fest auf der Erde. Er besagt: Auf Gottes Wort ist Verlass, wenn die Menschen sich darauf einlassen. Über dem unteren Würfel sitzt ein zweiter, gleich großer Würfel auf einer Kante. Er zeigt, wie wackelig die gesellschaftliche Situation damals war. Alles stand auf des Messers Schneide. So ist es immer wieder. Deswegen wird am 8. Oktober jedes Jahres ein Friedensgebet in der

Kreuzkirche gehalten und am Denkmal vor der Kirche ein Abguss der

Plakette „Schwerter zu Pflugscharen“ einer Initiative aus einem anderen Land, die sich ebenfalls gewaltlos um Lösungen von schwierigen gesellschaftlichen Problemen in ihrem Land bemüht, mit einer ehrenden Laudatio überreicht.

Kaderschmiede der Stasi?

Die Leipziger Journalistenausbildung im „Roten Kloster“ in der Ära Ulbricht

Daniel Siemens

„Was waren das für Zweie, Partei und Staat, die sich krümmten und bogen, weil eine unfertige, machtlose Studentin sie ,verraten‘ hatte? Was war das für ein Geheimpolizeiapparat, der so viel Zeit und Mühe aufwandte, um einer neugierigen Zwanzigjährigen nachzustellen, sie zu bestrafen, weil sie ein Lügendiktat gebrochen und die Wahrheit gesagt hatte und sich weigerte, ihren Geliebten zu bespitzeln?“

Diese rhetorischen Fragen sind dem Buch Im Schwanenhals entnommen, dem dritten Band der Erinnerungen der im Dezember 2013 verstorbenen Schriftstellerin Helga M. Novak. Ihr letztes Buch setzt im Jahr 1954 ein – genau zu dem Zeitpunkt, als die damals 19-jährige Novak ein Journalistik-Studium in Leipzig begann. Wie so viele ihrer Generation hatte sie schon viel erlebt, bevor sie in das universitätseigene Internat, gleich neben der Fakultät in der Tieckstraße gelegen, einzog. Unehelich geboren (ihr Vater beging später Selbstmord, die Mutter gab sie zur Adoption frei), wuchs Novak im und nach dem Krieg bei Pflegeeltern auf, von denen sie sich allerdings noch als Teenager lossagte. Ihre letzten Schuljahre verbrachte sie in einem Internat. In dieser Zeit trat sie auch der FDJ bei. Wie so viele ihrer Kommilitonen kam Novak im Sommer 1954 voller Hoffnungen und Erwartungen nach Leipzig. Nach den Entbehrungen ihrer Jugendjahre sollte es endlich besser werden: für sie persönlich, aber auch für den jungen Staat, in dem sie lebte und den sie voranbringen wollte, die DDR. 1954  war nicht nur für Helga Novak ein Jahr des Neubeginns. Es war zugleich das offizielle Geburtsjahr der Fakultät für Journalistik an der KarlMarx-Universität Leipzig. Die Fakultät war allerdings keine vollständige Neugründung, sondern der erweiterte Nachfolger des Leipziger Instituts für Publizistik und Zeitungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät. Der neue Name, der sich am Sprachgebrauch in der Sowjetunion orientierte – dort gab es bereits eine Fakultät für Journalistik an der Moskauer Lomonossow-Universität – war dennoch programmatisch zu verstehen. Mit der bürgerlichen Wissenschaft von der Publizistik oder Zeitungskunde, wie man das junge Fach seit der Weimarer Republik meistens genannt hatte, sollte es nun vorbei sein. In Leipzig wurde stattdessen „sozialistische Journalistik“ gelehrt und erforscht – wobei das Niveau zunächst zu wünschen übrig ließ, wie kritische Stimmen auch innerhalb der Fakultät einräumten. Zentral war der Anspruch, eine „parteiliche Wissenschaft“ zu betreiben, wobei die Politik der SED gewissermaßen den objektiven Rahmen vorgab, innerhalb dessen sich die Wissenschaft zu bewegen hatte.In einem Konzeptpapier aus dem Jahr 1965 heißt es dazu in unübertroffener Klarheit: „Sozialistische Parteilichkeit ist eine dem Berufsbild [des Journalisten, D.S.] immanente Verpflichtung! […] Sozialistische Parteilichkeit, Wissenschaftlichkeit, Wahrhaftigkeit und Objektivität bilden eine Einheit.“

Wer diesen Rahmen sprengte, musste mit Sanktionen rechnen – wie etwa der spätere Schriftsteller Landolf Scherzer erfuhr, dessen Diplomarbeit zur journalistischen Gattung der Reportage von der Fakultät im Jahr

1966 mit der Begründung abgelehnt wurde, es werde dort nicht der „richtige Standpunkt vom sozialistischen Menschen“ eingenommen. Stattdessen würde Scherzer in seiner Arbeit „auf Biegen und Brechen versuchen, den Kunstcharakter der Reportage und aller ihrer einzelnen Elemente zu beweisen.“Scherzer wurde zwangsexmatrikuliert, konnte aber in der Folgezeit beim in Suhl erscheinenden „Freien Wort“ als Journalist arbeiten.

Unter streng parteilicher Perspektive ging es an der Fakultät für Journalistik seit 1954 in erster Linie darum, den zur Hochzeit des Kalten Krieges ungemein heftig ausgetragenen Meinungskampf im geteilten Deutschland für das vermeintlich progressive, das sozialistische Lager zu gewinnen. Vielleicht ist es nötig, an dieser Stelle daran zu erinnern, wie offen die historische Situation seinerzeit eingeschätzt wurde. Das Angebot Stalins vom März 1952, das ein Zusammengehen der beiden deutschen Staaten unter der Bedingung der Neutralität des zukünftigen Deutschland in Aussicht stellte, war von der Bundesrepublik und ihren Bündnispartnern zwar zurückgewiesen worden, doch war die Grenze zwischen Ost und West noch keinesfalls hermetisch dicht. Auch die Öffentlichkeit war noch „gesamtdeutsch“, obwohl die beginnende Ausdifferenzierung und Entfremdung der beiden Hälften im Verlauf der 1950er Jahre zunehmend unübersehbar wurde.

Für die SED-Führung besaß die Ausbildung sozialistischer Journalisten einen hohen Stellenwert. Überall wurden neue, engagierte und politisch zuverlässige Kader gebraucht, die – auch angesichts der zunehmenden Zahl nach dem Westen abgewanderter Spezialisten – in Leitungsfunktionen der DDR einrücken konnten.Helga Novak war eine dieser Nachwuchshoffnungen: für ihr Alter ungewöhnlich belesen, politisch interessiert (und auch Mitglied der FDJ), gewiss aufbauhungrig und voll guten Willens. Aber sie war eben auch: lebensgierig, impulsiv, selbständig, mitdenkend – und nur bis zu einem gewissen Maße bereit, sich mit den ihr während der kommenden drei Jahre immer deutlicher werdenden Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen sozialistischer Gemeinschaft und politischer Manipulation und Unterdrückung, zu arrangieren.

Was aber war im Herbst 1957 – auf diese Zeit bezieht sich das Eingangszitat über die SED und die Art ihrer Machtausübung – eigentlich passiert? Zu Beginn ihres vierten und damit letzten Studienjahres war die inzwischen 22-jährige Helga Novak eines Tages von einem der jungen Assistenten, dem Parteisekretär und späteren Chefredakteur der Jungen Welt, Klaus Raddatz, in ein Nebenzimmer im Verwaltungstrakt der Fakultät geführt worden. Dort warteten, so erzählt es Novak, zwei Herren der Staatssicherheit auf sie, die ihr unter anderem deutlich machten, dass man ihre weitere Karriere entscheidend fördern könne, sofern sie sich als „Kontaktperson“ zur Verfügung stellen würde. Es war allgemein bekannt, dass die Partei, genauer gesagt die Abteilung Agitation und Propaganda im ZK der SED, über die künftigen Aufgabenbereiche der Absolventen entschied. Eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit schien zu garantieren, dass man nicht bei einer Dorfzeitung seine berufliche Laufbahn beginnen und schlimmstenfalls auch beenden musste. Diese „Verschickung“ aufs Land war keine leere Drohung – sondern für die Studierenden des dritten und vierten Studienjahres 1956/57 eine ganz reale Perspektive, die nach Bekanntwerden an der Fakultät für große Unruhe sorgte.

Novak unterschrieb im September 1957 eine Verpflichtungserklärung und erhielt den Decknamen „Renate“.Rückblickend erinnerte sie sich an diesen Moment als einen gravierenden Einschnitt: „Danach war ich nicht mehr dieselbe. Außerdem hatte ich gerade diese Signatur unterschätzt, denn ich ahnte nicht, dass sie vom Staatssicherheitsdienst als Freibrief behandelt werden würde, um mich in eine Art Leibeigenschaft zu überführen. Ein Leben lang.“Die Staatssicherheit wünschte von Novak Informationen über die Kommilitonen in ihrer Seminargruppe, und Novak fand sich dazu zunächst bereit.Der Geheimdienst wollte aber auch Details über die politischen Einstellungen einer Gruppe isländischer Studenten an der Universität Leipzig erfahren. Helga Novak war mit den fraglichen Isländern gut bekannt, einer der Auszuspähenden war ihr damaliger Freund. Diesmal lieferte „IM Renate“ nicht, sondern berichtete ihm stattdessen vom Auftrag der Staatssicherheit. Sie verstieß damit ganz bewusst gegen das ihr auferlegte Schweigegebot – mit gravierenden Folgen: Gemeinsam mit ihrer Kommilitonin und zeitweiligen Zimmergenossin Brigitte Klump, die im Jahr 1956 selbst mehrfach von der Stasi angesprochen worden war,wurde Novak im November 1957 auf einer FDJ-Versammlung der Fakultät gemaßregelt und – da sie die geforderte Selbstkritik nicht leistete – vom weiteren Studium ausgeschlossen. Wenige Tage später flüchtete sie mit ihrem Freund nach Island, kehrte aber bereits ein Jahr später in die DDR zurück, wo sie zunächst in Berlin-Oberschöneweide in der Bildschirmproduktion arbeitete, ehe sie einen Studienplatz am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ erhielt. 1967 siedelte sie in die Bundesrepublik über.

Was Novak, Klump und viele andere Studierende an der Fakultät für Journalistik besonders abstieß, waren die staatlich-parteilichen Eingriffe in ihr Privatleben. Die SED, so könnte man zugespitzt formulieren, zerstörte ihren künftigen Kadern ein solches Refugium „bürgerlicher Innerlichkeit“ konsequent. Sie kontrollierte, protokollierte und wertete an der Fakultät nicht nur den Studienerfolg, sondern auch das Freizeitverhalten der Studierenden aus. Das Verlassen und Betreten des Wohnheims wurden penibel erfasst, „außeralltägliche Vorkommnisse“ mussten gemeldet werden. Angeblich bestand sogar die Möglichkeit, Gespräche auf den Zimmern mitzuhören.Die so gewonnenen persönlichen Details fanden Eingang in die Personalakten der Studierenden, die bis zur Examensprüfung im Büro der SED-Kaderleitung lagerten und die auf Anfrage des Staatssicherheitsdienstes jederzeit herauszugeben waren.Universitäre Leistungen wie höchstpersönliches Verhalten bildeten das Fundament sowohl für die internen „Beurteilungen“ der Studierenden als auch der Überwachungs- und Anwerbearbeit der Staatssicherheit. Beziehungsprobleme, im vertrauten Gespräch geäußerte Zweifel am offiziellen Kurs der Partei, psychische Erkrankungen, Selbstmordversuche – all dies konnte und wurde staatlicherseits gegen die Studierenden verwendet.Insofern kann man die Fakultät für Journalistik durchaus als eine „Einrichtung mit totalem Charakter“ im Sinne des amerikanischen Soziologen Erving Goffman beschreiben, zumal dann, wenn man sich die zentrale Bedeutung der studentischen Seminargruppe als „alternative Bezugsgruppe“ vergegenwärtigt und die räumliche Nähe berücksichtigt, die zwischen Wohnort und Ausbildungsstelle des Studierenden bestand.

Festzuhalten ist, dass zwischenmenschliche Solidarität an der Fakultät jedenfalls dann wenig galt, wenn sie – vermeintlich – im Widerspruch zum Staats- und Parteiinteresse stand. Solche Zumutungen an den Einzelnen standen der verbreiteten idealistischen Empfindsamkeit der jungen Studierenden diametral gegenüber. Dass dieser Grundkonflikt in aller Regel vom Staat gewonnen wurde, dem es mit äußerem und psychologischem Zwang gelang, den Studierenden Loyalität oder jedenfalls passive Hinnahme abzutrotzen (und der im Gegenzug stabile berufliche wie private Zukunftsaussichten bot), sollte sich langfristig als schwere Hypothek für die Erneuerungs- und Reformfähigkeit der DDR erweisen.

Im Folgenden will ich mich auf das konzentrieren, was Novak den „Geheimpolizeiapparat“ genannt hat. Genauer gesagt: Ich will der Frage nachgehen, welche Bedeutung der Staatssicherheit in den 1950er Jahren an der Fakultät für Journalistik tatsächlich zukam – und ob die Fakultät sogar als „Kaderschmiede der Stasi“ gelten muss. Diese Meinung herrscht heute vor. Sie wurde maßgeblich verbreitet durch Brigitte Klumps Enthüllungsbuch Das Rote Kloster. Eine deutsche Erziehung, das 1978 bei Hoffmann & Campe in der Bundesrepublik erschien und seinerzeit dort breit besprochen wurde, übrigens keinesfalls unkritisch. So bemängelte der 2013 verstorbene Kabarettist Dieter Hildebrandt in der Wochenzeitung Die Zeit eine „fatale Nachträglichkeit“ des Buches. Die Zerstörung der Integrität junger Menschen, die die Autorin zeigen wolle, leide, so argumentierte Hildebrandt, unter dem Abstand von über zwei Jahrzehnten. Das Buch produziere über weite Strecken die Künstlichkeit einer „nachgestellten Spontaneität“.

Dem kommerziellen Erfolg tat solche Kritik keinen Abbruch. Klumps Buch wurde noch Anfang der 1990er Jahre neu aufgelegt und gilt immer noch als Standardwerk zum Thema. Allerdings ist anzumerken, dass es sich beim Roten Kloster nicht um eine erschöpfende Analyse der Fakultät handelt, sondern um eine lebendige Schilderung aus Betroffenensicht. Von den Zwängen der Lehrenden, etwa dem damaligen Dekan Hermann Budzislawski, einem deutschen Juden, der 1949 auf ausdrücklichen Wunsch der SED-Führung aus dem New Yorker Exil in die DDR übergesiedelt war, oder dem ebenfalls deutsch-jüdischen Literaturprofessor Wieland Herzfelde, der ab 1949 in die Mühlen der Noel-Field-Affäregeriet und Mitte der 1950er Jahre nach eigener Aussage mehrfach an Selbstmord dachte, erfährt man bei Klump nichts.Auch ihre Aussagen zur Staatssicherheit waren zumindest unscharf. Sie behauptete, dass es sich bei der Fakultät um ein regelrechtes „Ausbildungsinstitut für den Staatssicherheitsdienst“ gehandelt habe.Ähnlich äußerten sich ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit nach 1990: Das Ministerium habe grundsätzlich alle Studierenden der Fakultät für Journalistik erfasst. Auch habe man darauf geachtet, dass in jeder Seminargruppe mindestens ein Studierender vertreten war, der sich als Informeller Mitarbeiter der Stasi verpflichtet hatte.

Solche Aussagen passen gut zum heute verbreiteten Bild der Staatssicherheit als einer in der DDR allmächtigen und stets präsenten Überwachungs- und Disziplinierungsinstitution.Zumindest für die ersten Jahre der Fakultät, also genau die Zeit, die Novak und Klump im Blick haben, sind jedoch einige Einschränkungen angebracht.Ich möchte drei Punkte hervorheben:

  1. In den 1950er Jahren war es dem noch im Aufbau befindlichen Inlandsgeheimdienst der DDR schon aus logistischen Gründen nicht möglich, alle Studierenden an der Fakultät für Journalistik umfassend zu überwachen. Zwar etablierte sich die Staatssicherheit in diesen Jahren als Instrument des „bürokratischen Terrors“, und sie erweiterte die Gesamtzahl ihrer Mitarbeiter von ungefähr 10 000 im Jahr 1953 auf 16 000 nur drei Jahre später.Für die „Sicherung“, also die Überwachung der Karl-Marx-Universität Leipzig, für die bei der Leipziger Staatssicherheit die Abteilung V des Referates IV zuständig war, standen Mitte der 1950er Jahre jedoch maximal drei hauptamtliche Mitarbeiter zur Verfügung, deren Arbeit sich an der gesamten Universität auf lediglich 21 Geheime bzw. Informelle Mitarbeiter stützen konnte.Auch wenn deren Zahl in den Folgejahren rasch zunahm, so ist zu konstatieren, dass die logistischen und personellen Ressourcen für eine vollständige Überwachung der Fakultät für Journalistik und natürlich auch der Universität insgesamt mit ihren damals 10-12 000 Studierenden (noch) nicht zur Verfügung standen.Eine systematische Arbeit im Bereich der Universität, so klagte auch einer der in der zuständigen Abteilung tätigen Stasi-Mitarbeiter, sei kaum möglich.
  2. Die Formulierung „Kaderschmiede der Stasi“ suggeriert, dass die Staatssicherheit an der Fakultät nicht nur als eigenständiger, sondern sogar als bestimmender Akteur agiert habe. Dies ist sicherlich insoweit richtig, als sich in diesen Jahren eine enge bis sehr enge Kooperation zwischen Parteileitung an der Universität und der Staatssicherheit herausbildete. Wollten Mitarbeiter der Staatssicherheit jemanden in der Fakultät sprechen, was zumeist in einem gesonderten „Treffzimmer“ in unmittelbarer Nähe des Dekanats geschah, wurde in der Regel die Kaderleitung der Fakultät vorab informiert. Es war bald offensichtlich, dass die Stasi eine Art Hausrecht hatte.Politisch maßgeblich für die Fakultät war aber die Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der SED in Berlin, die alle wichtigen Personalentscheidungen traf und der die Fakultät, man könnte sagen, halboffiziell angegliedert war. Die Bezeichnung Fakultät für Journalistik ist daher irreführend – es handelte sich mindestens ebenso um eine reguläre Fakultät wie um eine der Karl-Marx-Universität Leipzig formal angegliederte Parteihochschule.

Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die seinerzeit dem ZK-Sekretär Albert Norden unterstellte Abteilung Agitation und Propaganda zwar Lehrpläne und Forschungsprogramme kontrollierte, die Auswahl der Studenten traf und auch über wissenschaftliche Kontakte der Fakultät zum Ausland entschied, aber dennoch nicht ohne Konkurrenz war. Unterstützt vom Leipziger SED-Bezirkschef Paul Fröhlich entwickelten maßgebliche Kräfte in der Leipziger Universitätsparteileitung seit der zweiten Hälfte der 1950 er Jahre ein orthodoxes Gegenprogramm zu den Plänen aus Berlin. Ihnen war die Ausrichtung der Fakultät unter dem von Norden protegierten Dekan Budzislawski, der als einer der ganz wenigen ernsthaft versuchte, das Konzept eines „sozialistischen Journalismus“ auch wissenschaftlich zu begründen, entschieden zu liberal. Stattdessen propagierten sie ein dezidiertes Gegenprogramm zu Budzislawskis angeblich „bürgerlichem“ Wissenschaftsverständnis. Dieses Gegenprogramm verkörperte einen Grundzug der SED-Politik jener Jahre. Der Historiker Bernd Florath hat die neue Orthodoxie treffend wie folgt zusammengefasst: „Intellektuelle Anstrengungen des Einzelnen, historische Wahrheit zu ergründen, waren schon im Ansatz verfehlt. […] Der Weg des Parteimitglieds in die Partei war begleitet vom Abtöten der eigenen Subjektivität.“

Anzeichen dafür, dass die Staatssicherheit in diesen SED-internen Machtkampf zwischen Berlin und Leipzig, zwischen praxiserfahrenen Kommunikationsexperten (Norden, Budzisawski) und hemdsärmeligen Parteiorthodoxen vor Ort, aktiv eingriff, liegen nicht vor. Programmatische Richtungsentscheidungen waren nicht das Aufgabengebiet des Ministeriums, das sich bekanntlich als „Schild und Schwert“, aber nicht als Kopf der Partei verstand.Wenn Helga Novak in ihren Erinnerungen schreibt, dass sich „einige der Professoren, Dozenten und Assistenten, die wir sympathisch oder unsympathisch fanden, […] als Handlanger und Zubringer der Stasi“ entpuppten,trifft dies sicher zu. Allerdings sollte dies nicht zu der Fehlannahme verleiten, die Staatssicherheit habe die eigentliche Fakultätspolitik bestimmt, wozu sie, selbst wenn sie gewollt hätte, intellektuell auch kaum in der Lage gewesen wäre.

3.           Schließlich sind einige Bemerkungen zur Tätigkeit der seinerzeit von der Staatssicherheit als „geheime Informatoren“ – also den heute meist als IMs, Informellen Mitarbeitern – angeworbenen Studierenden wichtig. Wie viele von ihnen tatsächlich für die Staatssicherheit tätig wurden, ist nicht bekannt. Bis 1963, also in knapp zehn Jahren, soll die Fakultät ungefähr 1200 Absolventen produziert haben, wobei diese Zahl sowohl die grundständigen Studierenden als auch die Zahl derjenigen, die berufsbegleitend „Journalistik“ studierten, umfasst.Bis Mitte der 1970er Jahre wurden jährlich durchschnittlich 100 Studierende neu aufgenommen.Falls diese Zahl bis 1989 in etwa konstant blieb, lag die Gesamtzahl der Diplom-Journalistik-Studenten in Leipzig bei insgesamt rund 4000. In der Leipziger Außenstelle der BStU existieren jedoch offenbar nur wenige zusammenhängende Akten zur Fakultät, es sind vor allem „Einzelfälle“ dokumentiert. Auf der Basis der meinem Kollegen Christian Schemmert (Universität Bielefeld) und mir vorgelegten Unterlagen ist zu konstatieren, dass die Anwerbung von Informellen oder Hauptamtlichen Mitarbeitern in den 1950er Jahren keinesfalls zwingendes Ausbildungsziel der Fakultät war, sondern eine Ausnahme blieb.

Sehr aufschlussreich waren diese Akten aber dennoch, denn sie erlauben zumindest eine Annäherung an die Frage, in welcher Qualität sich die Studierenden gegenseitig bespitzelt haben. Auf der Basis des von uns gesichteten Materials drängt sich der Eindruck auf, dass es zwar einerseits Studierende gab, die bereitwillig, konstruktiv und zum Teil erstaunlich selbstsicher-fordernd mit dem MfS zusammenarbeiteten, dass aber andererseits eine große Zahl der seinerzeitigen GIs erkennbar Schwierigkeiten mit der Weitergabe von Informationen über Freunde und Kollegen hatten. Die Berichte der Staatssicherheit aus jenen Jahren sind voll von frustrierten Vermerken über nicht eingehaltene Treffen und mangelnde Auskunftsbereitschaft der GIs. Wenn die geheimen Informatoren tatsächlich „Charak teriska“ von Mitstudierenden anfertigten, so blieben diese meist unverbindlich und wohlwollend. Auch Fälle, in denen sich die Verpflichteten durch allzu freizügiges Ausplaudern quasi selbst „abschalteten“, finden sich in den Akten mehrfach.

Mag das tatsächliche Ausmaß des gegenseitigen Verrats also nicht so dramatisch gewesen sein wie von manch ehemaligem Studierenden später befürchtet, so gibt dies dennoch zur Verharmlosung keinen Anlass. Es war letztlich gleichbedeutend, wie viel die Staatssicherheit tatsächlich wusste, sofern sie nur den Anschein erwecken konnte, umfassend informiert zu sein. Als Klump und Novak am eigenen Leib die Macht der Staatssicherheit erfuhren, verstanden sie zudem, dass gerade der Zwang zur Isolierung und des „Nicht-Kritisch-Nachfragen-Könnens“ die gefährlichste Waffe der SED und ihres Geheimdienstes war. Diese Waffe setzte das Ministerium für Staatssicherheit sowohl gegen Studierende wie Lehrende erfolgreich ein. Sie war maßgeblich für das zwischenmenschliche Klima im „Roten Kloster“ verantwortlich – ein Klima, das von vielen als zerstörerisch und inhuman empfunden wurde. Neben der politischen Indoktrination war dies gewissermaßen das zweite Standbein des Leipziger Journalismus-Studiums: Wer es erfolgreich absolvierte, von dem durfte die Partei begründet davon ausgehen, dass er im Parteisinne „geformt“ und damit umfassend einsetzbar war. Die Absolventen hatten auch gezeigt, dass sie gegebenenfalls stillschweigend mit der Staatssicherheit kooperieren würden. Sie hatten – wie es der Titel einer neueren Publikation zum Journalismus in der DDR treffend auf den Punkt bringt – „die Grenze im Kopf“.Und das war entscheidend – nicht eine vermeintlich komplette Erfassung.

Diese eben gemachten Einschränkungen, das ist hervorzuheben, gelten nur für die 1950er Jahre. Für spätere Jahrzehnte liegt meines Wissens bislang keine verlässliche empirische Grundlage vor, aufgrund derer qualifizierte Aussagen zur Präsenz der Staatssicherheit an der Fakultät für Journalistik getroffen werden können. Allerdings ist ein Vergleich mit anderen Berufsgruppen instruktiv. Die Historikerin Francesca Weil hat ermittelt, dass drei bis fünf Prozent aller Ärzte in der DDR als „geheime Informatoren“ der Staatssicherheit gearbeitet haben – eine Zahl, die deutlich über dem Anteil der Gesamtbevölkerung lag. Leitende Ärzte großer Krankenhäuser hatten beinahe zwangsläufig Beziehungen zur Staatssicherheit.Für die Leitungsfunktionen an der Fakultät für Journalistik wird man ähnliches annehmen können. Auch liegt es nahe zu vermuten, dass – analog zum immer weiteren Ausbau der Staatssicherheit in der DDR bis zumindest Anfang der 1980er Jahre – auch die Fakultät immer genauer und umfassender von der Stasi durchdrungen und vielleicht partiell auch gesteuert wurde. In diese Richtung deutet etwa ein Redemanuskript aus dem Jahr 1970, das die Ansprache eines hauptamtlichen Mitarbeiters der Staatssicherheit „vor Professoren, Dozenten, Studenten und Mitarbeitern“ der Karl-Marx-Universität enthält und in dem die Tatsache, dass diese Universität viele der aktuellen Mitarbeiter der Staatssicherheit „gründlich wissenschaftlich ausgebildet“ habe, explizit und lobend hervorgehoben wird.

Die Forschungen von Christian Schemmert und mir zum Thema haben sich bislang auf die Zeit bis Ende der 1960er Jahre beschränkt. Für diesen Zeitraum ergibt sich ein überaus komplexes Bild: So war die Fakultät für Journalistik in ihren Anfangsjahren nicht nur eine sozialistische Kaderschmiede im Sinne einer „ideologischen Militarisierung“ von Politik und Gesellschaft, sondern beispielsweise auch Heimat eines bald überregional bekannten Studentenkabaretts „Der Rat der Spötter“. Dieses wurde allerdings im Herbst 1961 wegen angeblich „organisierter Feindarbeit“ verboten; ihre Hauptakteure landeten im Gefängnis.Neben linientreuen Journalisten produzierte die Fakultät zumindest in den Anfangsjahren vielfach auch Dissidenz und Widerspruch bei den Studierenden,bedingt nicht zuletzt, so analysierte es die SED-Parteileitung im Jahr 1962, durch „ideologische Schwankungen im Lehrkörper“. Dieser Vorwurf richtete sich gegen die Budzislawski-Fraktion.Durch den Mauerbau, aber auch durch interne Umstrukturierungen innerhalb der Fakultät für Journalistik, die ab Mitte der 1960er Jahre komplett in der Hand von linientreuen „Parteisoldaten“ war, endeten diese spannenden und im Detail durchaus ambivalenten Anfangsjahre. 1966 konnte die SED-Parteileitung an der Universität dann schon verkünden: „Die Studenten haben bisher immer gestanden, wenn es darauf ankam!“

Ich möchte zum Ende noch ein letztes Mal auf die Erinnerungen Helga Novaks zurückkommen. Wie sie mehrfach betonte, haben ihre Erlebnisse mit der Staatssicherheit und an der Fakultät für Journalistik im Herbst 1957  ihr Leben einschneidend verändert und geprägt. Im Buch spricht sie sogar vom „Zerfall“ ihrer damaligen Identität und beschreibt ein seither nie mehr ganz verschwundenes Gefühl der Heimatlosigkeit: im bürokratischen wie im ideellen Sinne. Es waren nun genau diese Erfahrungen, die Helga Novak, trotz der von ihr unterschriebenen Verpflichtungserklärung zweifellos auch ein Opfer der Staatssicherheit, in den frühen 1990er Jahren erneut vorsichtig werden ließen. Die ersten Jahre der gesamtdeutschen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und seines Ministeriums für Staatssicherheit scheinen bei ihr keineswegs Glücks- oder gar Triumphgefühle ausgelöst zu haben. Eher stellte sich wieder die seit 1957 bekannte Angst ein, öffentlich an den Pranger gestellt zu werden. Novak dichtete:

„Seitdem die gerechtsamen Schuldlosen, seitdem die Gerechtsamen und Schuldlosen seitdem die Gerechtsamen und Unschuldigen die Makellosen und die über allen Zweifeln erhabenen also die Erhabenen seitdem die Gerechtsamen und Mutigen die Unschuldigen die Makellosen und über allen Zweifel Erhabenen also die Erhabenen Siegerpose einnehmen habe ich Angst

Angst dass sie mich einbeziehen dass sie mich ungefragt gegen andere ausspielen dass sie mich auf ihr Podest stellen ich habe Angst vor den Urteilen die sie fällen und Angst dass die fallen.“

Damit keine Missverständnisse entstehen: Es ist natürlich die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, Probleme zu analysieren, Strukturen und Zusammenhänge aufzuzeigen, und – basierend auf methodisch reflektierter Forschung – Urteile, auch Werturteile, zu fällen. Die frühe Geschichte der Fakultät für Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig ist zweifellos ein ebenso komplexes wie lohnendes Forschungsgebiet, um die Herrschafts praxis der SED, ihre Hochschul- und Kaderpolitik zu studieren. Wichtig sind aber auch diejenigen, die – in welcher Rolle auch immer – mit dieser Herrschaftspraxis konfrontiert waren und deren Biographien durch diese entscheidend geprägt wurden. Helga Novaks Angst vor der Arroganz und Skrupellosigkeit der Macht, in den 1950er wie den 1990er Jahren, verweist auf dreierlei: Erstens macht sie deutlich, dass lebensgeschichtliche Erfahrung nicht parallel zu den Zäsuren politischer Ereignisse verläuft. Zweitens mahnt sie an, die ersten Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR auch abseits der bislang etablierten Erfolgs- und Verlustnarrative in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu untersuchen, über die Epochenwende 1989/90 hinaus. Drittens erinnert sie an die Fragilität menschlicher Existenz im Angesicht von politischen Ideologien und in den Herrschaftssystemen, die sich auf sie berufen.

Aufklären und sich Einmischen

Zur Aufgabe der Bildungsinstitutionen bei der Erziehung mündiger Bürger

Thomas Feist

„Schon im Kindergarten laufen sie im gleichen Schritt, einer läuft vorneweg, die anderen laufen mit. Im Sandkasten kämpfen sie manche Schlacht, denn es ist ja so schön, wenn´s donnert und kracht. So wachsen sie auf – ohne Sorgen, die Kinder von heute, die Soldaten von morgen“.

1982 konnte eine Textzeile wie diese über Bildungsbiographien entscheiden. Nach einer Vorladung durch die Leitung der EOS „Karl Marx“ wurde den Schülern Katrin V. und Jürgen K. erklärt, dass nur eine sofortige und dauerhafte Distanzierung von der kirchennahen Musikgruppe „Kaktus“, die diesen Songtext im Programm hatte, ihre Suspendierung von der Schule verhindern könne. Sie stimmten dem zu – leicht fiel es ihnen allerdings nicht. Sie, die in der „Jungen Gemeinde“ der Christuskirche Eutritzsch den Versuch unternahmen, das freie Gewissen, das freie Wort, den aufrechten Gang zu üben, wurden vor die Alternative gestellt: dem Gewissen folgend das Abitur „in den Wind zu schreiben“ oder dem Druck staatlicher Organe nachzugeben und zu schweigen. Junge Menschen sind zuweilen impulsiv, gelegentlich starrköpfig und manchmal auflehnend. Es stand die Frage im Raum: Lohnt sich das Märtyrertum um eines Liedtextes willen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso nur im geschützten Raum der Kirche seine Zuhörer finden konnte? Zeit zum Nachdenken gab es nicht. Die Schulleitung wollte sofort eine Antwort und eine grundsätzliche Entscheidung. Denn Schule war in der DDR weit mehr als nur Lernort. Sie war Erziehungsanstalt für „sozialistische Persönlichkeiten“, für die „Kampfreserve der Partei“. Partei- und Staatschef Erich Honecker beschrieb die Aufgabe der Schulen 1985 wie folgt:

„Nur haben wir uns im Gegensatz zur Bourgeoisie, die die ideologische Funktion ihrer Schule leugnet, stets offen zur politischen Zielstellung unserer Schule bekannt. […] Unsere Schule hat die Aufgabe, den jungen Menschen unsere Ideologie, die wissenschaftlich begründete Ideologie der Arbeiterklasse zu vermitteln [ …]. Die Bildung und Erziehung in unserer Schule ist voll und ganz an unserer Ideologie ausgerichtet.“

Auflehnung wurde mit Sanktionen bestraft. So simpel war die Logik des Sozialismus. Auf der Liste der Sanktionsbegründungen fanden sich unter anderem folgende Punkte:

Selbständiges Produzieren feindlich-negativer Auffassungen, z. B. in Form politisch-negativer Witze, Sketche, Lieder, Losungen oder Sprechchöre“

„Bildung von Gruppierungen, deren Charakter durch gemeinsame feindlichnegative Auffassungen geprägt ist, zum Beispiel im Rahmen religiöser Tätigkeit“

„Die Kinder von heute – die Soldaten von morgen“ – eigentlich eine treffliche Beschreibung dessen, was als Ziel der sozialistischen Erziehung zu erkennen war. Bereits im Kindergarten gehörte die Indoktrination durch pädagogisch verbrämte Propaganda und die Militarisierung durch Kriegsspielzeug und NVA-Werbematerial zum Alltag. Sie waren untrennbarer Bestandteil der frühzeitigen Kollektivierung und Vorbereitung auf das Leben im Kollektiv, einhergehend mit dem Zurückdrängen kindlicher Selbständigkeit und Individualität. Nicht immer deckte sich dieser Anspruch mit der Realität in den Kindergärten der Deutschen Demokratischen Republik – als Ziel war er jedoch über allen Versuchen, die sozialistische Staatsdoktrin zum Leitbild für alle Bürger geltend zu machen – faktische Anleitung zum Handeln in allen Bereichen des Erziehungs- und Bildungssystems dieses untergegangenen Landes.

Es bedeutete den Verantwortlichen sehr viel, dass sie exklusiv entscheiden konnten, was im Rahmen der Erziehung „sozialistischer Persönlichkeiten“ seinen Platz hatte und was als Störung des staatlichen Erziehungsmonopols sanktioniert wurde. Es zeigt sich anschaulich an diesem eigentlich harmlosen Vorfall. Denn offensichtlich war es nicht die Feststellung im erwähnten Liedtext, dass die Kinder von heute die Soldaten von morgen sind, sondern die dahinter (zu Recht) vermutete Absicht des Autors, dieses Erziehungsmodell in Frage zu stellen.

Als Verfasser dieser Zeilen musste ich die Entscheidung meiner beiden Freunde, unser gemeinsames musikalisches Projekt wegen des angedrohten Schulverweises zu verlassen, akzeptieren. Unserer Freundschaft zuliebe, die eben keinen ideologischen Zwängen unterworfen war und daher die Not der Entscheidung nachvollziehen und mittragen konnte, wenn auch schweren Herzens.

Der Song über die bereits im Kindesalter einsetzende vormilitärische Erziehung war übrigens bis zur Auflösung des Musikkabaretts Kaktus im Jahr 1993 in unserem Programm. Es war unser deutlichster Einspruch gegen das sozialistische Erziehungsmodell, wie es im 1965 verabschiedeten „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ festgeschrieben war. Dort heißt es:

Die Schüler, Lehrlinge und Studenten sind zur Liebe zur Deutschen Demokratischen Republik und zum Stolz auf die Errungenschaften des Sozialismus zu erziehen, um bereit zu sein, alle Kräfte der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, den sozialistischen Staat zu stärken und zu verteidigen. Sie sollen die Lehren aus der deutschen Arbeiterbewegung begreifen. Sie sind im Geiste des Friedens und der Völkerfreundschaft, des sozialistischen Patriotismus und Internationalismus zu erziehen.“

„Die Kinder von heute – die Soldaten von morgen“ – ein einfacher Text, der so große Auswirkungen auf die Lebensrealität junger Menschen hatte. Der Widerspruch einlegte, anstößig war. Der im Raum der Kirche zu den Botschaften gehörte, die unsere Zuhörer am begierigsten aufsogen – auch die uns über einen langen Zeitraum bei jedem Konzert begleitenden StasiMitarbeiter. Der bei Auftritten außerhalb der Kirche steter Diskussionspunkt innerhalb unserer Musikgruppe war. Dürfen wir uns das trauen? Müssen wir mit dem Kopf durch die Wand? Wir risikoreich ist diese Provokation? Und den wir nach ausgiebigem Abwägen gegensätzlicher Argumente dann doch immer spielten – mit der Warnung Bettina Wegners „Leute ohne Rück grat hab’n wir schon genug“ im Hinterkopf: vor der Einstufungskommission (die uns nach dem Vorspiel kurioserweise den Titel „Volkskunstkollektiv mit Auszeichnung“ verlieh), auf Vermittlung der Konzert- und Gastspieldirektion in der Ausbildungsstätte für „Abschnittsbevollmächtigte“ in Wolfen im August 1989 mit einer anschließenden heftigen Diskussion und auf dem Marktplatz in Leipzig am 4. September 1989 – kurz vor der Montagsdemonstration rund um die Nikolaikirche.

„Die Kinder von heute – die Soldaten von morgen“ – diesen Liedtext habe ich, zusammen mit den Erinnerungen an die Kollektivierungsanstrengungen des DDR-Erziehungssystems, auch heute noch im Hinterkopf. Wenn es darum geht, wie viel Erziehungsleistung der Staat übernehmen soll. Bei Debatten über die Wichtigkeit möglichst frühzeitiger Unterbringung von Kindern in Kindertagesstätten. Bei Kontroversen zu politischen Zielsetzungen und Maßnahmen. Bei Diskussionen über Konformität und Individualität.

Politische Debatten über das Erziehungs- und Bildungssystem lassen immer auch die jeweils vorherrschende Programmatik der Parteien durchschimmern. Eine entscheidende Frage ist hierbei immer der Umfang elterlicher Erziehung und Bildung und der Erziehungs- und Bildungsauftrag staatlicher Institutionen. Wenn ich an dieser Stelle einmal an die mit teilweise sehr harten Bandagen geführte Auseinandersetzung über die Zielsetzung und die Sinnhaftigkeit des Betreuungsgeldes erinnern darf, weiß sicherlich jeder, worauf ich hinauswill.

Ich kann und will meine Herkunft weder verleugnen noch vergessen. Dies gilt auch für meine Anschauungen darüber, was in der Schule unterrichtet werden soll und welche Rolle die Eltern im Erziehungs- und Bildungs prozess einnehmen. Alles, was Kinder betrifft, ist auch eine notwendige Angelegenheit der Eltern. Dies wussten natürlich auch die Bildungsverantwortlichen der DDR. Sie nahmen Eltern wortwörtlich in Haftung für das Verhalten ihrer Kinder. Und das nicht zufällig, sondern mit System. Im § 32 der Schulordnung der DDR hieß es dazu:

„In der allgemeinbildenden Schule werden die Eltern bei der Verhängung von Schulstrafen einbezogen: durch eine vorherige Anhörung und die Information über die ausgesprochene Schulstrafe, bei Umschulungen und Ausschluss des Kindes aus der erweiterten Oberschule. Über diese beiden letzteren schweren Fälle werden auch die Betriebe unterrichtet, in denen die Eltern arbeiten, so daß die Elternerziehung auch unter diese Kontrolle gestellt wird“.

Ich habe die Auswirkungen dieser Regelungen in der eigenen Biographie mehrmals erlebt und bin dadurch besonders sensibilisiert worden. Meine Verweigerung der Teilnahme am Wehrkundeunterricht in den Klassen 9 und 10 zog als disziplinarische Maßnahme den Umstand nach sich, dass ich „bei den Mädchen mitmachen musste“. Nun gibt es ja für männliche Teenager sicher schlimmere Strafen. Nicht außer Acht gelassen werden sollte daher der Umstand, dass mit meinen Eltern etliche Gespräche geführt wurden, ihre offensichtlich mangelhafte Erziehungsleistung betreffend.

Die Verantwortung zu einer Erziehung in Freiheit und zur Freiheit des mündigen Bürgers hin war in der DDR eine besonders beachtenswerte Leistung von Eltern, die auch in schwierigen Situationen zu den Entscheidungen ihrer heranwachsenden Kindern standen. Und ich habe meinen Eltern schwierige Situationen nicht erspart. Sie können es sich selbst vorstellen, was es für sie und ihr berufliches Fortkommen bedeutet hat, wenn ich aus disziplinarischen Gründen nicht in die FDJ aufgenommen wurde und in der 9. Klasse den Wehrdienst aus Gewissensgründen total verweigerte. Besonders dieser Umstand hat – neben den Versuchen der Staatsmacht, über den elterlichen Einfluss eine Änderung meiner Entscheidung herbeizuführen – einen prägenden Einfluss auf meine Bildungsbiographie ausgeübt. Und natürlich hatte diese Entscheidung auch erhebliche Auswirkungen auf die Lehrer an meiner Schule, besonders auf meinen Geschichtslehrer, dem offensichtliches Versagen vorgeworfen wurde. Konnte er doch nicht unbeteiligt an dieser Fehlentwicklung meiner Persönlichkeit sein. Seine Aufgabe wäre es gewesen, mir ein korrektes Geschichtsbild zu vermitteln. Korrekt hieß hier nichts anderes als nach der besonderen Lesart der sozialistischen Bildungsexperten, die wie folgt lautete:

Im Geschichtsunterricht […] wird ein konkretes, wissenschaftliches und parteiliches Geschichtsbild vermittelt […]. Der Geschichtsunterricht beruht auf den Positionen der marxistisch-leninistischen Geschichtsbetrachtung. […] Geschichtsunterricht hat einen entscheidenden Anteil an der Herausbildung des sozialistischen Geschichtsbewusstseins der Schüler. Er fundiert so den Klassenstandpunkt, vertieft ihre Liebe zum sozialistischen Vaterland, erzieht zum sozialistischen Patriotismus […], festigt ihre antiimperialistische Grundhaltung […]. Er leistet einen spezifischen Beitrag zu ihrer politisch-ideologischen Erziehung.“

Das diesem Prinzip unterstehende Schulsystem war im gesamten Staatsgebiet einheitlich geregelt und teilte sich in die zehnklassige POS mit Unter-, Mittel- und Oberstufe sowie die EOS, die zum Abitur führte. Das System war straff zentralistisch gegliedert, der Staat und damit die SED kontrollierte jede Ebene – von der Gesetzgebung über Lehrpläne bis hin zu Kontrollgremien auf Bezirks- und Kreisebene. Der totalitäre politische Einfluss des sozialistischen Staates endete allerdings nicht mit dem Verlassen der Schule. Er war als Aufgabe formuliert, die das Leben in seiner Gesamtheit beeinflusste und steuerte. Am nachhaltigsten konnte dieser Anspruch dort umgesetzt werden, wo der Staat den direkten Zugriff auf heranwachsende Menschen hatte: in den Kindererziehungseinrichtungen, den Schulen, den Universitäten und in der beruflichen Bildung.

Für die meisten Studenten war eine sogenannte „freiwillige Verpflichtung“ für die dreijährige Dienstzeit bei der NVA gängige Voraussetzung für ein Studium. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Die SED-treue Jugendorganisation FDJ hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Realisierbarkeit des Studierwunsches junger Menschen. Im § 22 des Jugendgesetzes der DDR war dies mit folgenden Worten festgeschrieben:

„Die Zulassung zum Studium erfolgt nach den erforderlichen fachlichen und gesellschaftlichen Leistungen in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der sozialistischen Gesellschaft und unter Berücksichtigung der sozialen Struktur der Bevölkerung. Die Leitungen der Freien Deutschen Jugend sind berechtigt, über die Zulassung zum Studium mitzuentscheiden.“

Dieser Einfluss der FDJ wurde mit aller Macht und allen Mitteln durchgesetzt. Dabei wurden die Jugendfunktionäre tatkräftig von Informanten der Staatssicherheit unterstützt, an denen an der Karl-Marx-Universität Leipzig – die auch die „Rote Universität“ genannt wurde – beileibe kein Mangel herrschte. Einige dieser Spitzel sind bis heute aktiv – wenn auch in anderen Funktionen und Ämtern.

Dass ich ausgerechnet an der Karl-Marx-Universität eine Berufsausbildung beginnen konnte, war neben dem in der DDR unerlässlichen „Vitamin B“ einem weiteren kuriosen Umstand meiner Biographie geschuldet. Als Nichtmitglied der FDJ war es eigentlich undenkbar, an der „Roten Universität“ ein Lehrverhältnis zu begründen. Ich hatte mich jedoch freiwillig als Kassierer der FDJ-Beiträge meiner Klasse gemeldet und konnte nun in meine Bewerbung den entscheidenden Satz einfügen: „Bin in meinem Klassenkollektiv als FDJ-Kassierer tätig.“ Die in der DDR gängige Sanktionierung der – wie es hieß – „Ablehnung der Übernahme gesellschaftlicher Funktionen bzw. ihrer formalen Erfüllung aus negativen politischen oder egoistischen Motiven“ wie auch die Frage des Vertreters des Lehrbetriebs, ob ich Mitglied der FDJ sei, entfielen somit in für mich zufriedenstellender Weise. Doch damit waren nicht alle Schwierigkeiten im Zusammenhang mit meiner Ausbildung zum Heizungsinstallateur an der Karl-Marx-Universität Leipzig ausgeräumt.

Das Recht auf Berufsbildung war in der DDR verknüpft mit der sogenannten Ehrenpflicht aller Bürger, das sozialistische Vaterland und die sozialistische Staatengemeinschaft zu verteidigen. Im §141, Abs. 3, Satz 2 des Arbeitsgesetzes der DDR hieß es dazu:

„Daher wird der Lehrling verpflichtet, während des Lehrverhältnisses an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen, sich militärpolitische und militärfachliche Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen bzw. an den Maßnahmen der Zivilverteidigung mitzuwirken. […] Ihm kann der Betrieb kündigen, wenn er aufgrund [ …] schwerwiegender Verletzung staatsbürgerlicher Pflichten für den vereinbarten Ausbildungsberuf nicht geeignet ist.“

Ein weiteres Damoklesschwert für jemanden, der aus Gewissensgründen den Umgang mit der Waffe wie auch den kompletten Wehrdienst in der DDR verweigert hat. In einem Gesellschaftssystem, das Konformität als Generaltugend ausrief und in dem die individuelle Gewissensentscheidung staatliches Misstrauen hervorrief, war es so gut wie unmöglich, sich der Militarisierung der beruflichen Ausbildung zu entziehen, wollte man einen Berufsabschluss erlangen. Im DDR-Bildungssystem, in dem Abweichungen von der Norm strenger und kritischer Beobachtung unterlagen, erfolgte in der Regel zunächst das stufenweise „Weichkochen“ des „Abweichlers“ durch den Klassenverband im Rahmen „freundschaftlicher Diskussionen“. In meinem Fall wurde mir von meinen Mitschülern und Lehrern vorgehalten, dass eine Weigerung meinerseits eine Sanktionierung des gesamten Klassenverbandes nach sich ziehen würde – ein anschauliches Beispiel des Praktizierens von Kollektivstrafen in der DDR. Bei mir blieb es bei der Androhung einer solchen. Ich wollte meine Mitschüler diesem übergroßen Druck nicht aussetzen, schließlich konnte ich die Verantwortung für eigenes Handeln nicht auf alle Unbeteiligten ausdehnen. Ich fand mit meinem Klassenlehrer einen Kompromiss, indem ich ihm erlaubte, an meiner Stelle die Schießübungen zu absolvieren und die Ergebnisse unter meinem Namen in die dafür vorgesehenen Listen einzutragen. Möglicherweise ein fauler Kompromiss, aber ein notwendiger. Noch dazu mit einem erstaunlichen Ergebnis, denn so wurde ich unter der schmunzelnden Kenntnisnahme meiner Mitschüler „Schützenkönig“ meiner Berufsschulklasse.

Diese und andere Geschichten meiner Biographie gehen mir durch den Kopf, wenn ich mit meinen Kollegen über Freiheit und Verantwortung in Bildungsprozessen diskutiere, wenn ich mit ihnen über die Begriffe „Bildungsgerechtigkeit“, „Bildungschancen“ und gesellschaftliche Normen rede, bisweilen auch leidenschaftlich streite.

Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass das Streiten über gute Bildung für alle, über den Wert elterlicher Erziehung und familiärer Vorbilder vorurteilsfrei erfolgen muss. Nur so lassen sich staatliche Maßnahmen zur Unterstützung der Bildung und der Erziehung zur Freiheit glaubhaft mitgestalten. Solche Gespräche führen nur dann zum Ziel, wenn sie frei von Ideologie und Rechthaberei sind.

Ich nehme aber auch zur Kenntnis, dass gerade Bildungsdiskussionen in der politischen Auseinandersetzung ideologisch hoch aufgeladene Themenfelder sind und dass in jeder Diskussion auch die persönliche Bildungsbiographie eine wichtige, nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Dies sehen wir aktuell in der Auseinandersetzung über die Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung, über die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems und über mehr zentralisierte Verantwortung für unser Schulsystem.

Als ausgebildeter Heizungsmonteur und promovierter Musikwissenschaftler spreche ich über die Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen und die Durchlässigkeit von Bildungswegen aus eigener, sehr persönlicher und daher eher positiv eingestellter Sichtweise auf unser Bildungssystem.

Aus eben diesen auch persönlich begründeten Motiven stehe ich allerdings einer Zentralisierung des Schulwesens mehr als skeptisch gegenüber. Dabei steht nicht die Befürchtung im Vordergrund, wir könnten zu ähnlichen Verhältnissen wie im zentral gelenkten Bildungssystem der DDR kommen, das im gesamten Staatsgebiet einheitlich geregelt und straff zentralistisch gegliedert war, in dem der Staat jede Ebene – von der Gesetzgebung über Lehrpläne bis hin zu den Kontrollgremien – maßgeblich beeinflussen konnte und dies vehement tat. Es geht mir auch weniger um die Gefahr, dass wir zu einem Bildungssystem zurückkehren könnten, bei dem die unterschwellige und oft auch offensichtliche Einflechtung ideologischer Komponenten in die verschiedensten Unterrichtsfächer an der Tagesordnung war.

Ich möchte auch nicht nur ein persönliches Schreckensszenario vermeiden: dass in einer hypothetisch möglichen Koalition von SPD und Linkspartei Sarah Wagenknecht als Bildungsministerin die zentrale Kontrolle über die Bildung in Deutschland erhalten könnte.

Eine folgenschwere Nachwirkung meiner persönlichen Bildungsbiographie besteht bis heute und täglich neu darin, dass ich mit großer Motivation, nicht nachlassender Anstrengung und anhaltender Begeisterung für eine wirklich freie und freiheitliche Bildung und Erziehung streite und arbeite. Als Maßstab gilt für mich, alle möglichen und zuweilen auch die noch nicht für möglich gehaltenen Chancen und Wege einer auf Freiheit und Verantwortung beruhenden Kooperation von Schule und Eltern zum Besten unserer Kinder auszuloten und realisieren zu helfen. Dies betrachte ich als meinen persönlichen Beitrag für eine Erziehung junger Menschen hin zu freien, selbstbewussten und kritisch reflektierenden Bürgern – mündigen Bürgern, die die Gestalt unserer Gesellschaft bestimmen und sich einmischen, wo es nötig ist.

Von Kindesbeinen an: Wehrerziehung und Militarisierung der Gesellschaft

Klaus Fitschen

„In jeder Hand hält er einen Revolver, vor der Brust hat er eine Spielzeugmaschinenpistole hängen.

,Was sagt denn deine Mutter zu diesen Waffen?’

,Die hat sie mir doch gekauft.’

,Und wozu?’

,Gegen die Bösen.’

,Und wer ist gut?’

,Lenin.’

,Lenin? Wer ist das?’

Er denkt angestrengt nach, weiß aber nicht zu antworten.

,Du weißt nicht, wer Lenin ist?’

,Der Hauptmann.’“

Reiner Kunze, „Siebenjähriger“, aus: Die wunderbaren Jahre

Von Kindesbeinen an war die sozialistische Erziehung zum sozialistischen Menschen von der sozialistischen Wehrerziehung durchdrungen, die, so wäre Reiner Kunzes Text zu interpretieren, sich nicht nur auf kindliche, sondern auch auf elterliche Mentalitäten auswirkte.

„Die Vorbereitung auf den Wehrdienst ist Bestandteil der Bildung und Erziehung an den allgemeinbildenden Schulen, Einrichtungen der Berufsbildung, Fachschulen, Hochschulen und Universitäten“, so hieß es beispiels weise im Wehrdienstgesetz von 1982 (§ 5 Abs. 2). Dieser Aspekt – „die Vorbereitung auf den Wehrdienst“ – war eben nur eine Seite der Medaille. Die andere war es, als eines der wesentlichen ideologischen Ziele der SEDDiktatur ein Weltbild zu erzeugen, das von einem geradezu manichäischen Gegensatz von Gut und Böse, Liebe und Hass geprägt war. Die innerdeutsche Todesgrenze hinderte die Bösen dabei nur mit Mühe daran, den Guten den Garaus zu machen. Es sollte ein Konformitätsdruck erzeugt werden, der nicht nur der Abwehr eines potentiellen äußeren Feindes diente, sondern auch der Ausgrenzung als solcher angesehener innerer Feinde, deren schlimmste – so scheint es gelegentlich – Menschen mit pazifistischer Einstellung waren.

Die Wehrerziehung war demnach, abgesehen von der Vorbereitung auf den Wehrdienst, ein Bildungsziel an sich. Sie vermittelte kind- und jugendgerecht die Allgegenwart des Militärischen und die Notwendigkeit einer feindlichen Haltung bestimmten Menschen gegenüber als Selbstverständlichkeit. Die Militarisierung der Kindheit, die Reiner Kunze in seiner Prosa kritisierte, fand sich unter anderem in der seit 1965 erscheinenden „Soldatenpost“ wieder, in der bei Kindern und Jugendlichen für den Soldatenberuf geworben wurde. Für die Vorschulkinder vermittelte die Zeitschrift „Bummi“ ähnliches Gedankengut. Darüber hinaus aber bot die Militarisierung im Alltag die Möglichkeit, Konformität zu erzwingen und Individualität zu minimieren, und das eben nicht erst im Wehrdienst oder bei weiteren militärischen Ausbildungen, sondern in paramilitärischen Formen auch in Kindergärten, Schulen und Universitäten. Übungen, auch im Bereich der sogenannten Zivilverteidigung, Alarme und das Einschärfen eines Feindbildes sollten der Stabilisierung der Diktatur dienen.

Die Militarisierung mit all ihren Aspekten war bereits Teil der Frühgeschichte der DDR und somit Teil ihrer Legitimation im Kalten Krieg. Schon die Aufstellung der Kasernierten Volkspolizei im Jahre 1952, der „getarnten Armee“, um einen Buchtitel zu zitieren,war ein Baustein für die Militarisierung der gesamten Gesellschaft. Während in der Bundesrepublik die Debatten um die Wiederaufrüstung Politik und Öffentlichkeit schwer erschütterten, sich die Wege Adenauers und Heinemanns trennten und die Evangelische Kirche an den Rand ihrer Spaltung geriet, mussten in der DDR diese Debatten ausbleiben. Die weit verbreitete und durch den Korea krieg noch verstärkte pazifistische Mentalität des „Nie wieder“ oder „Ohne mich“ war eine Sonderposition, die es zu beseitigen galt. Dass die Militarisierung mehr war als die Aufstellung einer Armee, zeigte zur gleichen Zeit die Aufrüstung des Sports durch die 1952 gegründete Gesellschaft für Sport und Technik. Sport hatte Wehrsport zu sein und aus Geländemärschen, Schießausbildung und dem Heranführen an Wehrtechnik zu bestehen. Dies galt auch für den Erwerb des Sportabzeichens, dessen Motto in der ersten Fassung von 1950 noch lautete „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung des Friedens“, seit 1956 aber: „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat“.

Der 17. Juni 1953 diente dann als erster Beweis für eine Bedrohung von außen. Eine konkrete Folge des Arbeiteraufstands am 17. Juni war die Aufstellung der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“, die eine Militarisierung des Arbeitslebens zum Zweck hatte – jedenfalls in dem Sinne, dass auch hier das Militärische präsent war. Richtig durchsetzbar war die Militarisierung freilich erst nach dem Mauerbau, der ja mit entsprechenden Bedrohungsszenarien begründet wurde und auf den nicht zufällig eine Werbekampagne für die Nationale Volksarmee folgte. Diese zielte offiziell noch auf Freiwilligkeit, war in Wirklichkeit aber schon mit Repressionen behaftet, vor allem für Studenten, die sich dieser Freiwilligkeit entziehen wollten. „Der Friede muss bewaffnet sein“ – dieser Satz begann hier seine Karriere. Der Wehrdienst wurde nun mit dem üblichen Pathos als Ehre und Pflicht überhöht, so wie es auch schon 1958 in den „Zehn Geboten der sozialistischen Moral“ geschehen war. Das 2. Gebot lautete: „Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter- und Bauernmacht einzusetzen.“

Mit der NVA ist also nur eines der „bewaffneten Organe“ genannt, die bis in den Alltag hineinwirkten. Andere, wie die Gesellschaft für Sport und Technik oder die Betriebskampfgruppen, gehören ebenso hierher. Das „Handbuch der bewaffneten Organe der DDR“ gibt dazu einen ausführlichen Überblick, und auch sonst ist das Feld sehr gut erforscht.Auch die Zivilverteidigung und mit ihr das Rote Kreuz sind im Kontext der Militarisierung zu sehen. Die Zivilverteidigung, im universitären Bereich hauptsächlich Betätigungsfeld von Studentinnen und Theologiestudenten, war 1967  als Teil der „Landesverteidigung“ begründet worden und 1975 in den Zuständigkeitsbereich des Verteidigungsministers übergegangen. Damit wurde sie zu einem „bewaffneten Organ“.Die Zivilverteidigung mit ihren Übungen diente der Militarisierung auch insofern, als in ihr schon Kinder und Jugendliche zur Angst vor einem Angriff aus dem Westen erzogen wurden.

Eine geläufige Abwehrreaktion könnte es nun sein zu behaupten, die Militarisierung im Sinne einer Akzeptanz des von der SED-Diktatur vertretenen Feindbildes habe es in Wirklichkeit gar nicht gegeben, man habe dies wie so vieles andere gar nicht verinnerlicht und den paramilitärischen Betrieb außerhalb der NVA eher als Geländespiel angesehen, dem man sich nicht entziehen konnte. Abgesehen von der Fragwürdigkeit der generellen Geltung solcher Aussagen war Kindern und Jugendlichen jedoch eine solche Distanzierung kaum möglich. Sie waren am allermeisten der militaristischen Indoktrination ausgesetzt. Während Erwachsene sich innerlich distanzieren konnten und dies offensichtlich auch taten,war dies Kindern und Jugendlichen kaum möglich.

Im staatlichen Bildungswesen der DDR, das sich ja vorwiegend als Erziehungswesen verstand, spielte die Militarisierung eine zentrale Rolle. So hieß es im Jugendgesetz der DDR von 1964: „Die Staats- und Wirtschaftsfunktionäre, die Leiter der Betriebe und staatlichen Einrichtungen und die Vorstände der Genossenschaften sind verpflichtet, die Bereitschaft der Jugend zu fördern, die sozialistische Heimat gegen alle Angriffe des Imperialismus zu verteidigen. Sie haben den Jugendlichen unter aktiver Beteiligung der Freien Deutschen Jugend, der Gesellschaft für Sport und Technik und des Deutschen Roten Kreuzes zu ermöglichen, sich bereits vor Ableistung des Wehrdienstes militärische, technische und medizinische Kenntnisse anzueignen.“ (§ 44). Bei diesem Tenor blieb es auch bei der Neufassung des Gesetzes im Jahre 1974, wobei in dieser Neufassung der militaristische Ton noch stärker hervortrat: 16 Mal kamen Wörter mit „Wehr“ vor, wie z. B. Wehrsport, Wehrerziehung, Wehrpolitik.

So gab es in Kindergärten Kriegsspielzeug; Väter, die Soldaten waren, wurden zu „Patensoldaten“. In den unteren Schulklassen wurde Manöver gespielt. In der Schule fand nicht nur von der 1. Klasse an Wehrerziehung statt, sondern es wurden auch, auf Initiative der FDJ in Kooperation mit der GST, paramilitärische Wettkämpfe veranstaltet. Die Wehrerziehung prägte alle Schulfächer: Sport, Geschichte, Chemie, Erdkunde und natürlich Staatsbürgerkunde. Die „Handreichung zur sozialistischen Wehrerziehung“ empfahl für den Musikunterricht, die Schüler sollten lernen, „Marschlieder selbständig, in der richtigen Tonart, anzustimmen, daß beim Marschieren nach Gesang und nach Marschmusik bewußt laut, deutlich und kämpferisch gesungen, aber nicht geschrien wird“.Studierende, die an die Hochschulen kamen, waren mit den üblichen Mechanismen der Militarisierung bereits vertraut und konnten sie als selbstverständlich ansehen – sie hatten ohnehin einen ideologischen Ausleseprozess durchlaufen, in dem Anpassungsverweigerungen schon den Weg an die EOS verbauen konnten. Freiräume von dieser Art Erziehung gab es faktisch nicht, sieht man einmal von den kirchlichen Kindergärten, kirchlichen Ausbildungseinrichtungen und kirchlichen Hochschulen ab.

Dass die Akteure der Militarisierung von damals trotz mancher Friedenstaube vielleicht doch noch nicht gänzlich bekehrt sind, sei hier nur angemerkt: 1987 wurde der „Leitfaden“ „Militärpolitisches Grundwissen für die sozialistische Wehrerziehung“ veröffentlicht, der ein ideologisches Kompendium darstellt.Der Hauptherausgeber, Bernhard Gonnermann, saß in den 1990er Jahren noch zwei Perioden lang für die PDS im Brandenburgischen Landtag. Einer der Autoren, Paul Heider, ist Mitglied der „Dresdner Studiengemeinschaft für Sicherheitspolitik“, die offensichtlich in der Tradition der ehemaligen „Dresdner Militärakademie Friedrich Engels“ steht. Ein weiterer Autor von damals, Siegfried Melcher, ist Mitglied im Präsidium des „Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden“, eines Dachverbandes von Organisationen, zu denen auch der „Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR“ gehört, dessen Vorsitzender Theodor Hoffmann ist, Verteidigungsminister der DDR vom November 1989 bis zum April 1990.

Wie steht es nun mit dem Themenfeld Resistenz, Opposition, Widerstand? Bis zum Mauerbau war es noch möglich, sich der Militarisierung durch Flucht in die Bundesrepublik zu entziehen. Ein Zeichen für Resistenz ist die Tatsache, dass die GST in den 1950er, aber auch noch in den Jahren nach dem Mauerbau nicht den ihr vorgegebenen Bestand erreichte, wobei in den frühen 1950er Jahren auch noch christliche Einstellungen unter Jugendlichen eine Rolle spielten, die sich gegen eine Militarisierung richteten.Erst in den 1970er Jahren konnte die GST die ihr zugedachte Aufgabe, die männlichen Jugendlichen flächendeckend auf den Wehrdienst vorzubereiten, erfüllen.In den 1980er Jahren zeigten sich dann hier wie überall Distanzierungstendenzen, für die auch die wachsenden Zweifel von Jugendlichen an der Gefahr des Imperialismus stehen.Ein weiterer Indikator ist die steigende Zahl von Bausoldaten.

Ein Zeichen für eine gewisse Resistenz gegen die Militarisierung war auch die mangelnde Akzeptanz des Soldatenberufes, für den die SED-Diktatur unablässig warb. Sie drängte Studenten, die Reserveoffizierslaufbahn einzuschlagen, nachdem in den 1970er Jahren die Ableistung des Wehrdienstes Voraussetzung für die Zulassung zum Studium geworden war. Studenten hatten an Wehrübungen, Studentinnen und Theologiestudierende an Zivilverteidigungsübungen teilzunehmen. In Schulen und Betrieben wurden männliche Jugendliche angeworben und dann bevorzugt behandelt. Soldaten, ob im aktiven Dienst oder Reservisten, waren allgegenwärtig.

Gegen die Militarisierung stand vor allem der Protest der Evangelischen Kirche in der DDR. Nach der ersten Militarisierungsphase in den 1950er Jahren begann mit dem Mauerbau und der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht eine zweite, die aber nicht reibungslos erfolgte. Für die evangelischen Landeskirchen in der DDR stellte sich konkret die Frage, welche Haltung sie zur Wehrdienstverweigerung einnehmen sollten. Bisher war diese Frage nur für die westdeutschen Landeskirchen von Belang gewesen. Sie hatten sich hinter das im Grundgesetz verbürgte Recht auf Wehrdienstverweigerung gestellt. Dieses Recht musste jedoch auch für die ostdeutschen Landeskirchen gelten, da der Dachverband der Landeskirchen, die EKD, noch eine gesamtdeutsche Organisation war.

Dies kam dann auch in einem programmatischen Text der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR zur Sprache, den „Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der Kirche in der DDR“ von 1963. Hier heißt es im V. Artikel: „Die Kirche setzt sich für den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen ein, wie sie auch für ihre Glieder, die Soldaten werden, den Auftrag zur Seelsorge behält.“Dass es dagegen Widerspruch aus systemnahen Kirchenkreisen gab, muss dazu gesagt werden. Immerhin war es der SED-Diktatur gelungen, einige wenige Theologen und Pfarrer davon zu überzeugen, in staatlich gelenkten Friedensgruppen, die sich der Militarisierungspolitik verschrieben hatten, mitzuwirken. Hier spielte die inzwischen ja längst gleich geschaltete Ost-CDU auch wieder einmal ihre Rolle als Filiale der SED.

Die Wehrdienstverweigerung war dann bekanntermaßen nicht möglich, jedenfalls nicht erlaubt, und der Dienst als „Bausoldat“, also als Angehöriger von „Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung“, wie es in der 1964 herausgegebenen Anordnung hieß,war nur eine unzureichende Alternative, vor allem für Christen mit pazifistischer Einstellung. Dementsprechend regte sich auch gleich nach der Einführung des Bausoldatendienstes Kritik von kirchlicher Seite, vor allem, weil auch von den Bausoldaten unbedingter Gehorsam verlangt wurde. Eine Gewissensentscheidung wäre also im Ernstfall nicht möglich gewesen. Die Einführung eines echten Ersatzdienstes blieb weiterhin ein frommer Wunsch.

Darauf wies auch eine „Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen“ mit dem Titel „Zum Friedensdienst der Kirche“ hin, die im November 1965 mit der Zustimmung der Kirchenleitungen in der DDR erstellt wurde. Die Handreichung beharrte darauf, dass die Kirche die Aufgabe hätte, den Wehrpflichtigen bei ihrer Gewissensentscheidung beizustehen. Diese konnte auch beinhalten, dass der Wehrdienst bewusst geleistet wurde, wenn auch unter dem Vorbehalt, dass sich der Wehrpflichtige darüber klar sein müsse, „daß er als Christ in der Nationalen Volksarmee angesichts der zur Zeit üblichen Erziehung zum Haß in Situationen kommen kann, in denen er ein offenes Bekenntnis ablegen muß“.In dieser Handreichung findet sich auch eine Formel, die noch nach 1989 eine Rolle spielte, nämlich die vom „deutlicheren Zeugnis“ für das christliche Friedensgebot, das die Totalverweigerer und die Bausoldaten leisteten.In einer einseitigen und auch von dem ehemaligen Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Axel Noack, kritisierten Sichtweise wurde daraus eine Haltung, die letztlich dem ostdeutschen Protestantismus zuschrieb, er habe generell die Wehrdienstverweigerung zum besseren und die Ableistung des Wehrdienstes zum schlechteren Zeugnis erklärt.

Die Handreichung von 1965 wurde in den Landeskirchen sehr unterschiedlich verbreitet und geriet mehr oder minder in Vergessenheit, bis sie in den friedensethischen Kontroversen zu Beginn der 1980er Jahre wieder aktuell wurde.Dies verdeutlicht ein „Leitfaden zur seelsorgerlichen Beratung in Fragen des Wehrdienstes und der Wehrerziehung“ von 1982.Der Staat freilich wollte weder 1965 noch 1982 etwas von der kirchlichen Haltung in dieser Frage wissen.

Unterdessen durchlief die DDR eine dritte Militarisierungsphase, die damit zu tun hatte, dass sie sich im Laufe der 1960er Jahre als eigene Nation erfand. In der Präambel der neuen, 1968 eingeführten „sozialistischen“ Verfassung hieß es, „daß der Imperialismus unter Führung der USA im Einvernehmen mit Kreisen des westdeutschen Monopolkapitals Deutschland gespalten hat, um Westdeutschland zu einer Basis des Imperialismus und des Kampfes gegen den Sozialismus aufzubauen, was den Lebensinteressen der Nation widerspricht“. Das zwar nicht neue, aber noch entschlossener verfolgte Ziel war die Erziehung zu ideologischer Kohärenz, und die Militarisierung des Erziehungs- und Bildungswesens blieb ein wesentliches Mittel zu seiner Erreichung. Seit 1970 waren Lehrlinge gezwungen, an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen,

angehenden Studenten wurde noch einmal eingeschärft, dass die Zulassung zum Studium vom Wehrdienst abhing, und 1972 wurde das Gleiche für die Studenten an Ingenieur- und Fachschulen verfügt.

Die intensivierte Militarisierung wurde im Jahre 1978 in besonderer Weise sichtbar: Im Oktober dieses Jahres wurde ein neues Verteidigungsgesetz verabschiedet. Hier hieß es, die „Verteidigungsbereitschaft“ müsse „auf allen Gebieten des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gewährleistet“ sein (§ 1 Abs. 2 S. 2). Kurz zuvor war der Wehrunterricht in der 9. und 10. Klasse für Jungen und Mädchen als neues Schulfach eingeführt worden. Hinzu kamen ein zwölftägiges Wehrlager für die Jungen und ein gleich langes Zivilverteidigungslager für die Mädchen in der 9. Klasse – wer nicht am Wehrlager teilnehmen wollte, durfte immerhin bei den Mädchen mitmachen.Für die evangelischen Landeskirchen in der DDR stellte nicht allein der Sachverhalt, sondern auch der zeitliche Kontext einen Affront dar: Im März 1978 hatte ein „Spitzengespräch“ zwischen der Führung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR und der Staatsführung stattgefunden. Dies wurde vom Staat propagandistisch als Beleg für die Behauptung verwendet, Kirchen und Staat seien sich prinzipiell einig. Während Erich Honecker also den Frieden zwischen Staat und Kirche darstellen wollte, schuf Margot Honecker Tatsachen, die die Kirchen gerade angesichts des Spitzengesprächs in Verlegenheit brachten. Christliche Eltern wurden in schwere Gewissensnöte gestürzt, denn das Ziel war wieder einmal nicht allein Wehrertüchtigung, sondern die Erziehung zum Hass auf den „Imperialismus“. Die Kirchenleitungen sahen sich genötigt, in einer „Orientierungshilfe“ und in einem Brief an die Gemeinden Stellung zu beziehen.

Typisch war die Auskunft des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, an die Kirchenleitungen: „Das Prinzip der Freiwilligkeit sei bei der Ausbildung an Waffen gewährleistet. Es sei aber eine 100%ige Beteiligung angestrebt.“ Die Kirchenleitungen warnten dagegen: „Die frühzeitige Anerziehung militärischer Denkweise, Einstellungen und Verhaltensnormen im Schulunterricht kann dazu führen, daß die Chancen friedlicher Konfliktbeilegung in späteren Jahren gar nicht mehr wahrgenommen werden.“ Daraus folgte als konkrete Aufgabe u. a.: „Jeder Romantisierung des militärischen Lebens und der Verharmlosung der unvorstellbaren Folgen des Krieges ist zu wehren. Das hat Konsequenzen z. B. für die Auswahl des Spielzeugs und der Lektüre, die Erwachsene kaufen oder verschenken.“Dass Kinder nicht mehr mit Panzern und Gewehren spielen sollten, war im Übrigen ein systemübergreifendes Anliegen, mit dem sich die Hoffnung auf einen Beitrag zu einem Mentalitätswechsel verband. „Erziehung zum Frieden“ war dann auch ein Motto, das vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR übernommen wurde.

Kirchliche Proteste gegen den Wehrunterricht gaben auch denen eine Stimme, die ihren Protest nicht öffentlich machen wollten – die Ablehnung in der Bevölkerung ging über die Kirchen bzw. ihre Mitglieder hinaus.Diese Ablehnung war ein Zeichen dafür, dass die Differenz zwischen Friedensrhetorik und Politik deutlich wahrgenommen wurde. Noch aber konnte der Staat die Proteste ersticken– anders gesagt: Die meisten Menschen wagten den Protest nicht, passten sich an und lieferten ihre Kinder aus. Die Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen sah es in ihrem Bericht an die Synode im November 1978 so: „Es wird sich zeigen müssen, ob die Einsprüche gegen die Wehrerziehung nur das momentane Aufwallen eines kritischen Bewußtseins war, das alsbald in ein resigniertes Laufenlassen der Dinge übergeht, oder ob sich unsere Gemeinden die Aufgabe der Friedenserziehung bewußt und nachdrücklich zu eigen machen.“

Bis heute wirkt die Symbolik des Emblems „Schwerter zu Pflugscharen“ nach, das 1981 anlässlich der zweiten sogenannten Friedensdekade der evangelischen Kirchen in ganz Deutschland aufkam. Das mit einer gewissen List der Statue eines sowjetischen Künstlers entlehnte, auf einen Vers aus dem Propheten Micha zurückgehende Motto war staatlichen Stellen ein Dorn im Auge. Für Jugendliche wurde es, über ihr Friedensengagement hinaus, zum Symbol eines weiter reichenden Protestes gegen eine Diktatur, die ihnen das nehmen wollte, was eine Jugend ausmacht. Die Verfolgung dieser Jugendlichen zeigte augenfällig, welcher Art der Friede war, den die SED-Diktatur mit ihrer Parole „Der Friede muss bewaffnet sein“ propagierte. Die Friedensfrage war eben nicht nur eine außenpolitische, sondern auch eine gesellschaftspolitische, wenn sie nur mit einer Militarisierung im Innern beantwortet werden konnte. Dies war, wie man sagen muss, nicht nur ein Thema in christlichen Kreisen, sondern auch in denen der Bürgerbewegung. Dafür steht beispielhaft die „Initiative Frieden und Menschenrechte“.

Aus den seit 1980 begangenen Friedensdekaden, die jedes Jahr im November zehn Tage lang die Friedensfrage zu einem besonderen kirchlichen Thema machen sollten, entstanden dann u.a. die Leipziger Friedensgebete. Auch wenn sich die Kirchenleitungen mit dieser Bewegung nicht offen identifizierten, boten sie ihr doch Schutz und einzelnen Verfolgten Rückhalt. Was freilich über die kirchliche Mittel- und Mittlerposition hinausging, war das vom Dresdner und dann Leipziger Pfarrer Christoph Wonneberger vertretene Konzept eines „Sozialen Friedensdienstes“, der anders als der Bausoldatendienst einen echten Zivildienst darstellen sollte.

Da das Friedensthema systemübergreifend war und zu Beginn der 1980 er Jahre weite Teile der evangelischen Kirche in der Bundesrepublik beschäftigte, kamen nun die gesamtdeutschen Beziehungen des Protestantismus ins Spiel. Man hatte ein gemeinsames Thema. Die Evangelische Kirche in Deutschland, also die in dieser Zeit auf die Bundesrepublik beschränkte Dachorganisation der Evangelischen Landeskirchen, und der Bund Evangelischer Kirchen in der DDR veröffentlichten zum 40. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs ein gemeinsames „Wort zum Frieden“, das auch ein Beitrag zum Frieden sein sollte.

Und wie stand es um die Militarisierung in der Bundesrepublik? Gab es hier nicht auch Kriegsspielzeug? Kamen nicht zur Zeit der Nachrüstungsdebatte Offiziere in die Schule, um für den Wehrdienst zu werben? War nicht auch in der Bundesrepublik Wehrdienstverweigerung problematisch, und gab es nicht auch hier zu Beginn der 1980er Jahre Bestrebungen, die „Landesverteidigung“ populärer zu machen, zumal angesichts steigender Zahlen von Wehrdienstverweigerern? Sprach man nicht von einer „wehrhaften Demokratie“?

Das alles gab es, aber es war eben nur ein Teil eines sehr spannungsreichen Feldes. Je weniger Opa vom Krieg erzählte, desto weniger wurde auch das Kriegsspielzeug. Die virtuelle Aufrüstung im Kinderzimmer ist dann schon ein späteres, gesamtdeutsches Phänomen. An kritischen Lehrerinnen und Lehrern kam in den Schulen kein Offizier vorbei. Viele engagierten sich für die Wehrdienstverweigerer, und als die Landesverteidigung Thema in der Schule werden sollte, zerstritt sich die Kultusministerkonferenz zu Beginn der 1980er Jahre über diese Frage. Am Ende lagen zwei Entwürfe auf dem Tisch mit den Titeln „Friedenserziehung in der Schule“, vorgelegt von Bremen, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen, und „Bundeswehr und Friedenssicherung“, vorgelegt von den anderen Bundesländern.Das war eben der Grund, weshalb die Demokratie wehrhaft sein musste: um die Rechts- und Werteordnung des Grundgesetzes zu schützen, deren Kern die Diskursivität und Pluralität ist.

Frieden schaffen – nur mit Waffen?

Wehrerziehung und Wehrdienstverweigerung in der DDR

Johanna Geyer

1 . EINLEITUNG

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Nationalen Volksarmee (NVA) ist für mich auch eine Auseinandersetzung mit meiner Familiengeschichte: Mein Vater, Hartmut Geyer, diente in der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik als Berufssoldat, zuletzt im Range eines Majors. Er machte eine gute Karriere, wurde stetig befördert und zum Studium nach Moskau delegiert. Wir lebten in einem Wohnblock mit anderen Armeefamilien; Männer in Uniform waren in meiner Kindheit also eher die Regel als die Ausnahme.

Als mein Vater dafür unterschrieb, 25 Jahre lang in der NVA zu dienen, war er 16 Jahre alt. In diesem Alter fällt es den meisten Jugendlichen schwer, sich diese Zeitspanne auch nur vorzustellen. Die erste Frage, die ich mir gestellt habe, lautet daher: Wie hat es die DDR geschafft, dass sich junge Männer für die Armee verpflichten, ob nun für anderthalb, für drei oder eben für 25 Jahre?

Daran schließt sich die zweite grundlegende Frage dieses Beitrags an: Welche Möglichkeiten gab es für diejenigen, die den bewaffneten Dienst ablehnten? Heute ist die Alternative eines waffenlosen Ersatzdienstes in vielen Ländern mit Wehrpflicht eine gelebte Selbstverständlichkeit; wie stand es damit in der DDR? Wie ging der Staat mit denjenigen um, die sich der „Ehrenpflicht zur Verteidigung des Vaterlandes“ entziehen wollten? Was waren die Motive für die Verweigerung des Waffendienstes?

Zu all diesen Fragen habe ich meinen Vater interviewt. Seine Aussagen sind den jeweiligen Abschnitten in Kursivschrift vorangestellt. Es handelt sich selbstverständlich um eine individuelle Einzelmeinung. Ich kann weder beurteilen, ob und inwieweit sie typisch für die Ansichten von NVA-Angehörigen ist, noch kann ich ausschließen, dass die historischen Entwicklungen seit dem Jahr 1989, soziale Erwünschtheit und die Tatsache, dass das Interview von Tochter und Vater geführt wurde, zu Verzerrungen geführt haben. Es ging mir lediglich darum, den Fakten eine möglichst authentische Stimme aus dem Inneren des Systems NVA gegenüberzustellen, und das ohne jede Wertung.

Zu Beginn gehe ich der grundlegenden Frage nach, warum die DDR, die sich so gern als das bessere, friedliebende Deutschland gerierte, so stark militarisiert war. Nach einer kurzen Chronologie der Wiederbewaffnung der DDR beschäftige ich mich mit der sozialistischen Wehrerziehung, die in der DDR, überspitzt formuliert, „von der Wiege bis zur Bahre“ reichte.

Im zweiten Komplex, der sich mit dem waffenlosen Wehrersatzdienst und der Totalverweigerung befasst, wird zunächst der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Wehrdienstverweigerung dargestellt; dann werden die gesetzlichen Grundlagen des waffenlosen Wehrersatzdienstes beleuchtet und die Motive der sogenannten Bausoldaten sowie die Auswirkungen ihres Dienstes untersucht.

2 . ANTIMILITARISMUS UND ARMEE – EIN PARADOXON?

2.1  Militarisierter Sozialismus in der DDR?

Die Deutsche Demokratische Republik wird „…als eine der am stärksten militarisierten Gesellschaften der neueren Geschichte…“beschrieben. „Militarisiert“ bedeutet, dass entsprechende Prozesse oder empirisch belegbare Tendenzen vorliegen, die den ge- oder übersteigerten Stellenwert des Militärs in der Gesellschaft belegen.

In der DDR

waren sowohl der äußere wie auch der innere Sicherheitsapparat überdimensioniert;

gab es eine enge Verflechtung von Militär und Erziehungsinstitutionen; sollten möglichst alle Gesellschaftsbereiche in die militärischen und paramilitärischen Institutionen eingebunden werden, um Disziplin und soziale Kontrolle zu gewährleisten;

sollte die Hierarchisierung der Gesellschaft durch die Anwendung militärischer Strukturen und Prinzipien erreicht werden;

wurden große Anstrengungen zur militärischen Indoktrination unternommen;

wurden militärische Rituale und Tugenden in der Öffentlichkeit gepflegt.

Ein solches System existierte in allen sozialistischen Staaten; daher setzte sich in der westlichen Forschung der Begriff des „militarisierten Sozialismus“ durch. Die Militarisierung der Gesellschaft war in den einzelnen Ländern jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt.

Die DDR wies in Bezug auf die Streitkräfte und die paramilitärischen Verbände den höchsten Erfassungsgrad im gesamten Warschauer Pakt auf.Seit der Aufstellung der regulären Armee hatten rund 2,5 Millionen Wehrpflichtige bei der Volksarmee beziehungsweise bei den Grenztruppen gedient; hinzu kamen 430.000 hauptamtliche Mitarbeiter bei den bewaffneten Organen sowie die Einbindung eines erheblichen Bevölkerungsanteils in (para)militärische Verbände wie die Gesellschaft für Sport und Technik (GST), die Kampfgruppen der Arbeiterklasse, die Volkspolizeibereitschaften, die Betriebskampfgruppen, die Zivilverteidigung oder die Reservistenkollektive. In den späten 1980er Jahren betrug die Zahl der in (para)militärischen Verbänden aktiven Bürger rund 2 Millionen.

Welchen Stellenwert die DDR dem Militärbereich beimaß, lässt sich auch am Umfang der verwendeten Mittel ablesen. Die folgende Grafik bildet die absoluten Ausgaben für Militär und Sicherheitsbereiche für die DDR und – zum Vergleich – für die BRD ab:

Zuschüsse für Militär und Sicherheitsbereiche

Eigene Darstellung nach Quellen: Diedrich, Ehlert, Wenzke (1998); Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik

Diese Zahlen sind jedoch „mit Vorsicht zu genießen“. In der DDR wurden die offiziellen Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben nachweislich um 20 bis 30 Prozent zu niedrig angegeben.Die oben stehenden Angaben für die DDR decken sich mit den erhalten gebliebenen Angaben aus dem geheimen Staatshaushalt der DDR, daher können sie als belastbar angesehen werden.Für die BRD sind die Daten den Statistischen Jahrbüchern entnommen; wie genau sie sind, lässt sich ebenfalls nur schwer beurteilen.

Natürlich sind die absoluten Zahlen erst aussagekräftig, wenn sie in Beziehung zu den gesamten Ausgaben des Staates gesetzt werden. So vermittelt die oben abgebildete Grafik den Eindruck, die BRD hätte sehr viel stärker in Militär und Sicherheitsbereich investiert. In der Relation ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild: Mit der Einführung der Wehrpflicht 1964 stiegen die Verteidigungsausgaben der DDR, ab dem Ende der 1960er Jahre lagen sie im Verhältnis zu den Gesamtausgaben des Staatshaushalts höher als in der BRD, die ihr Militärbudget – nach anfänglich hohen Aufwendungen für den Aufbau der Bundeswehr – kontinuierlich senkte.

Zwar wurde auch der Verteidigungshaushalt der DDR, gemessen an den Gesamtausgaben, ab 1969 wieder kleiner, er blieb jedoch insgesamt auf einem höheren Niveau.

Anteil des Verteidigungsbudgets an Staatsausgaben in Prozent

Eigene Darstellung nach Quellen: Diedrich, Ehlert, Wenzke (1998); Statistisches Jahrbuch für die

Bundesrepublik Deutschland; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik

2.2  Parteitheoretische Begründung

Die Deutsche Demokratische Republik legte Wert auf das Image des besseren, friedliebenden Deutschlands, das im Gegensatz zur Bundesrepublik keinerlei revanchistische oder imperialistische Ziele verfolge und den Militarismus des Westens entschieden ablehne.

Angesichts dieser Selbstdarstellung erscheinen die oben präsentierten Zahlen zur Militarisierung paradox. Aus Sicht der SED existierte hier jedoch kein Widerspruch zwischen Selbstbild und Wirklichkeit. In der Parteiideologie war Militarismus als eine Herrschaftsform definiert, die zur Aufrechterhaltung und Ausweitung der Herrschaft einer reaktionären Klasse dient. Da sich die DDR als klassenlose Gesellschaft betrachtete, konnte es per definitionem keinen sozialistischen Militarismus geben.

So schrieb Erich Honecker 1957: „Im Klassencharakter des Staates liegt auch letzten Endes die ausschlaggebende Begründung dafür, ob eine militärische Organisation oder Armee ihrem Wesen nach imperialistisch ist und dadurch aggressiv ist, (…) oder ihrem Wesen nach eine Armee ist, deren Interessen mit den Zielen des Kampfes der Arbeiterklasse und der übrigen Werktätigen übereinstimmen und die damit dem Frieden und Fortschritt dient.“

Diese Argumentation liefert auch die Basis für die Aussage, Pazifisten seien Friedensfeinde. So heißt es in einer Schulungslektion der Ost-CDU zum Beginn des Studienjahres 1961/62:

„Wer in Westdeutschland Pazifist ist, leiht wenigstens nicht seinen Arm der imperialistischen Eroberung, auch wenn er ihr nicht aktiv entgegentritt; wer aber hier Pazifismus vertritt, leistet – bewußt oder unbewußt – eben diesen imperialistischen Aggressionsgelüsten Vorschub, steht objektiv auf der Seite der Kriegs-

kräfte.“

2.3  Bedrohungsperzeption

„Die NATO war für uns der Feind. Wir haben immer mit einem Angriff gerechnet. Die haben ja auch Manöver direkt an unserer Grenze durchgeführt.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Die DDR betrachtete sich als Frontstaat im Kalten Krieg, der von imperialistischen Aggressoren bedroht ist. Insbesondere wurde angenommen, „(…) daß Westdeutschland als die Hauptbasis der NATO zu einem gefährlichen Kriegsherd geworden ist, von dessen Boden aus ein Atomkrieg vorbereitet wird.“Die Befürchtung, dass die NATO eine gewaltsame Lösung der deutschen Frage plane und versuche, die Stabilität der DDR zu untergraben, wurde durch Großmanöver des Nordatlantikpaktes an der innerdeutschen Grenze gesteigert.

Der Eindruck, ein Hotspot im Kalten Krieg zu sein, wurde durch die vorgeschobene Lage an der Grenze zwischen den Blöcken verstärkt. Zusätzlich heizte die Berlin-Frage die Befürchtung an, einen feindlichen „Brückenkopf“ im eigenen Land zu haben.

In den ersten Jahren der NVA erfüllte das Militär auch die Funktion, die sozialistische Gesellschaft gegen Angriffe von innen zu schützen. Insbesondere nach den Ereignissen im Oktober 1956 in Ungarn fürchtete die

Regierung „kontrarevolutionäre Elemente“, die Unruhen in der eigenen

Bevölkerung anzetteln könnten. Mit dem 1962 ergangenen Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates, Militäreinheiten grundsätzlich nicht im Innern einzusetzen, kam man von dieser Aufgabenstellung jedoch ab.

2.4  Einfluss der Sowjetunion

Im April 1952 „empfahl“ Stalin der DDR-Führung, eine Armee von 300.000 Mann aufzubauen.Diese Entwicklung verblüfft angesichts der Tatsache, dass gut zehn Jahre zuvor eine deutsche Armee die UdSSR überfallen und unvorstellbare Gräuel und Verwüstungen angerichtet hatte. Dennoch war die Sowjetunion aus verschiedenen Gründen interessiert daran, ein eigenständiges ostdeutsches Heer aufzubauen.

Zum einen würde eine solche Armee als „Puffer“ gegen mögliche Angriffe aus dem Westen dienen, so dass die Rote Armee bei einem Überfall durch „imperialistische Aggressoren“ Unterstützung bei der Abwehr hätte und der Feind daran gehindert würde, zu schnell auf sowjetisches Territorium vorzudringen.Zum anderen sollte die ostdeutsche Armee auch nach innen die Vorherrschaft der sozialistischen Partei und damit den sowjetischen Einfluss in der Deutschen Demokratischen Republik absichern.

Dazu kam, dass die UdSSR ab der Mitte der 1950er Jahre gemäß ihrer Militärdoktrin ihre konventionellen Truppen reduzierte und die so entstandene Lücke von den Streitkräften der anderen Paktstaaten füllen ließ.

3. CHRONOLOGISCHER ABRISS DER WIEDER-

BEWAFFNUNG IN DER SBZ/DDR

Im Potsdamer Abkommen vom 02.08.1945 hatten die Siegermächte festgelegt, dass Deutschland völlig entwaffnet und entmilitarisiert werden soll. Trotzdem wurden am 24.07.1948, also noch vor der Gründung der DDR, bewaffnete Bereitschaftsverbände aufgestellt, die sogenannte Kasernierte Volkspolizei.

Am 18.01.1956 beschloss die Volkskammer das „Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung“ und schuf somit die Grundlage für den Aufbau der Armee.Diese rekrutierte sich zunächst aus Freiwilligen. Erst nach dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 – als sich die Wehrpflichtigen nicht mehr in den Westen absetzen konnten – wurde am 24.01.1962 das „Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht“ verabschiedet, mit dem ein 18-monatiger Wehrdienst eingeführt wurde. Am 07.09.1964 folgte schließlich die „Anordnung über die Aufstellung von Baueinheiten“, die den waffenlosen Wehrersatzdienst ermöglichte – eine einzigartige Regelung im Bereich des

Warschauer Paktes.

Eine letzte Reform des Wehrdienstes erfolgte mit dem am 25.03.1982 erlassenen „Gesetz über den Wehrdienst in der Deutschen Demokratischen Republik“.

4 . SOZIALISTISCHE WEHRERZIEHUNG

Da in der DDR die meisten Frauen erwerbstätig waren (1986 besuchten nahezu 80 Prozent aller Kinder zwischen ein und drei Jahren eine Kinderkrippe), wurden die Kinder bereits vor der Einschulung in staatlichen Erziehungsinstitutionen betreut und zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ erzogen.

Insbesondere unter Erich Honecker (Staatsratsvorsitzender 19761989)  wurde das System der Wehrerziehung ausgebaut und perfektioniert. Ziel der sozialistischen Wehrerziehung war es, Wehrbereitschaft und Wehrfähigkeit herzustellen. Die Wehrbereitschaft sollte durch ideologische Schulung von Kindern und Jugendlichen erreicht werden, die Wehrfähigkeit durch die Erhöhung der körperlichen Leistungskraft und die Vermittlung technischen Wissens.

4.1  Idealtypischer Ablauf

Im Folgenden ist der idealtypische Ablauf der Wehrerziehung – vom Kleinkind bis zum Berufstätigen – dargestellt, unterteilt nach den verschiedenen Erziehungsträgern und Altersgruppen. Dabei ist zu beachten, dass das System der Wehrerziehung auch Wandlungen unterworfen war und regional unterschiedlich umgesetzt wurde.

Kinderkrippe (bis 3 Jahre)

Bereits in der Kinderkrippe beginnt die sozialistische Wehrerziehung, indem den Kindern beigebracht wird, Gut und Böse zu unterscheiden. Grundmuster von Bedrohung und Schutz werden spielerisch eingeübt. Mit den ältesten Krippenkindern feiern die Erzieher den Tag der NVA.

Kindergarten (3 bis 6 Jahre)

Im Kindergarten werden traditionelle Sekundärtugenden eingeübt. Den Kindern werden Loyalität zur Heimat sowie ein positives Bild „unserer Soldaten“ vermittelt, zum Beispiel durch Kriegsspielzeug und speziell für Kinder entwickelte Medien wie die Zeitschrift „Bummi“. In der Kunsterziehung werden Militärthemen behandelt:  Es werden Volksarmisten gemalt, Bilder von Armeeangehörigen betrachtet, Lieder und Gedichte über tapfere Soldaten gelernt; Angehörige der Streitkräfte besuchen den Kindergarten.

1 . bis 4. Klasse (6 bis 10 Jahre )

Kurz nach Eintritt in die Polytechnische Oberschule (Jahrgangsstufe 1-10) erfolgt in der Regel die Aufnahme der Erstklässler in die Organisation der Jungpioniere. Hier werden Mut, körperliche Leistungsfähigkeit, Ordnungssinn und Disziplin vermittelt und mit dem Topos „Verteidigungsbereitschaft“ verbunden. Unterstützt werden diese Bemühungen bei den jüngeren Schülern durch Kindermedien wie Bummi, Frösi, ABC-Zeitung sowie Kinderfunkund fernsehen. Besuche von und bei Soldaten und Reservisten festigen die Bindung an die bewaffneten Streitkräfte. Militäraffine Strukturen werden in Schulalltag und Unterricht integriert; die Kinder begehen mit den Lehrern die „Woche der Waffenbrüderschaft“ sowie den „Tag der Nationalen Volksarmee“.

4 . bis 7. Klasse (10 bis 14 Jahre )

Ab der 4. Klasse wird die Wehrerziehung in der Schule und bei den Thälmannpionieren beziehungsweise bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) fortgesetzt. Die ideologische Ausbildung wird konkreter; das Ziel für diese Altersstufe ist es, das Klassenbewusstsein der Kinder und Jugendlichen zu schärfen und sie zu sozialistischen Patrioten und proletarischen Internationalisten zu erziehen. Neben den bisher genannten Zeitschriften und dem Jugendrundfunk werden GST-Zeitschriften genutzt, um die Inhalte möglichst jugendgerecht zu vermitteln.

Einen besonderen Höhepunkt bilden die jährlich abgehaltenen Pioniermanöver der Thälmannpioniere. Die Teilnahme ist freiwillig und bietet neben körperlichen Herausforderungen wie Ausdauerläufen und Kraftübungen auch Gelegenheit, sich im Umgang mit Kompass und Karte, im Luftgewehrschießen sowie der Entschlüsselung von Texten zu üben.

8 . bis 10. Klasse (14 bis 16 Jahre )

„Eigentlich bin ich durch die GST zum Militär gekommen. Das war gut, da konnte man seinen Lkw- und Motorradführerschein machen, und einmal im Jahr gab’s ein GST-Lager an der Ostsee. Und Technik gab’s da auch. Ich bin ja technikaffin, und beim Militär gibt‘s immer die neueste Technik. Das war auch ein Grund für mich.“ Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Zusätzlich zu den bisherigen Erziehungsinstitutionen beteiligen sich auch Betriebe, berufsbildende Schulen, Patenbrigaden, Angehörige der bewaffne ten Organe, die GST sowie der Jugendweiheausschuss an der Wehrerziehung der Jugend von 14 bis 16 Jahren. Die Inhalte haben sich gegenüber den vorherigen Klassenstufen nicht verändert; bei den unterstützenden Medien kommt noch die Zeitschrift „Wissensspeicher Wehrausbildung“ hinzu.Um die Jugend wehrsportlich zu mobilisieren, finden ab 1967 jährlich die „Hans-Beimler-Wettkämpfe“ statt. Die Teilnahme ist für alle Acht- bis Zehntklässler obligatorisch, nach 1979 nur noch für die Achtklässler. Das Programm setzt sich aus politischen Veranstaltungen, wehrsportlichen Wettkämpfen sowie aus einem Geländespiel zusammen. Zu Beginn der 1970 er Jahre kommt noch der „Marsch der Bewährung“ hinzu, bei dem die

Teilnehmer einen zehn Kilometer langen Parcours überwinden müssen.

Zu den wichtigsten Ritualen der DDR-Jugend zählt die Jugendweihe, die in der Regel mit 14 Jahren erfolgt. Die Teilnehmer werden in sogenannten Jugendstunden vorbereitet. Die NVA trägt häufig zur Ausgestaltung des Jugendweiheprogramms bei.Das Gelöbnis, das die jungen Erwachsenen im Rahmen dieses Programms ablegen, enthält ein klares Bekenntnis zur Landesverteidigung:

„Seid ihr bereit, (…) im Geiste des proletarischen Internationalismus zu kämpfen, den Frieden zu schützen und den Sozialismus gegen jeden imperialistischen

Angriff zu verteidigen, so antwortet: Ja, das geloben wir!“

Schüler und Schülerinnen der neunten und zehnten Klasse besuchen den ( seit 1978) obligatorischen Wehrkundeunterricht, der vier Doppelstunden pro Schuljahr umfasst und die sozialistische Landesverteidigung behandelt. Für die Zehntklässler gehören außerdem drei sogenannte „Tage der Wehrbereitschaft“ zum Programm.

Zusätzlich können die Jungen in der neunten Klasse freiwillig an einem zwölftägigen Wehrausbildungslager und die Mädchen an einem Lehrgang in Zivilverteidigung teilnehmen.

11 . bis 12. Klasse beziehungsweise Berufsausbildung (16 bis 18 Jahre )

Erziehungsträger sind die Erweiterte Oberschule oder die Berufsschule, die GST sowie die FDJ. Das Ziel, die jungen Menschen zu überzeugten Verteidigern der sozialistischen Ideologie zu erziehen, ist weiterhin verpflichtend. Bei den Jungen sollen die Inhalte durch die vormilitärische Ausbildung der GST vermittelt werden, bei den Mädchen durch eine freiwillige Rot-Kreuzoder GST-Ausbildung. Für die Jungen obligatorisch ist ein zweiwöchiger Ausbildungsaufenthalt in einem GST-Lager oder die Teilnahme an den „Tagen der Wehrerziehung“.

Für Schüler der 11. und 12. Klasse wird darüber hinaus ein Lehrgang „Grundfragen der Militärpolitik und des bewaffneten Schutzes der Deutschen Demokratischen Republik“ angeboten. Er soll Interessierte bestärken, einen militärischen Beruf zu ergreifen.

Wehrdienst (18 bis 20 Jahre)

Auch während des „Ehrendienstes“ wird die sozialistische Wehrerziehung durch die Kommandeure und die Politorgane der Armee sowie durch die SED-Grundorganisation und die FDJ fortgeführt, sowohl für die regulär Dienenden als auch für die Unteroffiziere auf Zeit, die sich für 36 Monate verpflichten. Das Klassenbewusstsein der Wehrdienstleistungen soll durch ideologische Schulungen geschärft werden.

Studium beziehungsweise Einstieg ins Berufsleben (20 bis 26 Jahre)

Die Betriebe, die Hoch- und Fernschulen, die SED-Grundorganisation, die Reservistenkollektive, die Kampfgruppen sowie der Freie Deutsche Gewerk schaftsbund (FDGB) haben die Aufgabe, die sozialistische Wehrerziehung weiter zu festigen. Gediente Reservisten werden während ihres Reservistendienstes geschult, ungediente Reservisten während der Reservistenqualifizierung oder der fünfwöchigen berufsspezifischen Zivilverteidigungsausbildung.

Beruf (ab 26 Jahre)

Auch für die Berufstätigen ist die sozialistische Wehrerziehung keineswegs beendet. Übernommen wird die Aufgabe nun von den jeweiligen Betrieben, von der SED-Grundorganisation, von den Reservistenkollektiven und Kampfgruppen, von der Zivilverteidigung und vom FDGB. Neben der Festigung des bisher Vermittelten geht es auch darum, Multiplikatoren für die Agitation zu werben und die Wehrbereitschaft- und fähigkeit zu erhalten. Zu diesem Zweck werden regelmäßig Reserveübungen durchgeführt. Darüber hinaus werden die Bürger in (para)militärische Organisationen integriert, beispielsweise als freiwillige Helfer im Grenzdienst oder in der Kampfgruppe. Für Paraden, Aufmärsche und Vereidigungen stellen die „Ehemaligen“ Abordnungen bereit.

4.2  Wehrbereitschaft und Bildungsweg

„Ich hab’ mich in der zehnten Klasse für 25 Jahre verpflichtet. Aus meinem Jahrgang haben alle Jungs mindestens die drei Jahre gemacht. Musste man, wenn man studieren wollte.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Eine wichtige Motivation für die Ableistung des Wehrdienstes war der Wunsch nach höherer Bildung oder – umgekehrt formuliert – die Angst, keine höhere Bildung zu erhalten, wenn man den Wehrdienst ablehnt. Leider ist in der Literatur fast ausschließlich von den Möglichkeiten eines Studiums die Rede. Informationen darüber, inwieweit sich die Wehrbereitschaft auf den Lebensweg von Lehrlingen oder Geringqualifizierten auswirkte, sind kaum vorhanden.

Vor 1962 wurden bei der Vergabe von Studienplätzen diejenigen bevorzugt, die freiwillig in der NVA oder anderen Armeeteilen gedient hatten. Nach Einführung der Wehrpflicht hatten diejenigen bessere Aussichten, die ihren Grundwehrdienst bereits geleistet hatten. Ab 1970 wurde dann ein drei- bis vierjähriger „freiwilliger“ Wehrdienst zur Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums; Studienbewerberinnen mussten während des Studiums die vormilitärische Ausbildung durchlaufen.

Wer sich als Soldat oder Unteroffizier auf drei Jahre verpflichtete, erhielt ein höheres Stipendium sowie die Sicherheit, den Wunschstudienplatz zu erhalten.

5 . WIDERSTAND DURCH WEHRDIENSTVERWEIGERUNG

5.1  Reaktionen auf die Einführung der Wehrpflicht

„Man will sich als junger Kerl ja auch beweisen. Da gibt‘s einen Ehrenkodex unter jungen Männern. ,Hast Du gedient?’

Wir waren diesem Staat dankbar. Wir hatten Frieden, gute Bildung, medizinische Versorgung. Davon konnten die Generationen vor uns nur träumen.

Man ist ein bisschen patriotisch. Die Männer dienen immer der Nation. Wenn man belobigt oder befördert wurde, hat man gesagt: ,Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik’, – das hat man nicht umsonst gesagt.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Sowohl in der DDR als auch in der BRD gab es trotz des noch nicht lange zurückliegenden Zweiten Weltkriegs eine breite Akzeptanz des Militärs als männliche Sozialisationsinstanz, die jungen Männern Ordnung und Disziplin „einimpft“ und sie zu reifen, „vollwertigen“ Männern macht.Innerhalb der Kirchen gab es zum Thema Wehrpflicht unterschiedliche Auffassungen. „Einerseits betonte der Thüringer Landesbischof Moritz Mitzenheim im Januar 1962 in einem Pfarrerrundbrief ausdrücklich, dass der Staat das Recht habe, seine Bürger zum Wehrdienst zu verpflichten. Andererseits befand der Magdeburger Bischof Johannes Jähnicke in einem Brief an die Gemeinden, dass die Verweigerung des Dienstes an der Waffe ein Teil des christlichen Friedenszeugnisses sei.“„Neben einzelnen Persönlichkeiten (…) meldeten die Evangelische Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen sowie die Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg schwere Bedenken an.“Es gab also eine kontroverse öffentliche Diskussion.

Anders bei der katholischen Kirche: Hier wurde von den Bischöfen lediglich eine Stellungnahme für den innerkirchlichen Gebrauch verfasst, die besagte, dass durch die Wehrpflicht die Religionsfreiheit nicht eingeschränkt werde und der Eid aufgrund seines fehlenden Gottesbezuges nicht in Konflikt zur katholischen Lehre stehe.

5.2  Totalverweigerung

Totalverweigerung bedeutet, dass der Betreffende sowohl den Waffendienst wie auch einen waffenlosen Wehrersatzdienst ablehnt. In der untenstehenden Grafik ist die Zahl der Totalverweigerer ab dem Geburtsjahrgang 1962 abgetragen:

Prinzipielle Wehrdienstverweigerer (nach Geburtsjahrgängen)

Eigene Darstellung, Quelle: Pausch, Andreas (2004): S. 138.

Diese Angaben stammen von Andreas Pausch; er bezieht sich auf Daten der BStU (Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik).

Bernd Eisenfeld gibt die Zahl der Totalverweigerer von der Einführung der Wehrpflicht im Januar 1962 bis zum Ende der DDR mit 6000 an. Zum Ende der 1980er Jahre stieg die Zahl der Totalverweigerer stark an, was vor allem auf Wehrpflichtige mit Ausreiseantrag zurückzuführen ist.

Die Motive für die Totalverweigerung waren meist religiöser Natur. So waren beispielsweise von den 287 Wehrdienstverweigerungen im September 1962 253 religiös begründet. Es handelte sich zum großen Teil um Zeugen Jehovas, die den Wehrdienst aus der Überzeugung heraus ablehnten, kein Teil des Staates zu sein, sowie um evangelische Christen, die den Waffendienst nicht mit ihrem Bekenntnis vereinbaren konnten.

Die Totalverweigerung bedeutete ein hohes Risiko: „Wer grundsätzlich auch den Wehrersatzdienst ablehnt, kann von der Militärjustiz mit Haft bis zu fünf Jahren bestraft werden.“Die Straftatbestände waren dabei die „(…) Verletzung der Verteidigungsfähigkeit der DDR oder der Angriff und die Verletzung der Kampfkraft der Nationalen Volksarmee (…)“In der Praxis wurden bis Mitte der 1980er Jahre für die totale Verweigerung des Wehrdienstes meist zwischen 24 und 30 Monate Gefängnis verhängt, danach waren es in der Regel 18 bis 20 Monate. Davon waren während des Bestehens der DDR rund 3000 Wehrpflichtige betroffen.Häufig wurden die Verurteilten anschließend in die Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen.

Wenn aber nur etwa die Hälfte der Totalverweigerer rechtlich belangt wurde, so hatte die andere Hälfte keine strafrechtlichen Konsequenzen zu tragen. Es gab offenbar keine einheitliche Regelung für den Umgang mit Wehrdienstverweigerern: Teilweise wurden Totalverweigerer mit allen Mitteln verfolgt, teilweise wurden sie, nachdem sie bei der Musterung ihre Verweigerung erklärt hatten, gar nicht einberufen.

Eine grundsätzliche Klärung dieser Frage zeichnete sich 1983 ab, als Erich Honecker anwies, vorerst gar keine Einberufungsbefehle an bekannte Totalverweigerer auszugeben. Der Grund dafür war der 500. Geburtstag Martin Luthers, der von der Staatsführung feierlich begangen wurde und nicht durch eine Berichterstattung über die strafrechtliche Verfolgung von Pazifisten getrübt werden sollte. Schon im folgenden Jahr war die „Schonfrist“ vorbei und die ursprüngliche Regelung wurde wieder angewandt. Nach Protesten der UNO-Menschenrechtskommission, von Bürgern und der Kirche kehrte die DDR-Führung weitgehend zur Praxis von 1983 zurück und zog nur noch in sehr wenigen Fällen namentlich bekannte Totalverweigerer ein; Zeugen Jehovas wurden von der Einberufung generell ausgenommen.

Eine besondere Form der Totalverweigerung bewirkte das 1982 verabschiedete Wehrpflichtgesetz, nach dem im Verteidigungsfall auch Frauen zum Militärdienst herangezogen werden sollten. Über 200 Frauen kündigten an, sich der Erfassung und dem Wehrdienst zu verweigern. Aus diesem

Protest entwickelte sich die Bewegung „Frauen für den Frieden“.

5.3  Waffenloser Wehrersatzdienst – die „Spatensoldaten“

„Das waren zu 70 Prozent welche, die keinen Wehrdienst leisten wollten. Die wollten nicht den harten Drill mitmachen. Die waren auch im Ansehen rangmäßig ganz unten. Selbst Soldaten im Grundwehrdienst haben die als Drückeberger verachtet.

Und wir haben ihnen nicht getraut, falls mal der Ernstfall eintritt.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Entstehungsgeschichte der Bausoldateneinheiten

Am 12.03.1962 trafen sich zwei evangelische Bischöfe, Friedrich-Wilhelm Krummacher und Moritz Mitzenheim, mit Hans Seigewasser, seines Zeichens Staatssekretär für Kirchenfragen, und Willi Stoph, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR. Besprochen wurde unter anderem die Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Obwohl die Regierungsvertreter das Ansinnen zurückwiesen, wurde zwei Jahre später, am 07.09.1964, die „Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung“ (AOBE) erlassen.

Was waren die Ursachen für diesen Sinneswandel? Zum einen ist die beständige Intervention der evangelischen Kirchen zu nennen. Da Walter Ulbricht gerade eine Entspannungspolitik gegenüber den Kirchen betrieb, schien dieses Zugeständnis der DDR-Regierung eine Möglichkeit, „demokratischen Sozialismus“ zu demonstrieren.

Zum anderen konnte die Führung mit der Bausoldatenregelung etwa die Hälfte der Verweigerungen kanalisieren und bisher „Unerreichbare“ in die militärische Disziplin einbinden. Darüber hinaus sollten zu diesem Zeitpunkt viele Militärbauten, insbesondere Flugplätze, errichtet werden.

Die genauen Entscheidungsabläufe innerhalb der SED lassen sich leider nicht mehr rekonstruieren, da das entsprechende Quellenmaterial – mitsamt Kopien – offenbar vom Ministerium für Staatssicherheit vernichtet wurde.

Struktur und Aufgaben

Es gab in der DDR verschiedene Arten des Wehrersatzdienstes, die in Artikel 25 des Wehrpflichtgesetzes aufgelistet waren: bei der Volks- oder Transportpolizei, beim Ministerium für Staatssicherheit, seit 1964 bei den Baueinheiten und ab 1978 bei der Zivilverteidigung. Die Einreihung des Dienstes bei den Baueinheiten unter die Polizei- und MfS-Dienste empfanden die Betroffenen als zynisch, da diese eine große ideologische Übereinstimmung mit dem SED-Regime voraussetzten – eine Einstellung, die ihnen fernlag.

Wer konnte nun also Bausoldat werden?

„Zum Dienst in den Baueinheiten werden solche Wehrpflichtigen herangezogen, die aus religiösen oder aus ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe ablehnen.“

AOBE Art. 4, Abs. 1

Die unscharfe Formulierung „aus ähnlichen Gründen“ ist nie genauer präzisiert worden, weshalb es beispielsweise für atheistische Pazifisten oder politische Oppositionelle schwer möglich war, sich darauf zu berufen; die Auslegung blieb damit den Behörden überlassen.Einen Rechtsanspruch auf Kriegsdienstverweigerung bedeutete dies nicht.

In Artikel 2, Absatz 1 der AOBE sind die von den Baueinheiten zu erbringenden „Arbeitsleistungen im Interesse der Deutschen Demokratischen Republik“ geregelt:

  1. Mitarbeit bei Straßen- und Verkehrsbauten sowie Ausbau von Verteidigungs- und sonstigen militärischen Anlagen;
  2. Beseitigung von Übungsschäden;
  3. Einsatz bei Katastrophen.

Abgesehen von der Ausbildung an Waffen, unterschieden sich die Ausbildungsaufgaben der Bausoldaten nach Artikel 6 der AOBE nicht von denen regulärer Soldaten.

Offizielle Ausgestaltung des Bausoldatendienstes

Zahlreiche Dienstvorschriften, Anordnungen und Durchführungsbestimmungen regelten die Ausgestaltung des Bausoldatendienstes. So geht aus der Durchführungsbestimmung zu DV 10/12b u. DV 66/8; Ausbildungsprogramm, Abschnitt „Allgemeines Ausbildungsziel“, Ziffer 1f deutlich hervor, dass die Baueinheiten aus Sicht des Militärs Straf- und Erziehungsbataillonen gleichkamen. Ausbildungsziel sei es (…),

„die Angehörigen der Baueinheiten (…) zu erziehen: – zur Ergebenheit gegenüber der DDR, dem einzig rechtmäßigen deutschen Staat, zur SED und zu ihrem Gelöbnis“, und zwar durch „(…) zielstrebige Durchsetzung einer straffen Disziplin und Ordnung im gesamten Erziehungs-, Ausbildungs- und Arbeitsprozess; (…) straffe, organisierte und ununterbrochene Leitung der Arbeitseinsätze und der Ausbildung durch die Kommandeure; (…) und Nichtzulassen von Erleichterungen und Schablonen in der Ausbildung.“

Der Dienst der Bausoldaten dauerte – genau wie der reguläre Wehrdienst – 18 Monate. Mindestens ein Drittel der Ausbildung musste politisch-ideologischer Natur sein; Bausoldaten waren von bestimmten Belobigungsarten wie dem Fotografieren vor der Gruppenfahne ausgeschlossen; sie durften nicht in andere Mannschaftsdienstgrade befördert werden. Ihre Vorgesetzten waren reguläre Soldaten und (Unter-)Offiziere.

Die Baueinheiten legten keinen Fahneneid ab, sondern ein Gelöbnis, das allerdings viele von ihnen in Gewissensnöte brachte, denn es verlangte, zur Verteidigungsleistung der NVA und der verbündeten Staaten beizutragen, unbedingten Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten zu leisten und die militärischen Bestimmungen zu befolgen.Die Verweigerung des Gelöbnisses zog Haftstrafen bis zu sieben Monaten nach sich.

Inoffizielle Ausgestaltung des Bausoldatendienstes

In der Praxis wurde es den Bausoldaten schwer gemacht, ihren Dienst abzuleisten. So wurden sie generell möglichst heimatfern eingesetzt, damit die Heimfahrt beim Wochenendurlaub möglichst lange dauerte. Bausoldaten durften während des Ausgangs keine Zivilkleidung tragen; der Ausgang wurde ihnen häufig nur als Belohnung für besondere Arbeitsleistungen gewährt und wurde oft kurzfristig gestrichen. Jegliche religiöse Betätigung wurde geahndet; der gruppenweise Ausgang zum Sonntagsgottesdienst war nur in Einzelfällen gestattet.

Die Isolation vom gewohnten sozialen Umfeld traf die Bausoldaten umso härter, da sie meist älter waren als andere Wehrpflichtige. Das Durchschnittsalter lag häufig zwischen 23 und 28 Jahren. Dies lag einerseits am 18-monatigen Einberufungszyklus und dem hohen „Überhang“ von erklärten Wehrdienstverweigerern, für die die Planstellen nicht ausreichten; andererseits darf dahinter auch Kalkül vermutet werden, denn die Betroffenen hatten häufig schon Frau und Kinder und waren beruflich fest verankert, so dass die Ableistung des Dienstes für sie eine tiefe Zäsur in ihrem Leben bedeutete.

Zudem fiel es den „gestandenen“ Männern schwerer, sich der Disziplin und den Befehlen der Vorgesetzten zu unterwerfen.Zusätzlich erschwert wurde die Situation dadurch, dass die Bausoldaten von den regulären Wehrdienstleistungen isoliert und von Vorgesetzten gelegentlich als „Kriminelle“ und „Homosexuelle“ diffamiert wurden.

Auch auf den weiteren Lebensweg, insbesondere auf die Bildungsmöglichkeiten, hatte die Entscheidung für den waffenlosen Wehrersatzdienst Auswirkungen: „Entgegen einer Darstellung des SED-Generalsekretärs Erich Honecker, wonach Bausoldaten alle Bildungswege in der DDR offenstehen, sind bis Ende 1988 Fälle aktenkundig, in denen erklärte oder gediente Bausoldaten beim Zugang zu Hoch- und Fachhochschulstudium, Facharztausbildung bzw. berufsspezifischer Qualifikation behindert worden sind.“Es sind sogar Berufsverbote und -einschränkungen bekannt; grundsätzlich konnten sich die Bausoldaten nie sicher sein, ob sie nach Ableistung ihres Dienstes noch studieren oder ihren Wunschberuf ausüben konnten.

Motive für die Ableistung des waffenlosen Wehrersatzdienstes

Wenn die Bedingungen für Bausoldaten so schlecht waren, warum meldeten sich die jungen Männer dafür?

Die Motive waren religiöser, politisch-oppositioneller oder pazifistischer Natur und unterlagen einem Wandel. Von 1964 bis Mitte der 1970er Jahre waren religiöse Motive vorherrschend. Insgesamt waren über 90 Prozent der Bausoldaten konfessionell gebunden, zwei Drittel davon waren evangelische Christen, ein Drittel setzte sich aus Mitgliedern der Freikirchen, Siebenten-Tags-Adventisten, Katholiken und zu einem sehr geringen Teil aus Zeugen Jehovas zusammen.

Ab Mitte der 1970er bis in die 1980er Jahre verringerte sich der Anteil religiös motivierter Bausoldaten. 1973 waren noch 74 Prozent der waffenlosen Wehrdienstleistenden konfessionell gebunden, 1979 waren es 20 Pro zent. Rund die Hälfte der Bausoldaten hatte nun politische Gründe für die Waffendienstverweigerung. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Friedensbewegungen der 1980er Jahre wie „Schwerter zu Pflugscharen“ auch von nichtreligiösen Jugendlichen unterstützt wurden; zudem stieg die Zahl derjenigen, die einen Ausreiseantrag stellten und damit deutlich zu verstehen gaben, dass sie mit der politischen Situation unzufrieden waren. Laut einer Einschätzung der Evangelischen Kirchen waren 1988 und 1989 die Hälfte der Bausoldaten Ausreiseantragsteller.

Schließlich erhöhte sich auch der Anteil „unangepasster“ Gruppen bei den Bausoldaten, etwa Punks oder auch Skinheads und Neonazis, die aus antikommunistischen Motiven heraus den Bausoldatendienst wählten.Anteil der Bausoldaten an der wehrpflichtigen Bevölkerung

Wie die nachstehende Grafik zeigt, handelt es sich bei den Bausoldaten um eine verschwindend geringe Minderheit:

Zum Dienst als Bausoldat erklärte Wehrpflichtige ( nach Geburtsjahrgängen )

Eigene Darstellung, Quelle: Pausch, Andreas (2004): S. 138.

Die Musterungskommissionen ermittelten, dass „(…) in den Jahren 1964 bis 1975 durchschnittlich 0,2% der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1957 den Dienst ohne Waffe leisten wollten (…). In den Jahren 1976 bis 1983 (Geburtsjahrgänge 1958 bis 1965) wuchsen sowohl die Jahrgangsstärken (…) als auch die Anträge auf den Dienst ohne Waffe (0,3%…). Ab 1984 nahm die Prozentzahl bei schwindenden Jahrgangsstärken (…) jährlich stetig zu bis auf schließlich 1,4 Prozent (…)“

Bernd Eisenfeld gibt an, es hätten sich in 25 Jahren rund 27.000 junge Männer für den Bausoldatendienst gemeldet, von denen jedoch nur 15.000 als Bausoldaten eingezogen wurden.Das ergibt für die gesamte Zeit, in der die Wehrpflicht in der DDR galt, einen 0,6-prozentigen Anteil von Bausoldaten an allen Wehrdienstleistenden.

Widerständiges Verhalten von Bausoldaten

„Die haben genervt, sich über alles und jeden beschwert. Die konnten die Vorschriften besser auswendig als jeder andere Soldat. Und der Politoffizier musste erst mal die Bibel lesen, damit er mit denen diskutieren konnte.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Bei widerständigem Verhalten von Bausoldaten handelte es sich meist um offene Systemkritik, überwiegend in Form von Eingaben und Beschwerden.Tatsächlich machten Bausoldaten überproportional häufig Eingaben.Hauptkritikpunkte waren die Beteiligung am Bau militärischer Anlagen so wie das Gelöbnis.Auch die Beteiligung an politischen Diskussionen sowie der Boykott von Wahlen beziehungsweise die Abgabe von Neinstimmen zur Einheitsliste gehörten zum Widerstandsrepertoire der Bausoldaten.Als extremste Form des Widerstands wurden Arbeits- und Befehlsverweigerungen mit Disziplinarstrafen oder sogar mit Haft im Militärgefängnis bestraft.

6 . FAZIT

Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf die beiden einleitenden Fragen zurückkommen: Wie hat es die DDR geschafft, dass sich junge Männer für die Armee verpflichteten, ob nun für anderthalb, für drei oder eben für 25  Jahre?

Die Antwort darauf lautet: Mit Zuckerbrot und Peitsche. Das DDRRegime gerierte sich als das friedlichere Deutschland und vermittelte seinen Bürgern schon ab der Kinderkrippe ein Weltbild, in dem der eigene Staat als bedroht dargestellt und die Notwendigkeit der Verteidigung großgeschrieben wurde.

Neben der staatlichen institutionellen Erziehung boten Pionierorganisation und GST vielfältige, attraktive Freizeitaktivitäten, die en passant eine vormilitärische und ideologische Ausbildung vermittelten. Denjenigen, die sich freiwillig zu einem drei- oder vierjährigen Wehrdienst verpflichteten, wurden zudem bessere Bildungsmöglichkeiten und damit eine größere Chance auf eine gute Karriere in Aussicht gestellt.

Die andere Seite der Medaille ist die – mal mehr, mal weniger konsequent durchgeführte – Praxis, „Abweichler“ auszugrenzen und zu bestrafen, indem man ihnen den Zugang zu Bildungsangeboten erschwerte und sie im Extremfall kriminalisierte.

Viele sahen den Wehrdienst allerdings als etwas Normales an, als etwas, „durch das ein Mann eben durch muss“. Doch was war mit jenen, die anders dachten? Welche Möglichkeiten gab es für diejenigen, die den bewaffneten Dienst ablehnten?

Es gab zum einen die Möglichkeit, den Wehrdienst komplett zu verweigern – und dann die Konsequenzen zu tragen. Das Regime ging keineswegs einheitlich mit Totalverweigerern um; die Unsicherheit über die Folgen der eigenen Entscheidung war für die Betroffenen enorm, da von der Nichteinberufung bis zu Gefängnis und Abschiebung alles möglich war.

Für alle, die den Wehrdienst nicht komplett verweigern konnten oder wollten, lautete die Alternative: Dienst bei den Baueinheiten. Diese Möglichkeit gab es im Warschauer Pakt nur in der DDR; es bestand allerdings kein Rechtsanspruch darauf und der Dienst wurde – entgegen der offiziellen Linie – so ausgestaltet, dass er möglichst unangenehm war: von der späten Einberufung über restriktive Urlaubs- und Ausgangsregelungen bis zum Verbot religiöser Betätigung in der Kaserne. Auch hier waren die Auswirkungen auf das spätere Leben, auf Studium und/oder Beruf kaum abzusehen, da die Entscheidungen des Regimes uneinheitlich und damit willkürlich getroffen wurden.

1 . EINLEITUNG

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Nationalen Volksarmee (NVA) ist für mich auch eine Auseinandersetzung mit meiner Familiengeschichte: Mein Vater, Hartmut Geyer, diente in der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik als Berufssoldat, zuletzt im Range eines Majors. Er machte eine gute Karriere, wurde stetig befördert und zum Studium nach Moskau delegiert. Wir lebten in einem Wohnblock mit anderen Armeefamilien; Männer in Uniform waren in meiner Kindheit also eher die Regel als die Ausnahme.

Als mein Vater dafür unterschrieb, 25 Jahre lang in der NVA zu dienen, war er 16 Jahre alt. In diesem Alter fällt es den meisten Jugendlichen schwer, sich diese Zeitspanne auch nur vorzustellen. Die erste Frage, die ich mir gestellt habe, lautet daher: Wie hat es die DDR geschafft, dass sich junge Männer für die Armee verpflichten, ob nun für anderthalb, für drei oder eben für 25 Jahre?

Daran schließt sich die zweite grundlegende Frage dieses Beitrags an: Welche Möglichkeiten gab es für diejenigen, die den bewaffneten Dienst ablehnten? Heute ist die Alternative eines waffenlosen Ersatzdienstes in vielen Ländern mit Wehrpflicht eine gelebte Selbstverständlichkeit; wie stand es damit in der DDR? Wie ging der Staat mit denjenigen um, die sich der „Ehrenpflicht zur Verteidigung des Vaterlandes“ entziehen wollten? Was waren die Motive für die Verweigerung des Waffendienstes?

Zu all diesen Fragen habe ich meinen Vater interviewt. Seine Aussagen sind den jeweiligen Abschnitten in Kursivschrift vorangestellt. Es handelt sich selbstverständlich um eine individuelle Einzelmeinung. Ich kann weder beurteilen, ob und inwieweit sie typisch für die Ansichten von NVA-Angehörigen ist, noch kann ich ausschließen, dass die historischen Entwicklungen seit dem Jahr 1989, soziale Erwünschtheit und die Tatsache, dass das Interview von Tochter und Vater geführt wurde, zu Verzerrungen geführt haben. Es ging mir lediglich darum, den Fakten eine möglichst authentische Stimme aus dem Inneren des Systems NVA gegenüberzustellen, und das ohne jede Wertung.

Zu Beginn gehe ich der grundlegenden Frage nach, warum die DDR, die sich so gern als das bessere, friedliebende Deutschland gerierte, so stark militarisiert war. Nach einer kurzen Chronologie der Wiederbewaffnung der DDR beschäftige ich mich mit der sozialistischen Wehrerziehung, die in der DDR, überspitzt formuliert, „von der Wiege bis zur Bahre“ reichte.

Im zweiten Komplex, der sich mit dem waffenlosen Wehrersatzdienst und der Totalverweigerung befasst, wird zunächst der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Wehrdienstverweigerung dargestellt; dann werden die gesetzlichen Grundlagen des waffenlosen Wehrersatzdienstes beleuchtet und die Motive der sogenannten Bausoldaten sowie die Auswirkungen ihres Dienstes untersucht.

2 . ANTIMILITARISMUS UND ARMEE – EIN PARADOXON?

2.1  Militarisierter Sozialismus in der DDR?

Die Deutsche Demokratische Republik wird „…als eine der am stärksten militarisierten Gesellschaften der neueren Geschichte…“beschrieben. „Militarisiert“ bedeutet, dass entsprechende Prozesse oder empirisch belegbare Tendenzen vorliegen, die den ge- oder übersteigerten Stellenwert des Militärs in der Gesellschaft belegen.

In der DDR

waren sowohl der äußere wie auch der innere Sicherheitsapparat überdimensioniert;

gab es eine enge Verflechtung von Militär und Erziehungsinstitutionen; sollten möglichst alle Gesellschaftsbereiche in die militärischen und paramilitärischen Institutionen eingebunden werden, um Disziplin und soziale Kontrolle zu gewährleisten;

sollte die Hierarchisierung der Gesellschaft durch die Anwendung militärischer Strukturen und Prinzipien erreicht werden;

wurden große Anstrengungen zur militärischen Indoktrination unternommen;

wurden militärische Rituale und Tugenden in der Öffentlichkeit gepflegt.

Ein solches System existierte in allen sozialistischen Staaten; daher setzte sich in der westlichen Forschung der Begriff des „militarisierten Sozialismus“ durch. Die Militarisierung der Gesellschaft war in den einzelnen Ländern jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt.

Die DDR wies in Bezug auf die Streitkräfte und die paramilitärischen Verbände den höchsten Erfassungsgrad im gesamten Warschauer Pakt auf.Seit der Aufstellung der regulären Armee hatten rund 2,5 Millionen Wehrpflichtige bei der Volksarmee beziehungsweise bei den Grenztruppen gedient; hinzu kamen 430.000 hauptamtliche Mitarbeiter bei den bewaffneten Organen sowie die Einbindung eines erheblichen Bevölkerungsanteils in (para)militärische Verbände wie die Gesellschaft für Sport und Technik (GST), die Kampfgruppen der Arbeiterklasse, die Volkspolizeibereitschaften, die Betriebskampfgruppen, die Zivilverteidigung oder die Reservistenkollektive. In den späten 1980er Jahren betrug die Zahl der in (para)militärischen Verbänden aktiven Bürger rund 2 Millionen.

Welchen Stellenwert die DDR dem Militärbereich beimaß, lässt sich auch am Umfang der verwendeten Mittel ablesen. Die folgende Grafik bildet die absoluten Ausgaben für Militär und Sicherheitsbereiche für die DDR und – zum Vergleich – für die BRD ab:

Zuschüsse für Militär und Sicherheitsbereiche

Eigene Darstellung nach Quellen: Diedrich, Ehlert, Wenzke (1998); Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik

Diese Zahlen sind jedoch „mit Vorsicht zu genießen“. In der DDR wurden die offiziellen Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben nachweislich um 20 bis 30 Prozent zu niedrig angegeben.Die oben stehenden Angaben für die DDR decken sich mit den erhalten gebliebenen Angaben aus dem geheimen Staatshaushalt der DDR, daher können sie als belastbar angesehen werden.Für die BRD sind die Daten den Statistischen Jahrbüchern entnommen; wie genau sie sind, lässt sich ebenfalls nur schwer beurteilen.

Natürlich sind die absoluten Zahlen erst aussagekräftig, wenn sie in Beziehung zu den gesamten Ausgaben des Staates gesetzt werden. So vermittelt die oben abgebildete Grafik den Eindruck, die BRD hätte sehr viel stärker in Militär und Sicherheitsbereich investiert. In der Relation ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild: Mit der Einführung der Wehrpflicht 1964 stiegen die Verteidigungsausgaben der DDR, ab dem Ende der 1960er Jahre lagen sie im Verhältnis zu den Gesamtausgaben des Staatshaushalts höher als in der BRD, die ihr Militärbudget – nach anfänglich hohen Aufwendungen für den Aufbau der Bundeswehr – kontinuierlich senkte.

Zwar wurde auch der Verteidigungshaushalt der DDR, gemessen an den Gesamtausgaben, ab 1969 wieder kleiner, er blieb jedoch insgesamt auf einem höheren Niveau.

Anteil des Verteidigungsbudgets an Staatsausgaben in Prozent

Eigene Darstellung nach Quellen: Diedrich, Ehlert, Wenzke (1998); Statistisches Jahrbuch für die

Bundesrepublik Deutschland; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik

2.2  Parteitheoretische Begründung

Die Deutsche Demokratische Republik legte Wert auf das Image des besseren, friedliebenden Deutschlands, das im Gegensatz zur Bundesrepublik keinerlei revanchistische oder imperialistische Ziele verfolge und den Militarismus des Westens entschieden ablehne.

Angesichts dieser Selbstdarstellung erscheinen die oben präsentierten Zahlen zur Militarisierung paradox. Aus Sicht der SED existierte hier jedoch kein Widerspruch zwischen Selbstbild und Wirklichkeit. In der Parteiideologie war Militarismus als eine Herrschaftsform definiert, die zur Aufrechterhaltung und Ausweitung der Herrschaft einer reaktionären Klasse dient. Da sich die DDR als klassenlose Gesellschaft betrachtete, konnte es per definitionem keinen sozialistischen Militarismus geben.

So schrieb Erich Honecker 1957: „Im Klassencharakter des Staates liegt auch letzten Endes die ausschlaggebende Begründung dafür, ob eine militärische Organisation oder Armee ihrem Wesen nach imperialistisch ist und dadurch aggressiv ist, (…) oder ihrem Wesen nach eine Armee ist, deren Interessen mit den Zielen des Kampfes der Arbeiterklasse und der übrigen Werktätigen übereinstimmen und die damit dem Frieden und Fortschritt dient.“

Diese Argumentation liefert auch die Basis für die Aussage, Pazifisten seien Friedensfeinde. So heißt es in einer Schulungslektion der Ost-CDU zum Beginn des Studienjahres 1961/62:

„Wer in Westdeutschland Pazifist ist, leiht wenigstens nicht seinen Arm der imperialistischen Eroberung, auch wenn er ihr nicht aktiv entgegentritt; wer aber hier Pazifismus vertritt, leistet – bewußt oder unbewußt – eben diesen imperialistischen Aggressionsgelüsten Vorschub, steht objektiv auf der Seite der Kriegs-

kräfte.“

2.3  Bedrohungsperzeption

„Die NATO war für uns der Feind. Wir haben immer mit einem Angriff gerechnet. Die haben ja auch Manöver direkt an unserer Grenze durchgeführt.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Die DDR betrachtete sich als Frontstaat im Kalten Krieg, der von imperialistischen Aggressoren bedroht ist. Insbesondere wurde angenommen, „(…) daß Westdeutschland als die Hauptbasis der NATO zu einem gefährlichen Kriegsherd geworden ist, von dessen Boden aus ein Atomkrieg vorbereitet wird.“Die Befürchtung, dass die NATO eine gewaltsame Lösung der deutschen Frage plane und versuche, die Stabilität der DDR zu untergraben, wurde durch Großmanöver des Nordatlantikpaktes an der innerdeutschen Grenze gesteigert.

Der Eindruck, ein Hotspot im Kalten Krieg zu sein, wurde durch die vorgeschobene Lage an der Grenze zwischen den Blöcken verstärkt. Zusätzlich heizte die Berlin-Frage die Befürchtung an, einen feindlichen „Brückenkopf“ im eigenen Land zu haben.

In den ersten Jahren der NVA erfüllte das Militär auch die Funktion, die sozialistische Gesellschaft gegen Angriffe von innen zu schützen. Insbesondere nach den Ereignissen im Oktober 1956 in Ungarn fürchtete die

Regierung „kontrarevolutionäre Elemente“, die Unruhen in der eigenen

Bevölkerung anzetteln könnten. Mit dem 1962 ergangenen Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates, Militäreinheiten grundsätzlich nicht im Innern einzusetzen, kam man von dieser Aufgabenstellung jedoch ab.

2.4  Einfluss der Sowjetunion

Im April 1952 „empfahl“ Stalin der DDR-Führung, eine Armee von 300.000 Mann aufzubauen.Diese Entwicklung verblüfft angesichts der Tatsache, dass gut zehn Jahre zuvor eine deutsche Armee die UdSSR überfallen und unvorstellbare Gräuel und Verwüstungen angerichtet hatte. Dennoch war die Sowjetunion aus verschiedenen Gründen interessiert daran, ein eigenständiges ostdeutsches Heer aufzubauen.

Zum einen würde eine solche Armee als „Puffer“ gegen mögliche Angriffe aus dem Westen dienen, so dass die Rote Armee bei einem Überfall durch „imperialistische Aggressoren“ Unterstützung bei der Abwehr hätte und der Feind daran gehindert würde, zu schnell auf sowjetisches Territorium vorzudringen.Zum anderen sollte die ostdeutsche Armee auch nach innen die Vorherrschaft der sozialistischen Partei und damit den sowjetischen Einfluss in der Deutschen Demokratischen Republik absichern.

Dazu kam, dass die UdSSR ab der Mitte der 1950er Jahre gemäß ihrer Militärdoktrin ihre konventionellen Truppen reduzierte und die so entstandene Lücke von den Streitkräften der anderen Paktstaaten füllen ließ.

3. CHRONOLOGISCHER ABRISS DER WIEDER-

BEWAFFNUNG IN DER SBZ/DDR

Im Potsdamer Abkommen vom 02.08.1945 hatten die Siegermächte festgelegt, dass Deutschland völlig entwaffnet und entmilitarisiert werden soll. Trotzdem wurden am 24.07.1948, also noch vor der Gründung der DDR, bewaffnete Bereitschaftsverbände aufgestellt, die sogenannte Kasernierte Volkspolizei.

Am 18.01.1956 beschloss die Volkskammer das „Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung“ und schuf somit die Grundlage für den Aufbau der Armee.Diese rekrutierte sich zunächst aus Freiwilligen. Erst nach dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 – als sich die Wehrpflichtigen nicht mehr in den Westen absetzen konnten – wurde am 24.01.1962 das „Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht“ verabschiedet, mit dem ein 18-monatiger Wehrdienst eingeführt wurde. Am 07.09.1964 folgte schließlich die „Anordnung über die Aufstellung von Baueinheiten“, die den waffenlosen Wehrersatzdienst ermöglichte – eine einzigartige Regelung im Bereich des

Warschauer Paktes.

Eine letzte Reform des Wehrdienstes erfolgte mit dem am 25.03.1982 erlassenen „Gesetz über den Wehrdienst in der Deutschen Demokratischen Republik“.

4 . SOZIALISTISCHE WEHRERZIEHUNG

Da in der DDR die meisten Frauen erwerbstätig waren (1986 besuchten nahezu 80 Prozent aller Kinder zwischen ein und drei Jahren eine Kinderkrippe), wurden die Kinder bereits vor der Einschulung in staatlichen Erziehungsinstitutionen betreut und zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ erzogen.

Insbesondere unter Erich Honecker (Staatsratsvorsitzender 19761989)  wurde das System der Wehrerziehung ausgebaut und perfektioniert. Ziel der sozialistischen Wehrerziehung war es, Wehrbereitschaft und Wehrfähigkeit herzustellen. Die Wehrbereitschaft sollte durch ideologische Schulung von Kindern und Jugendlichen erreicht werden, die Wehrfähigkeit durch die Erhöhung der körperlichen Leistungskraft und die Vermittlung technischen Wissens.

4.1  Idealtypischer Ablauf

Im Folgenden ist der idealtypische Ablauf der Wehrerziehung – vom Kleinkind bis zum Berufstätigen – dargestellt, unterteilt nach den verschiedenen Erziehungsträgern und Altersgruppen. Dabei ist zu beachten, dass das System der Wehrerziehung auch Wandlungen unterworfen war und regional unterschiedlich umgesetzt wurde.

Kinderkrippe (bis 3 Jahre)

Bereits in der Kinderkrippe beginnt die sozialistische Wehrerziehung, indem den Kindern beigebracht wird, Gut und Böse zu unterscheiden. Grundmuster von Bedrohung und Schutz werden spielerisch eingeübt. Mit den ältesten Krippenkindern feiern die Erzieher den Tag der NVA.

Kindergarten (3 bis 6 Jahre)

Im Kindergarten werden traditionelle Sekundärtugenden eingeübt. Den Kindern werden Loyalität zur Heimat sowie ein positives Bild „unserer Soldaten“ vermittelt, zum Beispiel durch Kriegsspielzeug und speziell für Kinder entwickelte Medien wie die Zeitschrift „Bummi“. In der Kunsterziehung werden Militärthemen behandelt:  Es werden Volksarmisten gemalt, Bilder von Armeeangehörigen betrachtet, Lieder und Gedichte über tapfere Soldaten gelernt; Angehörige der Streitkräfte besuchen den Kindergarten.

1 . bis 4. Klasse (6 bis 10 Jahre )

Kurz nach Eintritt in die Polytechnische Oberschule (Jahrgangsstufe 1-10) erfolgt in der Regel die Aufnahme der Erstklässler in die Organisation der Jungpioniere. Hier werden Mut, körperliche Leistungsfähigkeit, Ordnungssinn und Disziplin vermittelt und mit dem Topos „Verteidigungsbereitschaft“ verbunden. Unterstützt werden diese Bemühungen bei den jüngeren Schülern durch Kindermedien wie Bummi, Frösi, ABC-Zeitung sowie Kinderfunkund fernsehen. Besuche von und bei Soldaten und Reservisten festigen die Bindung an die bewaffneten Streitkräfte. Militäraffine Strukturen werden in Schulalltag und Unterricht integriert; die Kinder begehen mit den Lehrern die „Woche der Waffenbrüderschaft“ sowie den „Tag der Nationalen Volksarmee“.

4 . bis 7. Klasse (10 bis 14 Jahre )

Ab der 4. Klasse wird die Wehrerziehung in der Schule und bei den Thälmannpionieren beziehungsweise bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) fortgesetzt. Die ideologische Ausbildung wird konkreter; das Ziel für diese Altersstufe ist es, das Klassenbewusstsein der Kinder und Jugendlichen zu schärfen und sie zu sozialistischen Patrioten und proletarischen Internationalisten zu erziehen. Neben den bisher genannten Zeitschriften und dem Jugendrundfunk werden GST-Zeitschriften genutzt, um die Inhalte möglichst jugendgerecht zu vermitteln.

Einen besonderen Höhepunkt bilden die jährlich abgehaltenen Pioniermanöver der Thälmannpioniere. Die Teilnahme ist freiwillig und bietet neben körperlichen Herausforderungen wie Ausdauerläufen und Kraftübungen auch Gelegenheit, sich im Umgang mit Kompass und Karte, im Luftgewehrschießen sowie der Entschlüsselung von Texten zu üben.

8 . bis 10. Klasse (14 bis 16 Jahre )

„Eigentlich bin ich durch die GST zum Militär gekommen. Das war gut, da konnte man seinen Lkw- und Motorradführerschein machen, und einmal im Jahr gab’s ein GST-Lager an der Ostsee. Und Technik gab’s da auch. Ich bin ja technikaffin, und beim Militär gibt‘s immer die neueste Technik. Das war auch ein Grund für mich.“ Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Zusätzlich zu den bisherigen Erziehungsinstitutionen beteiligen sich auch Betriebe, berufsbildende Schulen, Patenbrigaden, Angehörige der bewaffne ten Organe, die GST sowie der Jugendweiheausschuss an der Wehrerziehung der Jugend von 14 bis 16 Jahren. Die Inhalte haben sich gegenüber den vorherigen Klassenstufen nicht verändert; bei den unterstützenden Medien kommt noch die Zeitschrift „Wissensspeicher Wehrausbildung“ hinzu.Um die Jugend wehrsportlich zu mobilisieren, finden ab 1967 jährlich die „Hans-Beimler-Wettkämpfe“ statt. Die Teilnahme ist für alle Acht- bis Zehntklässler obligatorisch, nach 1979 nur noch für die Achtklässler. Das Programm setzt sich aus politischen Veranstaltungen, wehrsportlichen Wettkämpfen sowie aus einem Geländespiel zusammen. Zu Beginn der 1970 er Jahre kommt noch der „Marsch der Bewährung“ hinzu, bei dem die

Teilnehmer einen zehn Kilometer langen Parcours überwinden müssen.

Zu den wichtigsten Ritualen der DDR-Jugend zählt die Jugendweihe, die in der Regel mit 14 Jahren erfolgt. Die Teilnehmer werden in sogenannten Jugendstunden vorbereitet. Die NVA trägt häufig zur Ausgestaltung des Jugendweiheprogramms bei.Das Gelöbnis, das die jungen Erwachsenen im Rahmen dieses Programms ablegen, enthält ein klares Bekenntnis zur Landesverteidigung:

„Seid ihr bereit, (…) im Geiste des proletarischen Internationalismus zu kämpfen, den Frieden zu schützen und den Sozialismus gegen jeden imperialistischen

Angriff zu verteidigen, so antwortet: Ja, das geloben wir!“

Schüler und Schülerinnen der neunten und zehnten Klasse besuchen den ( seit 1978) obligatorischen Wehrkundeunterricht, der vier Doppelstunden pro Schuljahr umfasst und die sozialistische Landesverteidigung behandelt. Für die Zehntklässler gehören außerdem drei sogenannte „Tage der Wehrbereitschaft“ zum Programm.

Zusätzlich können die Jungen in der neunten Klasse freiwillig an einem zwölftägigen Wehrausbildungslager und die Mädchen an einem Lehrgang in Zivilverteidigung teilnehmen.

11 . bis 12. Klasse beziehungsweise Berufsausbildung (16 bis 18 Jahre )

Erziehungsträger sind die Erweiterte Oberschule oder die Berufsschule, die GST sowie die FDJ. Das Ziel, die jungen Menschen zu überzeugten Verteidigern der sozialistischen Ideologie zu erziehen, ist weiterhin verpflichtend. Bei den Jungen sollen die Inhalte durch die vormilitärische Ausbildung der GST vermittelt werden, bei den Mädchen durch eine freiwillige Rot-Kreuzoder GST-Ausbildung. Für die Jungen obligatorisch ist ein zweiwöchiger Ausbildungsaufenthalt in einem GST-Lager oder die Teilnahme an den „Tagen der Wehrerziehung“.

Für Schüler der 11. und 12. Klasse wird darüber hinaus ein Lehrgang „Grundfragen der Militärpolitik und des bewaffneten Schutzes der Deutschen Demokratischen Republik“ angeboten. Er soll Interessierte bestärken, einen militärischen Beruf zu ergreifen.

Wehrdienst (18 bis 20 Jahre)

Auch während des „Ehrendienstes“ wird die sozialistische Wehrerziehung durch die Kommandeure und die Politorgane der Armee sowie durch die SED-Grundorganisation und die FDJ fortgeführt, sowohl für die regulär Dienenden als auch für die Unteroffiziere auf Zeit, die sich für 36 Monate verpflichten. Das Klassenbewusstsein der Wehrdienstleistungen soll durch ideologische Schulungen geschärft werden.

Studium beziehungsweise Einstieg ins Berufsleben (20 bis 26 Jahre)

Die Betriebe, die Hoch- und Fernschulen, die SED-Grundorganisation, die Reservistenkollektive, die Kampfgruppen sowie der Freie Deutsche Gewerk schaftsbund (FDGB) haben die Aufgabe, die sozialistische Wehrerziehung weiter zu festigen. Gediente Reservisten werden während ihres Reservistendienstes geschult, ungediente Reservisten während der Reservistenqualifizierung oder der fünfwöchigen berufsspezifischen Zivilverteidigungsausbildung.

Beruf (ab 26 Jahre)

Auch für die Berufstätigen ist die sozialistische Wehrerziehung keineswegs beendet. Übernommen wird die Aufgabe nun von den jeweiligen Betrieben, von der SED-Grundorganisation, von den Reservistenkollektiven und Kampfgruppen, von der Zivilverteidigung und vom FDGB. Neben der Festigung des bisher Vermittelten geht es auch darum, Multiplikatoren für die Agitation zu werben und die Wehrbereitschaft- und fähigkeit zu erhalten. Zu diesem Zweck werden regelmäßig Reserveübungen durchgeführt. Darüber hinaus werden die Bürger in (para)militärische Organisationen integriert, beispielsweise als freiwillige Helfer im Grenzdienst oder in der Kampfgruppe. Für Paraden, Aufmärsche und Vereidigungen stellen die „Ehemaligen“ Abordnungen bereit.

4.2  Wehrbereitschaft und Bildungsweg

„Ich hab’ mich in der zehnten Klasse für 25 Jahre verpflichtet. Aus meinem Jahrgang haben alle Jungs mindestens die drei Jahre gemacht. Musste man, wenn man studieren wollte.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Eine wichtige Motivation für die Ableistung des Wehrdienstes war der Wunsch nach höherer Bildung oder – umgekehrt formuliert – die Angst, keine höhere Bildung zu erhalten, wenn man den Wehrdienst ablehnt. Leider ist in der Literatur fast ausschließlich von den Möglichkeiten eines Studiums die Rede. Informationen darüber, inwieweit sich die Wehrbereitschaft auf den Lebensweg von Lehrlingen oder Geringqualifizierten auswirkte, sind kaum vorhanden.

Vor 1962 wurden bei der Vergabe von Studienplätzen diejenigen bevorzugt, die freiwillig in der NVA oder anderen Armeeteilen gedient hatten. Nach Einführung der Wehrpflicht hatten diejenigen bessere Aussichten, die ihren Grundwehrdienst bereits geleistet hatten. Ab 1970 wurde dann ein drei- bis vierjähriger „freiwilliger“ Wehrdienst zur Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums; Studienbewerberinnen mussten während des Studiums die vormilitärische Ausbildung durchlaufen.

Wer sich als Soldat oder Unteroffizier auf drei Jahre verpflichtete, erhielt ein höheres Stipendium sowie die Sicherheit, den Wunschstudienplatz zu erhalten.

5 . WIDERSTAND DURCH WEHRDIENSTVERWEIGERUNG

5.1  Reaktionen auf die Einführung der Wehrpflicht

„Man will sich als junger Kerl ja auch beweisen. Da gibt‘s einen Ehrenkodex unter jungen Männern. ,Hast Du gedient?’

Wir waren diesem Staat dankbar. Wir hatten Frieden, gute Bildung, medizinische Versorgung. Davon konnten die Generationen vor uns nur träumen.

Man ist ein bisschen patriotisch. Die Männer dienen immer der Nation. Wenn man belobigt oder befördert wurde, hat man gesagt: ,Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik’, – das hat man nicht umsonst gesagt.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Sowohl in der DDR als auch in der BRD gab es trotz des noch nicht lange zurückliegenden Zweiten Weltkriegs eine breite Akzeptanz des Militärs als männliche Sozialisationsinstanz, die jungen Männern Ordnung und Disziplin „einimpft“ und sie zu reifen, „vollwertigen“ Männern macht.Innerhalb der Kirchen gab es zum Thema Wehrpflicht unterschiedliche Auffassungen. „Einerseits betonte der Thüringer Landesbischof Moritz Mitzenheim im Januar 1962 in einem Pfarrerrundbrief ausdrücklich, dass der Staat das Recht habe, seine Bürger zum Wehrdienst zu verpflichten. Andererseits befand der Magdeburger Bischof Johannes Jähnicke in einem Brief an die Gemeinden, dass die Verweigerung des Dienstes an der Waffe ein Teil des christlichen Friedenszeugnisses sei.“„Neben einzelnen Persönlichkeiten (…) meldeten die Evangelische Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen sowie die Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg schwere Bedenken an.“Es gab also eine kontroverse öffentliche Diskussion.

Anders bei der katholischen Kirche: Hier wurde von den Bischöfen lediglich eine Stellungnahme für den innerkirchlichen Gebrauch verfasst, die besagte, dass durch die Wehrpflicht die Religionsfreiheit nicht eingeschränkt werde und der Eid aufgrund seines fehlenden Gottesbezuges nicht in Konflikt zur katholischen Lehre stehe.

5.2  Totalverweigerung

Totalverweigerung bedeutet, dass der Betreffende sowohl den Waffendienst wie auch einen waffenlosen Wehrersatzdienst ablehnt. In der untenstehenden Grafik ist die Zahl der Totalverweigerer ab dem Geburtsjahrgang 1962 abgetragen:

Prinzipielle Wehrdienstverweigerer (nach Geburtsjahrgängen)

Eigene Darstellung, Quelle: Pausch, Andreas (2004): S. 138.

Diese Angaben stammen von Andreas Pausch; er bezieht sich auf Daten der BStU (Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik).

Bernd Eisenfeld gibt die Zahl der Totalverweigerer von der Einführung der Wehrpflicht im Januar 1962 bis zum Ende der DDR mit 6000 an. Zum Ende der 1980er Jahre stieg die Zahl der Totalverweigerer stark an, was vor allem auf Wehrpflichtige mit Ausreiseantrag zurückzuführen ist.

Die Motive für die Totalverweigerung waren meist religiöser Natur. So waren beispielsweise von den 287 Wehrdienstverweigerungen im September 1962 253 religiös begründet. Es handelte sich zum großen Teil um Zeugen Jehovas, die den Wehrdienst aus der Überzeugung heraus ablehnten, kein Teil des Staates zu sein, sowie um evangelische Christen, die den Waffendienst nicht mit ihrem Bekenntnis vereinbaren konnten.

Die Totalverweigerung bedeutete ein hohes Risiko: „Wer grundsätzlich auch den Wehrersatzdienst ablehnt, kann von der Militärjustiz mit Haft bis zu fünf Jahren bestraft werden.“Die Straftatbestände waren dabei die „(…) Verletzung der Verteidigungsfähigkeit der DDR oder der Angriff und die Verletzung der Kampfkraft der Nationalen Volksarmee (…)“In der Praxis wurden bis Mitte der 1980er Jahre für die totale Verweigerung des Wehrdienstes meist zwischen 24 und 30 Monate Gefängnis verhängt, danach waren es in der Regel 18 bis 20 Monate. Davon waren während des Bestehens der DDR rund 3000 Wehrpflichtige betroffen.Häufig wurden die Verurteilten anschließend in die Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen.

Wenn aber nur etwa die Hälfte der Totalverweigerer rechtlich belangt wurde, so hatte die andere Hälfte keine strafrechtlichen Konsequenzen zu tragen. Es gab offenbar keine einheitliche Regelung für den Umgang mit Wehrdienstverweigerern: Teilweise wurden Totalverweigerer mit allen Mitteln verfolgt, teilweise wurden sie, nachdem sie bei der Musterung ihre Verweigerung erklärt hatten, gar nicht einberufen.

Eine grundsätzliche Klärung dieser Frage zeichnete sich 1983 ab, als Erich Honecker anwies, vorerst gar keine Einberufungsbefehle an bekannte Totalverweigerer auszugeben. Der Grund dafür war der 500. Geburtstag Martin Luthers, der von der Staatsführung feierlich begangen wurde und nicht durch eine Berichterstattung über die strafrechtliche Verfolgung von Pazifisten getrübt werden sollte. Schon im folgenden Jahr war die „Schonfrist“ vorbei und die ursprüngliche Regelung wurde wieder angewandt. Nach Protesten der UNO-Menschenrechtskommission, von Bürgern und der Kirche kehrte die DDR-Führung weitgehend zur Praxis von 1983 zurück und zog nur noch in sehr wenigen Fällen namentlich bekannte Totalverweigerer ein; Zeugen Jehovas wurden von der Einberufung generell ausgenommen.

Eine besondere Form der Totalverweigerung bewirkte das 1982 verabschiedete Wehrpflichtgesetz, nach dem im Verteidigungsfall auch Frauen zum Militärdienst herangezogen werden sollten. Über 200 Frauen kündigten an, sich der Erfassung und dem Wehrdienst zu verweigern. Aus diesem

Protest entwickelte sich die Bewegung „Frauen für den Frieden“.

5.3  Waffenloser Wehrersatzdienst – die „Spatensoldaten“

„Das waren zu 70 Prozent welche, die keinen Wehrdienst leisten wollten. Die wollten nicht den harten Drill mitmachen. Die waren auch im Ansehen rangmäßig ganz unten. Selbst Soldaten im Grundwehrdienst haben die als Drückeberger verachtet.

Und wir haben ihnen nicht getraut, falls mal der Ernstfall eintritt.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Entstehungsgeschichte der Bausoldateneinheiten

Am 12.03.1962 trafen sich zwei evangelische Bischöfe, Friedrich-Wilhelm Krummacher und Moritz Mitzenheim, mit Hans Seigewasser, seines Zeichens Staatssekretär für Kirchenfragen, und Willi Stoph, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR. Besprochen wurde unter anderem die Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Obwohl die Regierungsvertreter das Ansinnen zurückwiesen, wurde zwei Jahre später, am 07.09.1964, die „Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung“ (AOBE) erlassen.

Was waren die Ursachen für diesen Sinneswandel? Zum einen ist die beständige Intervention der evangelischen Kirchen zu nennen. Da Walter Ulbricht gerade eine Entspannungspolitik gegenüber den Kirchen betrieb, schien dieses Zugeständnis der DDR-Regierung eine Möglichkeit, „demokratischen Sozialismus“ zu demonstrieren.

Zum anderen konnte die Führung mit der Bausoldatenregelung etwa die Hälfte der Verweigerungen kanalisieren und bisher „Unerreichbare“ in die militärische Disziplin einbinden. Darüber hinaus sollten zu diesem Zeitpunkt viele Militärbauten, insbesondere Flugplätze, errichtet werden.

Die genauen Entscheidungsabläufe innerhalb der SED lassen sich leider nicht mehr rekonstruieren, da das entsprechende Quellenmaterial – mitsamt Kopien – offenbar vom Ministerium für Staatssicherheit vernichtet wurde.

Struktur und Aufgaben

Es gab in der DDR verschiedene Arten des Wehrersatzdienstes, die in Artikel 25 des Wehrpflichtgesetzes aufgelistet waren: bei der Volks- oder Transportpolizei, beim Ministerium für Staatssicherheit, seit 1964 bei den Baueinheiten und ab 1978 bei der Zivilverteidigung. Die Einreihung des Dienstes bei den Baueinheiten unter die Polizei- und MfS-Dienste empfanden die Betroffenen als zynisch, da diese eine große ideologische Übereinstimmung mit dem SED-Regime voraussetzten – eine Einstellung, die ihnen fernlag.

Wer konnte nun also Bausoldat werden?

„Zum Dienst in den Baueinheiten werden solche Wehrpflichtigen herangezogen, die aus religiösen oder aus ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe ablehnen.“

AOBE Art. 4, Abs. 1

Die unscharfe Formulierung „aus ähnlichen Gründen“ ist nie genauer präzisiert worden, weshalb es beispielsweise für atheistische Pazifisten oder politische Oppositionelle schwer möglich war, sich darauf zu berufen; die Auslegung blieb damit den Behörden überlassen.Einen Rechtsanspruch auf Kriegsdienstverweigerung bedeutete dies nicht.

In Artikel 2, Absatz 1 der AOBE sind die von den Baueinheiten zu erbringenden „Arbeitsleistungen im Interesse der Deutschen Demokratischen Republik“ geregelt:

  1. Mitarbeit bei Straßen- und Verkehrsbauten sowie Ausbau von Verteidigungs- und sonstigen militärischen Anlagen;
  2. Beseitigung von Übungsschäden;
  3. Einsatz bei Katastrophen.

Abgesehen von der Ausbildung an Waffen, unterschieden sich die Ausbildungsaufgaben der Bausoldaten nach Artikel 6 der AOBE nicht von denen regulärer Soldaten.

Offizielle Ausgestaltung des Bausoldatendienstes

Zahlreiche Dienstvorschriften, Anordnungen und Durchführungsbestimmungen regelten die Ausgestaltung des Bausoldatendienstes. So geht aus der Durchführungsbestimmung zu DV 10/12b u. DV 66/8; Ausbildungsprogramm, Abschnitt „Allgemeines Ausbildungsziel“, Ziffer 1f deutlich hervor, dass die Baueinheiten aus Sicht des Militärs Straf- und Erziehungsbataillonen gleichkamen. Ausbildungsziel sei es (…),

„die Angehörigen der Baueinheiten (…) zu erziehen: – zur Ergebenheit gegenüber der DDR, dem einzig rechtmäßigen deutschen Staat, zur SED und zu ihrem Gelöbnis“, und zwar durch „(…) zielstrebige Durchsetzung einer straffen Disziplin und Ordnung im gesamten Erziehungs-, Ausbildungs- und Arbeitsprozess; (…) straffe, organisierte und ununterbrochene Leitung der Arbeitseinsätze und der Ausbildung durch die Kommandeure; (…) und Nichtzulassen von Erleichterungen und Schablonen in der Ausbildung.“

Der Dienst der Bausoldaten dauerte – genau wie der reguläre Wehrdienst – 18 Monate. Mindestens ein Drittel der Ausbildung musste politisch-ideologischer Natur sein; Bausoldaten waren von bestimmten Belobigungsarten wie dem Fotografieren vor der Gruppenfahne ausgeschlossen; sie durften nicht in andere Mannschaftsdienstgrade befördert werden. Ihre Vorgesetzten waren reguläre Soldaten und (Unter-)Offiziere.

Die Baueinheiten legten keinen Fahneneid ab, sondern ein Gelöbnis, das allerdings viele von ihnen in Gewissensnöte brachte, denn es verlangte, zur Verteidigungsleistung der NVA und der verbündeten Staaten beizutragen, unbedingten Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten zu leisten und die militärischen Bestimmungen zu befolgen.Die Verweigerung des Gelöbnisses zog Haftstrafen bis zu sieben Monaten nach sich.

Inoffizielle Ausgestaltung des Bausoldatendienstes

In der Praxis wurde es den Bausoldaten schwer gemacht, ihren Dienst abzuleisten. So wurden sie generell möglichst heimatfern eingesetzt, damit die Heimfahrt beim Wochenendurlaub möglichst lange dauerte. Bausoldaten durften während des Ausgangs keine Zivilkleidung tragen; der Ausgang wurde ihnen häufig nur als Belohnung für besondere Arbeitsleistungen gewährt und wurde oft kurzfristig gestrichen. Jegliche religiöse Betätigung wurde geahndet; der gruppenweise Ausgang zum Sonntagsgottesdienst war nur in Einzelfällen gestattet.

Die Isolation vom gewohnten sozialen Umfeld traf die Bausoldaten umso härter, da sie meist älter waren als andere Wehrpflichtige. Das Durchschnittsalter lag häufig zwischen 23 und 28 Jahren. Dies lag einerseits am 18-monatigen Einberufungszyklus und dem hohen „Überhang“ von erklärten Wehrdienstverweigerern, für die die Planstellen nicht ausreichten; andererseits darf dahinter auch Kalkül vermutet werden, denn die Betroffenen hatten häufig schon Frau und Kinder und waren beruflich fest verankert, so dass die Ableistung des Dienstes für sie eine tiefe Zäsur in ihrem Leben bedeutete.

Zudem fiel es den „gestandenen“ Männern schwerer, sich der Disziplin und den Befehlen der Vorgesetzten zu unterwerfen.Zusätzlich erschwert wurde die Situation dadurch, dass die Bausoldaten von den regulären Wehrdienstleistungen isoliert und von Vorgesetzten gelegentlich als „Kriminelle“ und „Homosexuelle“ diffamiert wurden.

Auch auf den weiteren Lebensweg, insbesondere auf die Bildungsmöglichkeiten, hatte die Entscheidung für den waffenlosen Wehrersatzdienst Auswirkungen: „Entgegen einer Darstellung des SED-Generalsekretärs Erich Honecker, wonach Bausoldaten alle Bildungswege in der DDR offenstehen, sind bis Ende 1988 Fälle aktenkundig, in denen erklärte oder gediente Bausoldaten beim Zugang zu Hoch- und Fachhochschulstudium, Facharztausbildung bzw. berufsspezifischer Qualifikation behindert worden sind.“Es sind sogar Berufsverbote und -einschränkungen bekannt; grundsätzlich konnten sich die Bausoldaten nie sicher sein, ob sie nach Ableistung ihres Dienstes noch studieren oder ihren Wunschberuf ausüben konnten.

Motive für die Ableistung des waffenlosen Wehrersatzdienstes

Wenn die Bedingungen für Bausoldaten so schlecht waren, warum meldeten sich die jungen Männer dafür?

Die Motive waren religiöser, politisch-oppositioneller oder pazifistischer Natur und unterlagen einem Wandel. Von 1964 bis Mitte der 1970er Jahre waren religiöse Motive vorherrschend. Insgesamt waren über 90 Prozent der Bausoldaten konfessionell gebunden, zwei Drittel davon waren evangelische Christen, ein Drittel setzte sich aus Mitgliedern der Freikirchen, Siebenten-Tags-Adventisten, Katholiken und zu einem sehr geringen Teil aus Zeugen Jehovas zusammen.

Ab Mitte der 1970er bis in die 1980er Jahre verringerte sich der Anteil religiös motivierter Bausoldaten. 1973 waren noch 74 Prozent der waffenlosen Wehrdienstleistenden konfessionell gebunden, 1979 waren es 20 Pro zent. Rund die Hälfte der Bausoldaten hatte nun politische Gründe für die Waffendienstverweigerung. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Friedensbewegungen der 1980er Jahre wie „Schwerter zu Pflugscharen“ auch von nichtreligiösen Jugendlichen unterstützt wurden; zudem stieg die Zahl derjenigen, die einen Ausreiseantrag stellten und damit deutlich zu verstehen gaben, dass sie mit der politischen Situation unzufrieden waren. Laut einer Einschätzung der Evangelischen Kirchen waren 1988 und 1989 die Hälfte der Bausoldaten Ausreiseantragsteller.

Schließlich erhöhte sich auch der Anteil „unangepasster“ Gruppen bei den Bausoldaten, etwa Punks oder auch Skinheads und Neonazis, die aus antikommunistischen Motiven heraus den Bausoldatendienst wählten.Anteil der Bausoldaten an der wehrpflichtigen Bevölkerung

Wie die nachstehende Grafik zeigt, handelt es sich bei den Bausoldaten um eine verschwindend geringe Minderheit:

Zum Dienst als Bausoldat erklärte Wehrpflichtige ( nach Geburtsjahrgängen )

Eigene Darstellung, Quelle: Pausch, Andreas (2004): S. 138.

Die Musterungskommissionen ermittelten, dass „(…) in den Jahren 1964 bis 1975 durchschnittlich 0,2% der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1957 den Dienst ohne Waffe leisten wollten (…). In den Jahren 1976 bis 1983 (Geburtsjahrgänge 1958 bis 1965) wuchsen sowohl die Jahrgangsstärken (…) als auch die Anträge auf den Dienst ohne Waffe (0,3%…). Ab 1984 nahm die Prozentzahl bei schwindenden Jahrgangsstärken (…) jährlich stetig zu bis auf schließlich 1,4 Prozent (…)“

Bernd Eisenfeld gibt an, es hätten sich in 25 Jahren rund 27.000 junge Männer für den Bausoldatendienst gemeldet, von denen jedoch nur 15.000 als Bausoldaten eingezogen wurden.Das ergibt für die gesamte Zeit, in der die Wehrpflicht in der DDR galt, einen 0,6-prozentigen Anteil von Bausoldaten an allen Wehrdienstleistenden.

Widerständiges Verhalten von Bausoldaten

„Die haben genervt, sich über alles und jeden beschwert. Die konnten die Vorschriften besser auswendig als jeder andere Soldat. Und der Politoffizier musste erst mal die Bibel lesen, damit er mit denen diskutieren konnte.“

Hartmut Geyer, Major der NVA a.D.

Bei widerständigem Verhalten von Bausoldaten handelte es sich meist um offene Systemkritik, überwiegend in Form von Eingaben und Beschwerden.Tatsächlich machten Bausoldaten überproportional häufig Eingaben.Hauptkritikpunkte waren die Beteiligung am Bau militärischer Anlagen so wie das Gelöbnis.Auch die Beteiligung an politischen Diskussionen sowie der Boykott von Wahlen beziehungsweise die Abgabe von Neinstimmen zur Einheitsliste gehörten zum Widerstandsrepertoire der Bausoldaten.Als extremste Form des Widerstands wurden Arbeits- und Befehlsverweigerungen mit Disziplinarstrafen oder sogar mit Haft im Militärgefängnis bestraft.

6 . FAZIT

Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf die beiden einleitenden Fragen zurückkommen: Wie hat es die DDR geschafft, dass sich junge Männer für die Armee verpflichteten, ob nun für anderthalb, für drei oder eben für 25  Jahre?

Die Antwort darauf lautet: Mit Zuckerbrot und Peitsche. Das DDRRegime gerierte sich als das friedlichere Deutschland und vermittelte seinen Bürgern schon ab der Kinderkrippe ein Weltbild, in dem der eigene Staat als bedroht dargestellt und die Notwendigkeit der Verteidigung großgeschrieben wurde.

Neben der staatlichen institutionellen Erziehung boten Pionierorganisation und GST vielfältige, attraktive Freizeitaktivitäten, die en passant eine vormilitärische und ideologische Ausbildung vermittelten. Denjenigen, die sich freiwillig zu einem drei- oder vierjährigen Wehrdienst verpflichteten, wurden zudem bessere Bildungsmöglichkeiten und damit eine größere Chance auf eine gute Karriere in Aussicht gestellt.

Die andere Seite der Medaille ist die – mal mehr, mal weniger konsequent durchgeführte – Praxis, „Abweichler“ auszugrenzen und zu bestrafen, indem man ihnen den Zugang zu Bildungsangeboten erschwerte und sie im Extremfall kriminalisierte.

Viele sahen den Wehrdienst allerdings als etwas Normales an, als etwas, „durch das ein Mann eben durch muss“. Doch was war mit jenen, die anders dachten? Welche Möglichkeiten gab es für diejenigen, die den bewaffneten Dienst ablehnten?

Es gab zum einen die Möglichkeit, den Wehrdienst komplett zu verweigern – und dann die Konsequenzen zu tragen. Das Regime ging keineswegs einheitlich mit Totalverweigerern um; die Unsicherheit über die Folgen der eigenen Entscheidung war für die Betroffenen enorm, da von der Nichteinberufung bis zu Gefängnis und Abschiebung alles möglich war.

Für alle, die den Wehrdienst nicht komplett verweigern konnten oder wollten, lautete die Alternative: Dienst bei den Baueinheiten. Diese Möglichkeit gab es im Warschauer Pakt nur in der DDR; es bestand allerdings kein Rechtsanspruch darauf und der Dienst wurde – entgegen der offiziellen Linie – so ausgestaltet, dass er möglichst unangenehm war: von der späten Einberufung über restriktive Urlaubs- und Ausgangsregelungen bis zum Verbot religiöser Betätigung in der Kaserne. Auch hier waren die Auswirkungen auf das spätere Leben, auf Studium und/oder Beruf kaum abzusehen, da die Entscheidungen des Regimes uneinheitlich und damit willkürlich getroffen wurden.

Ablehnung der Reserveoffiziersausbildung versus vollständige Anpassung

Roman Schulz

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist für mich eine große Ehre, im Rahmen der Belter-Dialoge als Plattform für Zivilcourage und Widerstand zu sprechen. Erwarten Sie jedoch von mir keinen wissenschaftlichen Vortrag und keine Forschungs- oder Studien ergebnisse. Es wird eher eine sehr persönliche Einlassung in diese Tagung sein. Ich lebte in der DDR weder im Widerstand noch empfand ich es damals als große Zivilcourage, was wir taten oder nicht taten.

Mein Respekt gilt den Opfern, die wirklich gelitten haben, sei es durch Gefängnis, zugefügte Schikanen, Überwachung und Bespitzelung, Exmatrikulation oder die Verweigerung eines Studienplatzes: sie verdienen Anerkennung und Dank. Wer noch bis Mitte der 80er Jahre an einer Universität in der DDR zu Ende studiert hat, war kein wirkliches Opfer!

Was ich Ihnen erzählen kann, handelt zum Teil vom studentischen Alltag in den 70er und 80er Jahren in der ehemaligen DDR. Es sind kleine Episoden. Sie beschreiben banale und leicht aufmüpfige Ereignisse, die zumindest einer vollständigen Anpassung entgegenstanden.

Ich war und bin nicht nostalgisch, ich bin mehr als froh, dass seit 1989/90  eine neue Zeit angebrochen ist. Im Frühjahr 2009 habe ich unter dem Titel „Zwischen Hörsaal 13 und Moritzbastei“ einige biografische sowie studentische Erlebnisse veröffentlicht, die mehrheitlich vom damaligen Leben in Beziehung zur Universität Leipzig berichten. Ich möchte keine Werbung für mein Buch machen, aber der Einfachheit halber komme ich auf einige Auszüge zurück und werde einzelne Passagen einfügen.

Und noch ein Aspekt erscheint mir betonenswert und sei hier genannt. Man konnte sich auch in der DDR immer „relativ anständig und selbstehrlich“ verhalten. Man musste nicht spitzeln und denunzieren! Man musste nicht in die SED eintreten und man musste auch nicht den letzten ideologischen Quatsch mitmachen. Die Freiheit für sich zu entscheiden, wie weit man bereit war, sich mit einer Diktatur einzulassen, konnte sich jeder Mensch selbst nehmen. Das heißt, auch der Grad der Anpassung – ich rede hier noch nicht einmal von Verweigerung oder konsequenter Ablehnung – war gleichfalls selbstbestimmt. Der Preis dafür war übrigens überschaubar und akzeptabel: man lebte ohne große Karriere. Ich hatte vor Jahren Einblicke in Stasiakten von Kommilitonen, die auf übelste und mieseste Weise – ihrer Karriere wegen – für die Stasi gespitzelt hatten. Andere verleugneten lautstark und demonstrativ ihre zum Teil christlichen Elternhäuser für wenige Schritte mehr auf der Karriereleiter. Das war, einfach gesagt, charakterlich widerlich.

Und möglicherweise hatten wir in dieser Phase der DDR einfach Glück. Die Gründe für Repressalien waren vielfältig, aber nicht selten Bagatellen und eigentlich häufig Belanglosigkeiten. In den 80er Jahren konnte vermutlich die DDR-Überwachung nicht mehr jede Kleinigkeit verfolgen wie noch in den stalinistischen 50er und 60er Jahren.

Ich möchte mich dem Thema über Umwege nähern, um auch ein Gefühl für die Zeit zu transportieren. Wenn für Sie scheinbar kein Zusammenhang sichtbar wird, dann wundern Sie sich bitte nicht, biografische Verläufe sind naturgemäß oft verwoben.

Bevor ich wirklich zum Thema komme, noch eine erste Episode zu dem Ort, an dem wir heute sind. Vor 32 Jahren war ich schon einmal hier, genau in diesem wunderbaren Senatssaal.

Buchausschnitt: Der Senatssaal ( S.  114)

Anfang der achtziger Jahre hatte ich den Senatssaal in der Ritterstraße zum ersten Mal betreten. Irgendwann in den ersten Semestern wurden die Studenten zu einem Arbeitseinsatz innerhalb der Universität gerufen. Er stand in keiner Verbindung zur wissenschaftlichen Ausbildung und hatte auch keinen politischen Hintergrund, vielmehr leisteten die Studenten von der Küche über Reparaturarbeiten bis hin zu Wachdiensten Dienst an der Allgemeinheit. Eine sinnvolle Aktion, denn warum sollten die Studenten nicht einen kleinen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten?

Mit meiner Einteilung zum Wachdienst an der Pforte im alten Senatsbereich in der Ritterstraße zog ich einen der Hauptgewinne. Die Zeit von 16.00 bis 22.00 Uhr hätte ich problemlos verschlafen können, denn spätestens ab 17.00 Uhr war das Gebäude menschenleer. Gegen 20.00 Uhr ein Hausrundgang, Kontrolle ob sich die Fenster sowie bestimmte Zwischen türen im verschlossen Zustand befanden und zurück in die Pforte. Ein kurzer Vermerk im Kontrollbuch, das war’s. Anrufe gingen in den Wochen keine zehn ein. Warten bis 22.00 Uhr, Lichter aus, Haupttür zu, Tagewerk geschafft. Ich genoss die Ruhe und mit Büchern ausgerüstet, konnte man für vergangene oder kommende Semester die Lektürelisten abarbeiten. Und für den Fall, dass noch eine nächtliche Unternehmung auf dem Programm stand, half dann doch ein Stündchen Schlaf.

Der alte Senatssaal faszinierte mich schon damals. Mit seinem glänzenden Parkett, den samtbezogenen Lehnstühlen und dem großen Kristall leuchter unterschied er sich völlig vom Hörsaalgebäude. So setzte ich mich nicht selten, wenn ich sicher war, dass der letzte Mitarbeiter das Haus verlassen und ich die schweren Vorhänge zugezogen hatte, zum Lesen mit meiner Lektüre direkt in diesen Saal. Unbeschreiblich, wie die Örtlichkeit dieses Saales das Gelesene wirken ließ. Dieser Luxus war einmalig.

Den Anfang nahm die Geschichte mit dem Ende meiner Schulzeit. Ich bekam 1976 wegen meines eher undisziplinierten Verhaltens und fehlenden politischen Engagements keine Zulassung zur damaligen Erweiterten Oberschule. Die Zulassung für eine Berufsausbildung mit Abitur konnte jedoch über einige Nebenwege erreicht werden. Die so eigentlich nicht geplante Berufsausbildung als Buchbinder (1976–1979) sollte sich schon kurze Zeit später als Glücksumstand erweisen, denn der erlernte Beruf gab mir enorme persönliche Sicherheit. Nach besagter Ausbildung hätte ich gern Medizin studiert – das war mein einziger Studienwunsch –, aber es wurde Lehramt.

Buchausschnitt: Immatrikulation 1981 (S. 21-24)

Zurück aus dem Ernteeinsatz, folgte der ersten kollektivbildenden Maßnahme, Kollektiv und Maßnahme, zwei zwischenzeitlich fast vergessene typische Begriffe, Anfang Oktober der feierliche Höhepunkt, die festliche Immatrikulation im Gewandhaus zu Leipzig. Ein unglaubliches Gefühl erfüllte das Haus. Da saßen über 1500 junge Menschen im Großen Saal und wussten eigentlich nicht im Detail, was kommen würde, aber irgendwie fühlten sich die meisten nun endgültig der Schulzeit entkommen und endlich, obwohl noch keine Vorlesung gehört, in die Reihen der zukünftigen Intelligenz aufgenommen. Man spürte sprichwörtlich das Funkeln der Augen und die Neugier auf Kommendes in den Köpfen.

Mir erging es nicht anders. Man saß herrlich in den weinroten Sitzen, aus der in die Rückenlehnen integrierten Klimaanlage, Hightech in der DDR, strömte ein angenehmer Luftzug und von der Saalempore eröffnete sich ein fürstlicher Ausblick. Für kurze Zeit gingen mir, obwohl mit 21 Jahren wahrlich nicht im Alter für eine Lebensrückschau, einzelne Stationen des Weges bis in die Universität durch den Kopf.

„Geschafft, du hast es tatsächlich an die Uni geschafft, wenn die dich hier alle sehen könnten“, ohne Partei, ohne FDJ-Arbeit, um die sich meine Klassenlehrer zur Disziplinierung an der Polytechnischen Oberschule so bemüht hatten, zum Kassierer der Beiträge für ein Jahr reichte es mit der Konsequenz, dass eine Wiederwahl ausblieb. Eine Delegierung zur Erweiterten Oberschule erübrigte sich durch mein leider nicht gänzlich tadelloses Verhalten und Ablehnung sämtlicher militärischer Berufsvarianten. Der Umweg über die Berufsausbildung als Buchbinder mit Abitur dauerte nur ein Jahr, stellte aber eine sehr hilfreiche Lebenserfahrung dar. Eigene Einblicke in die volkseigene Produktion und praktische Arbeit mit den Werktätigen erweiterten den Horizont und verschafften Bodenhaftung.

Medizin wollte ich eigentlich und ernsthaft studieren. Da jedoch an der Kommunalen Berufsschule Biologie bis zum Abitur nicht angeboten wurde, musste ich den Kurs zusätzlich an der Volkshochschule im Abendprogramm absolvieren, um die Zulassungskonditionen zu erlangen. Dann, Anfang 1979, traf mich der erste Tiefschlag: Ablehnung des Studienwunsches Medizin mit der Begründung zu schlechte Leistungen in den Fächern Staatsbürgerkunde und Russisch. So war das also, nicht dass ich mich nicht ernsthaft bemüht hätte, das Abitur im Fach Biologie zusätzlich zu absolvieren und man das als Motivation hätte bewerten können. Nein, für eine Arztausbildung in der DDR zählten Staatsbürgerkunde- und Russischleistungen. Fast schizophren mutete die sich anschließende Studienlenkung an. Nun war ich kein Held und hatte auch so schnell nicht vor, einer zu werden. Mit dem erlernten Beruf als Buchbinder besaß ich eine hilfreiche Alternative und verspürte keine Lust auf die beharrliche Tour, die möglicherweise jahrelange Arbeit als Hilfspfleger in Krankenhäusern verbunden mit ständigen Wiederholungsbewerbungen für Medizin. Man hatte von diesem Weg gehört, aber die Aussicht auf Erfolg war nicht sicher gegeben. Dann lieber später eine eigene Buchbinderei. In Leipzig existierten noch zahlreiche kleine Druckereien und Buchbindereien, allein in Gohlis kannte ich drei, die Anfang der achtziger Jahre einen Nachfolger suchten. So führte der Weg der Studienberatung weiter ins Umlenkungsverfahren. An dieser Stelle sei eingefügt, früher war die Betreuung aller Abiturienten und die Studienlenkung ein üblicher geregelter Prozess mit dem Ziel, die Jahrgänge entsprechend der geplanten Hochschulkapazitäten und Nachwuchserfordernisse zu verteilen. Keiner sollte verloren gehen, für jeden fand sich irgendwo in der Republik ein Studienplatz. Was dann kam, überraschte vollkommen. Mit klarem Ton, ohne jegliche Emotionen verkündete die Verantwortliche:

„Herr Schulz, Ihnen sind die Ablehnungsgründe für ein Studium der Medizin, Ihre gesellschaftlichen Aktivitäten und die nicht ausreichenden Leistungen in Russisch und Staatsbürgerkunde, bekannt. Aber wir bieten Ihnen ein Studium an der Karl-Marx-Universität Leipzig als Diplomfachlehrer für Geschichte/Deutsch an.“ Durch meinen Kopf schossen die Gedanken wie Blitze. „Kneif dir sofort in den Oberschenkel – bist du wach – hast du wirklich richtig gehört, Lehrer, Lehrer für …? Mein Gott, was läuft hier ab, du kannst aus bekannten Gründen keine Patienten behandeln – aber als Lehrer wollen die dich auf Kinder loslassen?“ Für einen Moment nicht zu glauben. Ausgerechnet Lehrer, haben die nie mit meiner alten Schule gesprochen? Jedoch hatte der Vorschlag durchaus Charme. Die Zusage, gleich im Herbst 1981 – direkt nach dem Grundwehrdienst – beginnen zu können, beflügelte meine Entscheidung. Positiv klang Universität Leipzig, zum Glück nicht an einer Pädagogischen Hochschule. Diese hatten auf Grund ihrer vollständigen Verschulung der Ausbildung und der damit verbundenen stärkeren Politisierung einen katastrophalen Ruf als Margots Kaderschmiede. Durch die einseitige Fixierung auf die Pädagogikausbildung fehlte häufig der wissenschaftliche Tiefgang.

Die Immatrikulation sollte an der Sektion Geschichte der Karl-MarxUniversität Leipzig erfolgen. Universitäten galten selbst am Ende der siebziger Jahre noch als Zentren der Wissenschaften und inhaltlich offener in den Studiengängen. Der Mix aus Medizinern, Theologen, Natur- und Geisteswissenschaftlern versprach liberalere Ansätze. Die Forschung an Universitäten unterlag grundlegenden Zwängen, fand aber statt. So stimmte ich einem Studiengang zu, an den ich vor Tagen nicht im Entferntesten gedacht hatte und Ende März 1979 hielt ich meinen Zulassungsbescheid für das Studienjahr 1981/82 in der Hand. Man war überzeugt, „dass ich das in mich gesetzte Vertrauen jederzeit durch sehr gute Leistungen und tatkräftige Mitarbeit zur allseitigen Stärkung unserer sozialistischen DDR rechtfertigen werde“. Und in Anlehnung an meine erfolglose Medizinbewerbung erteilte mir die Zulassungskommission folgende Auflage: „Wir erteilen Ihnen die Auflage, die Leistungen im Fach Russisch auf die Note 3 und empfehlen, die Leistungen im Fach Staatsbürgerkunde bis zum Abitur zu verbessern.“ Natürlich dachte ich auch an die vielen Lehrer, die sich in den zurückliegenden Schuljahren mit mir abplagen mussten. Denen hatte ich es wahrlich nicht leicht gemacht mit meinem Verhalten. Wenn die von meinem Lehrerstudium erfahren würden, ich glaube es käme einem Genick schlag sehr nahe. Willis Worte fielen mir ein. Willi, 1915 im Leipziger Osten geboren, schuftete bis zur Rente 1980 als Buchbinder an seiner Papierschneidemaschine im Grafischen Großbetrieb Interdruck und war einer meiner praktischen Ausbilder. Willis Maschine aus den dreißiger Jahren tat immer noch ihre Dienste neben einer sehr modernen aus den Siebzigern. „Mein Junge sei froh, dass du einen vernünftigen Beruf erlernst.“ Und ich war gerade dabei, die Reihen der Buchbinder zu verlassen. „Willi“, sagte ich zu mir, „wenn die Sache schief geht, dann habe ich wenigstens bei Dir viel gelernt.“ In wenigen Minuten schloss sich der Kreis von der Schulzeit bis in diesen Sessel.

Die in der DDR zunehmende Militarisierung ging auch an der Universität Leipzig nicht spurlos vorüber. Spürbar wurde es besonders im Komplex der militärischen Ausbildung innerhalb des Studiums. Ich möchte an dieser Stelle nicht über universitäre Zwänge sprechen. Mit Sicherheit war es unstrittig, dass sich eine Universität nicht den systembedingten Konditionen entziehen konnte. Aber die handelnden Akteure hatten schon die Chance, die staatlichen Zwänge so oder so auszuführen. Das eigentliche Trauerspiel bildeten Dozenten, Wissenschaftler und andere Universitätsmitarbeiter, die sich auf diesem militanten Feld mehr engagierten und sich politisch mehr zu Hause fühlten als in der eigentlichen Wissenschaft. Diese Scharfmacher trugen aus meiner Sicht die Hauptverantwortung für die Politisierung und Militarisierung der Universität, denn sie bestimmten und reglementierten den Alltag. Die wenigen aufrechten Wissenschaftler wie die Professoren Karl Czok, Siegfried Hoyer und Hartmut Zwahr konzentrierten sich auf die Vermittlung fachwissenschaftlicher Inhalte und hielten sich auffallend zurück. Und es war nicht nur eine Frage der militärischen Ausbildung der Studenten, auch die Studentinnen mussten sich diesem Thema stellen.

Dazu ein weiteres Erlebnis:

Buchausschnitt: Militarisierung – ein Trauerspiel 1982 (S.33-34)

Ein Trauerspiel, und alle, die glaubten, mit einer zivilen Berufswahl oder einem Studienplatz sei das Thema Armee ausgestanden, wurden eines Besseren belehrt. Militärwerbung in der DDR nahm kein Ende. Die Studenten mussten zu Beginn des dritten Semesters ein mehrwöchiges Armeelager in Seelingenstädt als offiziellen Bestandteil der militärischen Ausbildung durchlaufen. Einige als Soldaten-, andere als Offiziersanwärter.

Kasernierung, Uniformen, das gesamte militärische Grundprogramm mit Sturmbahn, Märschen über Wiesen und durch Wälder sowie Politunterricht erwartete uns erneut. Das Armeelager zählte als NVA-Reservedienst und dem entsprechend straff erfolgten die Organisation und der

Drill.

Weil nur geteiltes Leid halbes Leid ist, durften auch die Studentinnen einrücken. Sie hatten zeitgleich in einem Lager für Zivilverteidigung das Vergnügen, sich einer leicht abgespeckten Variante der Militärausbildung zu unterwerfen. Untergebracht in einem Barackenlager zwischen Leipzig und Halle, durften auch sie endlich erste militärische Erfahrungen sammeln. Vermutlich fiel es ihnen noch schwerer, denn diesen paramilitärischen Nonsens kannten sie bis dato nur vom Erzählen oder aus den Briefen ihrer Freunde. Die Schilderungen nach dem Abschluss des Lagers klangen für uns nicht überraschend, für die Studentinnen kam es einem Kulturschock nahe. War es für Daggi und Co. anfänglich noch teilweise belustigend, sollte sich die Stimmung langsam aber sicher dem Tiefpunkt nähern. Eingekleidet in Ersatzuniformen mit Käppi und Koppel, begaben sie sich in die Hände ihrer Ausbilder, die sich aus besonders übereifrigen Dozenten oder hauptberuflichen Zivilverteidigern rekrutierten. Schon der im wahren Sinne des Wortes Frühsport (fünf Minuten nach Sechs) erzeugte Frustpotential für den Rest des Tages. Das Absolvieren der Sturmbahn und Robben über frisch geweidete Schafswiesen führten an den Rand von Nervenzusammen brüchen. Die Tatsache, dass ein Nachdenken über Sinnhaftigkeit bestimmter Übungen nicht erwünscht war, blieb den meisten bis dato erspart. Wahre Begeisterung kam bei der Übung Atomangriff auf: Die Gruppe lief über ein Feld und der Ausbilder brüllte wie von einer Hornisse gestochen „Atomangriff“. Wie vom Blitz getroffen schmissen sie sich alle flach auf die Erde und durften ja nicht in die Explosion schauen, Hände auf den Kopf und warten bis sich der atomare Sturm gelegt hat – so einfach war Überleben oder aufpassen, dass der Gasmaskenrüssel richtig mit dem Filter verbunden ist, sonst erlebt man den Sieg des Sozialismus nicht mehr. Exerzierübungen mit „Stillgestanden und Ruhe im Glied“ stellten dagegen für die gesprächigen Damen ein grausames Moment dar. Truppenverpflegung aus der Feldküche ließ Lagerfeuerfeeling aufkommen. Wie bei den Soldaten gab es nur an bestimmten Tagen Ausgang. Aber das Lager hatte auch wenigstens eine gute Seite, die Frauen lernten Kartoffelschälen. Küchen dienste standen ebenfalls mit auf dem Plan und mehrere hundert Studentinnen verdrückten in den Wochen eine Menge Kartoffeln. Die große Mehrheit zeigte sich hocherfreut, als sie wieder ins Wohnheim einzogen, welches ihnen nach dem Lageralltag wie ein Grandhotel vorkommen musste.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal eine kurze Zeitreise in die späten 70er und frühen 80er Jahre unternehmen. Ich nenne nur wenige Schlagworte und Ereignisse, Sie werden sich erinnern: 1979 Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, Charta 77, Papst Johannes Paul II., aufkommende Proteste in Polen, Solidarnosc, drohende Rüstungseskalation, NATO: Pershingraketen – Ostblock: SS-20-Raketen. In der damaligen DDR konnte für jedermann, wenn man Pech hatte, jegliches Sympathisieren mit der westlichen Welt bei gleichzeitiger Ablehnung sozialistischer Grundwerte das berufliche Aus bedeuten. Das war wahrlich keine tolerante Zeit.

Buchausschnitt: Militarisierung – ein Trauerspiel 1982 (S. 35-38)

Der Zeitraum der frühen achtziger Jahre bildete den idealen Nährboden für Kriegshysteriker und Chefideologen. Die DDR mutierte zur Kaserne. Hochrüstung in beiden Teilen Deutschlands, und die DDR militarisierte sich von der Insel Rügen bis zum Fichtelberg, vom Kindergarten bis zum Kombinat. Atomkriegsängste wurden geschürt und ein Szenario konstruiert, nach dem man annehmen musste, jeden Moment würde die US-Invasion beginnen. Da gab es nur eine Antwort, alle an die Waffen, der Sozialismus muss verteidigt werden, mit Mann und Maus. In den Betrieben gründete man eine Kampfgruppe nach der anderen. Mit aussortierten Gewehren und „Eisenschweinen“ ging es an den Wochenenden in die Manöver. Das Feindbild war so klar wie simpel, hüben die Friedliebenden und drüben die Bösen. Besuche bei den für den Frieden kämpfenden Soldaten gehörten für Kindergärten und Schulen zum Alltag.

Aber nicht genug mit diesen Militärlagern für Männlein und Weiblein, die Sektion Geschichte wollte die Ausbildung beziehungsweise ideologische Positionierung ihrer Studentenschaft im Vorfeld noch überbieten. Alle potentiellen männlichen Lageristen sollten sich freiwillig für eine Reserveoffiziersausbildung (ROA) in den Reihen der Nationalen Volksarmee verpflichten. So genau hat über die Motive der Sektion keiner gesprochen, aber es war klar, dass die Sektion Geschichte universitätsintern glänzen, ihren Klassenauftrag mit Höchstquote erfüllen wollte. Man musste und wollte bessere Werte bringen als die anderen Sektionen, man bildete schließlich das geistige Zentrum der revolutionären Weltbewegung. Das gesamte Agitationsprogramm wurde jeweils im Frühjahr abgespult, damit die Studenten noch rechtzeitig in die Ausbildungskompanien der Reserveoffiziersanwärter eingetaktet werden konnten. Irgendwann war ich an der Reihe, und so teilte ich Dr. Pfeffer nach einem ersten Gespräch mit, dass das mit ROA für mich nicht in Frage käme. Es vergingen nur wenige Tage und die Einzelbearbeitung sollte starten.

Erneut musste ich zu Dr. Pfeffer, der zu seiner Verstärkung den Assistenten Salz von der Methodik mit ins Feld führte. Es wurde spannend und interessant, aber auch die Brisanz nahm zu. Überhaupt konnte man ohne Übertreibung konstatieren, dass die größten militärischen Scharfmacher nicht selten die fachlichen Tiefflieger in Personalunion verkörperten. Die wirklich integeren Historiker hielten sich wohlwollend zurück. Und dann geschah, was geschehen musste. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen einer Audienz beim Sektionsdirektor. Einige Tage vorher traf ich den Professor im Seminargebäude und es war unschwer zu erkennen, dass er sich nicht wohl fühlte in Erwartung der anstehenden Audienz. Ich erlebte den Professor das erste Mal mehr als Psychologen statt als Historiker. Und auch diesen Job erledigte er nicht schlecht. Keine Agitationsversuche, kein Überreden, vielmehr bedachte Worte mit einem Appell, meine Entscheidung so zu treffen, dass ich damit leben kann. Das war mehr als ich erwartete, ich verstand dieses Signal seiner Distanz und wusste, er war zu diesem Gespräch als Seminargruppenberater zwangsverpflichtet. Meine ablehnende Haltung hatte sich zwischenzeitlich an der Sektion herumgesprochen und wie es aussah, hatten sich fast alle anderen Studenten für die ROA bereit erklärt.

Das Gesprächszimmer mit den holzvertäfelten Wänden einschließlich Honeckerbild und glanzloser Einrichtung sah aus wie eine gute Funktionärsstube. Diesmal erwarteten mich drei Herren, den Professor zählte ich nicht mit. Moderat im Ton begann der Direktor, taktisch an verschiedenen Stellen von seinen Vasallen Pfeffer und Salz ergänzt, die lange Geschichte von Krieg und Frieden, vom Klassenfeind und der Wachsamkeit, von Sozialismus und ideologischer Diversion. Und den Sozialismus überhaupt, den müsse man verteidigen, dazu gäbe es keine Alternative. Man sehe in diesen Tagen im Nachbarland Polen, wie die imperialistische Konterrevolution tätig sei. Aber die Studenten, auf die käme doch eine besondere

Verpflichtung zu, würden sie doch auf Kosten des werktätigen Volkes studieren. Und die Werktätigen in den Betrieben, jeder würde an seiner Front kämpfen. Arbeiterklasse sei Dank.

Auf Durchgang schalten konnte ich nicht, vielmehr brauchte ich alle Konzentration, um den drei Herren argumentativ zu folgen. Das Kostenargument, eher moralisch interpretierbar, war wie gesagt schon angesprochen und es folgte der Punkt, wo man über das Studienende und die Arbeit in der Produktion sprach. Dabei hatte man nicht offen und unverhohlen gedroht, nein – die Genossen verkörperten doch die sozialistische Intelligenz, und da wird feiner formuliert. Es glich einem Kreisen des Bussards, der noch nicht zugestoßen hatte, über seiner Beute.

Die Uhr schien stehengeblieben zu sein, Sekunden dehnten sich aus zu Minuten, die Zeit verging nicht. Eigentlich wollte ich nichts sagen, ich hatte mir fest vorgenommen mehr zu schweigen als zu reden, meine Beweggründe brauchten die Genossen nicht zu wissen und jedes überflüssige Wort barg die Gefahr, dass man sich irgendwie versprach. Das wäre mir fast passiert, denn die Bemerkung über die Konterrevolution in Polen konnte ich leider nicht unkommentiert lassen, ich sagte: „Ich habe eher Bilder gesehen, wo polnische Armeefahrzeuge gegen ihre eigenen Landsleute in Stellung gegangen sind. In Danzig streiken die Arbeiter auf den Werften. Die riegeln ihre eigenen Fabriken ab. Und wenn die Bruderarmeen einmarschieren, macht die Nationale Volksarmee dann mit?“

Ende 1981 verhängte Polens Staatschef Jaruzelski über sein Land das Kriegsrecht, weil in den Städten die eigene Bevölkerung streikte. Mit seiner Sonnenbrille und der Uniform, dieses Bild ging seit Monaten durch die Medien, ähnelte er einem Diktator einer Bananenrepublik. Ein Einmarsch der Russen wie 1968 in Prag lag in der Luft. Und dann argumentierten die hier mit imperialistischer Konterrevolution.

Noch während ich antwortete, bemerkte ich meinen Fehler, und zog mich aufs Schweigen zurück. Die Stimmung wurde gereizter, mein staatsbürgerliches Pflichtbewusstsein und Geschichtsverständnis seien fragwürdig. Ideologische Sichtweisen des Gegners wären erkennbar. Für die Sektion Geschichte sei meine Weltsicht ein ernstzunehmendes Problem. Sie hatten jetzt noch einen weiteren Angriffspunkt und dann kam die diesmal folgerichtige und offenere Bezugnahme auf den späteren vorgesehenen Lehrerberuf sowie die Möglichkeit der vorzeitigen Arbeit in der Volkswirtschaft, sollte ein plötzliches Studienende mit dieser Einstellung nicht zu vermeiden sein. Ein Jahr praktische Bewährung konnten sich die Herren Agitatoren auch vorstellen.

Damit, vermutlich ungewollt, trafen die Genossen genau den Punkt, der mich innerlich mehr erstarken als erschauern ließ. Ähnliche Typen hatten mich erst vor wenigen Jahren mit meinen Staatsbürgerkunde- und Russischnoten von Medizin in diese Studienrichtung umgelenkt. Wenn ich Angst vor Vielem hatte, aber nicht vor dem Studienende und vor praktischer Arbeit. Der Traum von der kleinen Druckerei war noch nicht gänzlich verflogen. Ich schaute mir die Gesichter, hauptsächlich von Dr. Pfeffer und Salz, an und dachte, wer von euch hat denn hier schon einen Betrieb von innen gesehen? Ihr sitzt hier ohne Vorstellung, wie es in den Betrieben aussieht und erzählt dummes, aber leider gefährliches Zeug. Dem Professor hätte ich die Situation gern erspart. Nur ruhig bleiben, am besten auf die Sachen nichts entgegnen, kein Kleinklein, keine Wortklaubereien, jedoch eine Antwort erwarteten die Herren.

„Wissen Sie eigentlich, dass ich einen sehr schönen und vernünftigen Beruf erlernt habe und können Sie sich vorstellen, dass für mich Arbeit im Arbeiter- und Bauernstaat wirklich keine Schande ist? Ich habe Buchbinder gelernt, keine fünf Straßen von hier um die Ecke in der Inselstraße, bei Interdruck als Maschinenführer gearbeitet und fast doppelt so viel verdient, wie ich es als Lehrer verdienen würde.“ Die Herren schauten leicht irritiert, sollten sie sich nicht richtig vorbereitet und den winzigen Fehler begangen haben, meinen Beruf zu vergessen? Jedenfalls begriffen sie, ihre Drohung mit Bewährung in der Produktion lief ins Leere. Die Luft war raus und das Gesprächsende nahe. Es ging in die Schlussschleife mit den üblichen Floskeln, es mir nochmals zu überlegen und ich bekam Zeit zum Nachdenken. Im September fuhr ich als Soldat nach Seelingenstädt und kam als Soldat wieder.

Mir ging es damals nicht ansatzweise darum, zu protestieren oder zu hinterfragen. Weder wollte ich eine Systemänderung bewirken noch einen großen eigenen Beitrag dazu leisten. Vielmehr war ich eigentlich nur egois tisch, auf mich und auf meine eigenen Lebensvorstellungen bezogen. Ich war Fan von Bob Dylan, las nächtelang amerikanische Literatur, also die Bücher, die man bekommen konnte, träumte von der weiten Welt und hoffte, irgendwann kommt die Zeit. Ich wollte einfach aus eigenen Gründen diesen ganzen parteilichen und militärischen Unfug nicht. Angepasst war ich mehr als genug, aber ich war nicht bereit, mehr als den Mindestpreis zu zahlen, mich weiter als unbedingt notwendig mit dem System einzulassen.

Ich könnte noch mehrere kleine Geschichten und Erlebnisse zum Besten geben, doch ich komme zum Ende meines Vortrages und meines Studiums an der hiesigen Universität. Wie schon bei meiner Studienplatzvergabe sollte der Russischnote wieder eine besondere Rolle zukommen.

Buchausschnitt: Die Exmatrikulation (S. 90-92)

Bevor wir unsere Diplome erhalten sollten, wechselten sich viele Reden und die üblichen Rituale ab. Partei- und FDJ-Funktionäre sprachen, ein Grußwort des Rektors folgte, ein Vertreter der Studenten dankte artig für das Vertrauen der Partei und versprach, als Gegenleistung immer und an jedem Ort der Republik für die Sache der Arbeiterklasse zu kämpfen. Noch einige musikalische Klänge, dann begann die Diplomvergabe.

In Gruppen eingeteilt lagen die begehrten Dokumente mit einzelnen Blumen wohl sortiert auf einem Beistelltisch neben dem Rednerpult. Man hatte sich von den verschiedenen Varianten der Übergabe, nach Seminargruppen, alphabetisch oder nach Leistungsgruppen auf letztere festgelegt. Nach „mit Auszeichnung“ und „sehr gut“ folgten mit dem Preis der Sektion, Nachwuchsförderung sowie anderen Ehrungen einige Einzelübergaben. Es folgte am Schluss die Gruppe „befriedigend“, nachdem „gut“ erledigt war. Mit gewisser Ungeduld hörte ich meinen Namen zum Aufruf, ich weiß bis heute nicht, ob in der vorletzten oder letzten Gruppe. Leicht irritiert, aber insgesamt noch frohen Mutes ging ich nach vorn zur Diplomübergabe und schaute zuerst auf das Diplom und dann auf das Hochschulzeugnis: Prädikat „befriedigend“.

Ich stand wie gelähmt vorn im altehrwürdigen Festsaal mit denen, die gerade so mit viel Fleiß durchgekommen waren, denen vieles nicht leicht gefallen war und die sich wirklich bemüht hatten, das Studium zu absolvieren und denen, die nach dem Willen der Partei und Sektion nicht durchfallen durften. Nein, in dieser Gruppe sah ich mich nicht. Das war nicht mein Platz. Das kann nicht sein, vermutlich handelt es sich um einen Fehler, bei meinen Noten eigentlich ein Unding. Hier stand ich also, diese Gruppe mit nur noch wenigen Studenten bildete das Schlusslicht des Jahrganges. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, ging es zurück an die Plätze. Der Gang durch den Festsaal nach der Diplomübergabe zurück an meinen Platz kam mir wie ein Spießrutenlauf vor, ich konnte die Säbelhiebe spüren, dieses Gefühl verließ mich nicht. Mit Sicherheit haben meine Mitstudenten diese Situation und meine Prädikatsgruppe überhaupt nicht bemerkt, alle schauten mehr oder weniger beglückt in ihre gerade erhaltenen Zeugnisse, aber ich fühlte, als bohrten sich tausende Blicke in meinen Nacken.

Der weitere Verlauf der Exmatrikulation bis zum Ende zog an mir in weiter Ferne vorbei. Zum Glück saß ich auf einem Stuhl, sonst wäre ich vermutlich umgefallen. Immer wieder überflog ich des Zeugnis, aber beim besten Willen, ich konnte mir das Prädikat nicht erklären, nur in Russisch gab es nach dem vierten Semester die Note „vier plus“. Das kann nicht sein, dass diese einzelne Teilnote so das gesamte Studienprädikat beeinflussen sollte, unvorstellbar. An die Einbeziehung der Russischnote in das Prädikat des Hochschulzeugnisses dachte ich bis zu diesem Moment keine Sekunde. Mit nachträglicher Entschuldigung gegenüber meinen Mitkommilitonen, die mit mir in der gleichen Gruppe nach vorn gingen, das Prädikat hatte ich nicht verdient. Ich wusste natürlich, irgendwelche Preise bekommst du nicht, auch war mir klar, für „sehr gut“ würde es nicht reichen, aber „befriedigend“? Über mehrere Semester bekam ich ein Leistungsstipendium, besuchte als einer der wenigen Studenten der Lehrerseminargruppen zusätzliche Seminare bei den Historikern und Germanisten, schrieb mehr Referate als notwendig, versuchte mich für ein Semester in Latein und gehörte, man muss mit Eigenlob wirklich zurückhaltend sein, zu den leistungsstärksten Studenten.

In meiner offiziellen Universitätsabschlussbeurteilung las ich den Satz „… da er stets kontinuierlich arbeitete, … erzielte er gute, teilweise sehr gute Studienergebnisse“. Na also Roman, da steht es schwarz auf weiß. Und dann stehst du in der letzten Reihe, bei denen, die es gerade so geschafft haben. Alles was ich noch konnte, war meinen Durchschnitt zu errechnen, knapp über „zwei-null“, die vier in Russisch eingerechnet, ohne Russisch unter zwei-null. Alle drei Haupt- und Abschlussprüfungen im Hauptfach mit „sehr gut“, selbst im Rotlichtbereich „gut“, dazu „befriedigend“ in Psychologie und Nebenfachmethodik. Prädikat „befriedigend“ – dafür hast du jahrelang die Bibliotheken unsicher gemacht, unfassbar. Und dann betrittst du als letzter die Bühne. Und allmählich kam der Verdacht auf, die haben dich doch nicht etwa bewusst auf diesen Platz gesetzt?

Dieses Gefühl der Niederlage brannte unglaublich.

Während sich unmittelbar am Ende die meisten zu einem letzten Gespräch locker gruppierten, freudig plauderten und die Glückwünsche der Eltern entgegennahmen, bewegte ich mich in meinem eigenen Tunnel. Der ganze festliche Rummel ging an mir vorbei. Ich wollte die Sache aufklären und bedrängte Professor Vogel. Ich fuchtelte wild mit dem Hochschulzeugnis vor seinen Augen herum und redete auf ihn ein, schauen sie auf diese Noten, wieso dann dieses Prädikat? Sie haben es doch als amtierender Sektionsdirektor unterschrieben. Meine Hoffnung auf ein Versehen platzte wie eine Seifenblase. Mit seiner ganzen institutionellen Macht ließ mich Vogel abblitzen und verkündete mir mit breitestem hämischem Grinsen:

„Herr Schulz, was erwarten sie eigentlich von uns, Sie wissen doch, eine Kann-Bestimmung bestimmen immer noch wir. Haben Sie wirklich geglaubt, wir legen die Bewertungsspielräume ausgerechnet bei Ihnen zu Ihren Gunsten aus?“

Wer glaubt, dass mein Studienprädikat ein Zufall war, kann das wirklich gern denken. Ich bin mir relativ sicher, es war der Preis für meine vielen kleinen Abweichungen. Den habe ich wirklich gern bezahlt, auch wenn mich 1985 die Situation wahrlich nicht erfreute. Die Hoffnung auf ein – wie man damals sagte – Forschungsstudium hatte ich freiwillig und ohne jeglichen Kummer schon Monate vorher begraben. Ohne Partei, Stasi, NVA oder anderes sozialistisches Engagement blieb dieser Weg verschlossen. Das war genau der Karriereverzicht, den ich anfangs erwähnt hatte und den ich ohne Groll respektierte. Aber das Prädikat schmerzte trotzdem. Denn spätestens am Morgen nach der Exmatrikulation war mir klar, das war der Abschied von der Wissenschaft für immer! Auch nach Jahren als Lehrer würde ich mit „befriedigend“ nie eine Chance haben.

Sie können sich unschwer vorstellen, dass ich über den Herbst ’89 mehr als erfreut war. Für kurze Zeit hatte ich 1990/91 überlegt, nochmals in die Wissenschaft einzusteigen. Aber man kann Glück und Erfolg nicht suchen, es kommt oder es kommt nicht. Und die Jahre seit der Friedlichen Revolution sind gut verlaufen.