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Kaderschmiede der Stasi?

Die Leipziger Journalistenausbildung im „Roten Kloster“ in der Ära Ulbricht

Daniel Siemens

„Was waren das für Zweie, Partei und Staat, die sich krümmten und bogen, weil eine unfertige, machtlose Studentin sie ,verraten‘ hatte? Was war das für ein Geheimpolizeiapparat, der so viel Zeit und Mühe aufwandte, um einer neugierigen Zwanzigjährigen nachzustellen, sie zu bestrafen, weil sie ein Lügendiktat gebrochen und die Wahrheit gesagt hatte und sich weigerte, ihren Geliebten zu bespitzeln?“

Diese rhetorischen Fragen sind dem Buch Im Schwanenhals entnommen, dem dritten Band der Erinnerungen der im Dezember 2013 verstorbenen Schriftstellerin Helga M. Novak. Ihr letztes Buch setzt im Jahr 1954 ein – genau zu dem Zeitpunkt, als die damals 19-jährige Novak ein Journalistik-Studium in Leipzig begann. Wie so viele ihrer Generation hatte sie schon viel erlebt, bevor sie in das universitätseigene Internat, gleich neben der Fakultät in der Tieckstraße gelegen, einzog. Unehelich geboren (ihr Vater beging später Selbstmord, die Mutter gab sie zur Adoption frei), wuchs Novak im und nach dem Krieg bei Pflegeeltern auf, von denen sie sich allerdings noch als Teenager lossagte. Ihre letzten Schuljahre verbrachte sie in einem Internat. In dieser Zeit trat sie auch der FDJ bei. Wie so viele ihrer Kommilitonen kam Novak im Sommer 1954 voller Hoffnungen und Erwartungen nach Leipzig. Nach den Entbehrungen ihrer Jugendjahre sollte es endlich besser werden: für sie persönlich, aber auch für den jungen Staat, in dem sie lebte und den sie voranbringen wollte, die DDR. 1954  war nicht nur für Helga Novak ein Jahr des Neubeginns. Es war zugleich das offizielle Geburtsjahr der Fakultät für Journalistik an der KarlMarx-Universität Leipzig. Die Fakultät war allerdings keine vollständige Neugründung, sondern der erweiterte Nachfolger des Leipziger Instituts für Publizistik und Zeitungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät. Der neue Name, der sich am Sprachgebrauch in der Sowjetunion orientierte – dort gab es bereits eine Fakultät für Journalistik an der Moskauer Lomonossow-Universität – war dennoch programmatisch zu verstehen. Mit der bürgerlichen Wissenschaft von der Publizistik oder Zeitungskunde, wie man das junge Fach seit der Weimarer Republik meistens genannt hatte, sollte es nun vorbei sein. In Leipzig wurde stattdessen „sozialistische Journalistik“ gelehrt und erforscht – wobei das Niveau zunächst zu wünschen übrig ließ, wie kritische Stimmen auch innerhalb der Fakultät einräumten. Zentral war der Anspruch, eine „parteiliche Wissenschaft“ zu betreiben, wobei die Politik der SED gewissermaßen den objektiven Rahmen vorgab, innerhalb dessen sich die Wissenschaft zu bewegen hatte.In einem Konzeptpapier aus dem Jahr 1965 heißt es dazu in unübertroffener Klarheit: „Sozialistische Parteilichkeit ist eine dem Berufsbild [des Journalisten, D.S.] immanente Verpflichtung! […] Sozialistische Parteilichkeit, Wissenschaftlichkeit, Wahrhaftigkeit und Objektivität bilden eine Einheit.“

Wer diesen Rahmen sprengte, musste mit Sanktionen rechnen – wie etwa der spätere Schriftsteller Landolf Scherzer erfuhr, dessen Diplomarbeit zur journalistischen Gattung der Reportage von der Fakultät im Jahr

1966 mit der Begründung abgelehnt wurde, es werde dort nicht der „richtige Standpunkt vom sozialistischen Menschen“ eingenommen. Stattdessen würde Scherzer in seiner Arbeit „auf Biegen und Brechen versuchen, den Kunstcharakter der Reportage und aller ihrer einzelnen Elemente zu beweisen.“Scherzer wurde zwangsexmatrikuliert, konnte aber in der Folgezeit beim in Suhl erscheinenden „Freien Wort“ als Journalist arbeiten.

Unter streng parteilicher Perspektive ging es an der Fakultät für Journalistik seit 1954 in erster Linie darum, den zur Hochzeit des Kalten Krieges ungemein heftig ausgetragenen Meinungskampf im geteilten Deutschland für das vermeintlich progressive, das sozialistische Lager zu gewinnen. Vielleicht ist es nötig, an dieser Stelle daran zu erinnern, wie offen die historische Situation seinerzeit eingeschätzt wurde. Das Angebot Stalins vom März 1952, das ein Zusammengehen der beiden deutschen Staaten unter der Bedingung der Neutralität des zukünftigen Deutschland in Aussicht stellte, war von der Bundesrepublik und ihren Bündnispartnern zwar zurückgewiesen worden, doch war die Grenze zwischen Ost und West noch keinesfalls hermetisch dicht. Auch die Öffentlichkeit war noch „gesamtdeutsch“, obwohl die beginnende Ausdifferenzierung und Entfremdung der beiden Hälften im Verlauf der 1950er Jahre zunehmend unübersehbar wurde.

Für die SED-Führung besaß die Ausbildung sozialistischer Journalisten einen hohen Stellenwert. Überall wurden neue, engagierte und politisch zuverlässige Kader gebraucht, die – auch angesichts der zunehmenden Zahl nach dem Westen abgewanderter Spezialisten – in Leitungsfunktionen der DDR einrücken konnten.Helga Novak war eine dieser Nachwuchshoffnungen: für ihr Alter ungewöhnlich belesen, politisch interessiert (und auch Mitglied der FDJ), gewiss aufbauhungrig und voll guten Willens. Aber sie war eben auch: lebensgierig, impulsiv, selbständig, mitdenkend – und nur bis zu einem gewissen Maße bereit, sich mit den ihr während der kommenden drei Jahre immer deutlicher werdenden Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen sozialistischer Gemeinschaft und politischer Manipulation und Unterdrückung, zu arrangieren.

Was aber war im Herbst 1957 – auf diese Zeit bezieht sich das Eingangszitat über die SED und die Art ihrer Machtausübung – eigentlich passiert? Zu Beginn ihres vierten und damit letzten Studienjahres war die inzwischen 22-jährige Helga Novak eines Tages von einem der jungen Assistenten, dem Parteisekretär und späteren Chefredakteur der Jungen Welt, Klaus Raddatz, in ein Nebenzimmer im Verwaltungstrakt der Fakultät geführt worden. Dort warteten, so erzählt es Novak, zwei Herren der Staatssicherheit auf sie, die ihr unter anderem deutlich machten, dass man ihre weitere Karriere entscheidend fördern könne, sofern sie sich als „Kontaktperson“ zur Verfügung stellen würde. Es war allgemein bekannt, dass die Partei, genauer gesagt die Abteilung Agitation und Propaganda im ZK der SED, über die künftigen Aufgabenbereiche der Absolventen entschied. Eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit schien zu garantieren, dass man nicht bei einer Dorfzeitung seine berufliche Laufbahn beginnen und schlimmstenfalls auch beenden musste. Diese „Verschickung“ aufs Land war keine leere Drohung – sondern für die Studierenden des dritten und vierten Studienjahres 1956/57 eine ganz reale Perspektive, die nach Bekanntwerden an der Fakultät für große Unruhe sorgte.

Novak unterschrieb im September 1957 eine Verpflichtungserklärung und erhielt den Decknamen „Renate“.Rückblickend erinnerte sie sich an diesen Moment als einen gravierenden Einschnitt: „Danach war ich nicht mehr dieselbe. Außerdem hatte ich gerade diese Signatur unterschätzt, denn ich ahnte nicht, dass sie vom Staatssicherheitsdienst als Freibrief behandelt werden würde, um mich in eine Art Leibeigenschaft zu überführen. Ein Leben lang.“Die Staatssicherheit wünschte von Novak Informationen über die Kommilitonen in ihrer Seminargruppe, und Novak fand sich dazu zunächst bereit.Der Geheimdienst wollte aber auch Details über die politischen Einstellungen einer Gruppe isländischer Studenten an der Universität Leipzig erfahren. Helga Novak war mit den fraglichen Isländern gut bekannt, einer der Auszuspähenden war ihr damaliger Freund. Diesmal lieferte „IM Renate“ nicht, sondern berichtete ihm stattdessen vom Auftrag der Staatssicherheit. Sie verstieß damit ganz bewusst gegen das ihr auferlegte Schweigegebot – mit gravierenden Folgen: Gemeinsam mit ihrer Kommilitonin und zeitweiligen Zimmergenossin Brigitte Klump, die im Jahr 1956 selbst mehrfach von der Stasi angesprochen worden war,wurde Novak im November 1957 auf einer FDJ-Versammlung der Fakultät gemaßregelt und – da sie die geforderte Selbstkritik nicht leistete – vom weiteren Studium ausgeschlossen. Wenige Tage später flüchtete sie mit ihrem Freund nach Island, kehrte aber bereits ein Jahr später in die DDR zurück, wo sie zunächst in Berlin-Oberschöneweide in der Bildschirmproduktion arbeitete, ehe sie einen Studienplatz am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ erhielt. 1967 siedelte sie in die Bundesrepublik über.

Was Novak, Klump und viele andere Studierende an der Fakultät für Journalistik besonders abstieß, waren die staatlich-parteilichen Eingriffe in ihr Privatleben. Die SED, so könnte man zugespitzt formulieren, zerstörte ihren künftigen Kadern ein solches Refugium „bürgerlicher Innerlichkeit“ konsequent. Sie kontrollierte, protokollierte und wertete an der Fakultät nicht nur den Studienerfolg, sondern auch das Freizeitverhalten der Studierenden aus. Das Verlassen und Betreten des Wohnheims wurden penibel erfasst, „außeralltägliche Vorkommnisse“ mussten gemeldet werden. Angeblich bestand sogar die Möglichkeit, Gespräche auf den Zimmern mitzuhören.Die so gewonnenen persönlichen Details fanden Eingang in die Personalakten der Studierenden, die bis zur Examensprüfung im Büro der SED-Kaderleitung lagerten und die auf Anfrage des Staatssicherheitsdienstes jederzeit herauszugeben waren.Universitäre Leistungen wie höchstpersönliches Verhalten bildeten das Fundament sowohl für die internen „Beurteilungen“ der Studierenden als auch der Überwachungs- und Anwerbearbeit der Staatssicherheit. Beziehungsprobleme, im vertrauten Gespräch geäußerte Zweifel am offiziellen Kurs der Partei, psychische Erkrankungen, Selbstmordversuche – all dies konnte und wurde staatlicherseits gegen die Studierenden verwendet.Insofern kann man die Fakultät für Journalistik durchaus als eine „Einrichtung mit totalem Charakter“ im Sinne des amerikanischen Soziologen Erving Goffman beschreiben, zumal dann, wenn man sich die zentrale Bedeutung der studentischen Seminargruppe als „alternative Bezugsgruppe“ vergegenwärtigt und die räumliche Nähe berücksichtigt, die zwischen Wohnort und Ausbildungsstelle des Studierenden bestand.

Festzuhalten ist, dass zwischenmenschliche Solidarität an der Fakultät jedenfalls dann wenig galt, wenn sie – vermeintlich – im Widerspruch zum Staats- und Parteiinteresse stand. Solche Zumutungen an den Einzelnen standen der verbreiteten idealistischen Empfindsamkeit der jungen Studierenden diametral gegenüber. Dass dieser Grundkonflikt in aller Regel vom Staat gewonnen wurde, dem es mit äußerem und psychologischem Zwang gelang, den Studierenden Loyalität oder jedenfalls passive Hinnahme abzutrotzen (und der im Gegenzug stabile berufliche wie private Zukunftsaussichten bot), sollte sich langfristig als schwere Hypothek für die Erneuerungs- und Reformfähigkeit der DDR erweisen.

Im Folgenden will ich mich auf das konzentrieren, was Novak den „Geheimpolizeiapparat“ genannt hat. Genauer gesagt: Ich will der Frage nachgehen, welche Bedeutung der Staatssicherheit in den 1950er Jahren an der Fakultät für Journalistik tatsächlich zukam – und ob die Fakultät sogar als „Kaderschmiede der Stasi“ gelten muss. Diese Meinung herrscht heute vor. Sie wurde maßgeblich verbreitet durch Brigitte Klumps Enthüllungsbuch Das Rote Kloster. Eine deutsche Erziehung, das 1978 bei Hoffmann & Campe in der Bundesrepublik erschien und seinerzeit dort breit besprochen wurde, übrigens keinesfalls unkritisch. So bemängelte der 2013 verstorbene Kabarettist Dieter Hildebrandt in der Wochenzeitung Die Zeit eine „fatale Nachträglichkeit“ des Buches. Die Zerstörung der Integrität junger Menschen, die die Autorin zeigen wolle, leide, so argumentierte Hildebrandt, unter dem Abstand von über zwei Jahrzehnten. Das Buch produziere über weite Strecken die Künstlichkeit einer „nachgestellten Spontaneität“.

Dem kommerziellen Erfolg tat solche Kritik keinen Abbruch. Klumps Buch wurde noch Anfang der 1990er Jahre neu aufgelegt und gilt immer noch als Standardwerk zum Thema. Allerdings ist anzumerken, dass es sich beim Roten Kloster nicht um eine erschöpfende Analyse der Fakultät handelt, sondern um eine lebendige Schilderung aus Betroffenensicht. Von den Zwängen der Lehrenden, etwa dem damaligen Dekan Hermann Budzislawski, einem deutschen Juden, der 1949 auf ausdrücklichen Wunsch der SED-Führung aus dem New Yorker Exil in die DDR übergesiedelt war, oder dem ebenfalls deutsch-jüdischen Literaturprofessor Wieland Herzfelde, der ab 1949 in die Mühlen der Noel-Field-Affäregeriet und Mitte der 1950er Jahre nach eigener Aussage mehrfach an Selbstmord dachte, erfährt man bei Klump nichts.Auch ihre Aussagen zur Staatssicherheit waren zumindest unscharf. Sie behauptete, dass es sich bei der Fakultät um ein regelrechtes „Ausbildungsinstitut für den Staatssicherheitsdienst“ gehandelt habe.Ähnlich äußerten sich ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit nach 1990: Das Ministerium habe grundsätzlich alle Studierenden der Fakultät für Journalistik erfasst. Auch habe man darauf geachtet, dass in jeder Seminargruppe mindestens ein Studierender vertreten war, der sich als Informeller Mitarbeiter der Stasi verpflichtet hatte.

Solche Aussagen passen gut zum heute verbreiteten Bild der Staatssicherheit als einer in der DDR allmächtigen und stets präsenten Überwachungs- und Disziplinierungsinstitution.Zumindest für die ersten Jahre der Fakultät, also genau die Zeit, die Novak und Klump im Blick haben, sind jedoch einige Einschränkungen angebracht.Ich möchte drei Punkte hervorheben:

  1. In den 1950er Jahren war es dem noch im Aufbau befindlichen Inlandsgeheimdienst der DDR schon aus logistischen Gründen nicht möglich, alle Studierenden an der Fakultät für Journalistik umfassend zu überwachen. Zwar etablierte sich die Staatssicherheit in diesen Jahren als Instrument des „bürokratischen Terrors“, und sie erweiterte die Gesamtzahl ihrer Mitarbeiter von ungefähr 10 000 im Jahr 1953 auf 16 000 nur drei Jahre später.Für die „Sicherung“, also die Überwachung der Karl-Marx-Universität Leipzig, für die bei der Leipziger Staatssicherheit die Abteilung V des Referates IV zuständig war, standen Mitte der 1950er Jahre jedoch maximal drei hauptamtliche Mitarbeiter zur Verfügung, deren Arbeit sich an der gesamten Universität auf lediglich 21 Geheime bzw. Informelle Mitarbeiter stützen konnte.Auch wenn deren Zahl in den Folgejahren rasch zunahm, so ist zu konstatieren, dass die logistischen und personellen Ressourcen für eine vollständige Überwachung der Fakultät für Journalistik und natürlich auch der Universität insgesamt mit ihren damals 10-12 000 Studierenden (noch) nicht zur Verfügung standen.Eine systematische Arbeit im Bereich der Universität, so klagte auch einer der in der zuständigen Abteilung tätigen Stasi-Mitarbeiter, sei kaum möglich.
  2. Die Formulierung „Kaderschmiede der Stasi“ suggeriert, dass die Staatssicherheit an der Fakultät nicht nur als eigenständiger, sondern sogar als bestimmender Akteur agiert habe. Dies ist sicherlich insoweit richtig, als sich in diesen Jahren eine enge bis sehr enge Kooperation zwischen Parteileitung an der Universität und der Staatssicherheit herausbildete. Wollten Mitarbeiter der Staatssicherheit jemanden in der Fakultät sprechen, was zumeist in einem gesonderten „Treffzimmer“ in unmittelbarer Nähe des Dekanats geschah, wurde in der Regel die Kaderleitung der Fakultät vorab informiert. Es war bald offensichtlich, dass die Stasi eine Art Hausrecht hatte.Politisch maßgeblich für die Fakultät war aber die Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der SED in Berlin, die alle wichtigen Personalentscheidungen traf und der die Fakultät, man könnte sagen, halboffiziell angegliedert war. Die Bezeichnung Fakultät für Journalistik ist daher irreführend – es handelte sich mindestens ebenso um eine reguläre Fakultät wie um eine der Karl-Marx-Universität Leipzig formal angegliederte Parteihochschule.

Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die seinerzeit dem ZK-Sekretär Albert Norden unterstellte Abteilung Agitation und Propaganda zwar Lehrpläne und Forschungsprogramme kontrollierte, die Auswahl der Studenten traf und auch über wissenschaftliche Kontakte der Fakultät zum Ausland entschied, aber dennoch nicht ohne Konkurrenz war. Unterstützt vom Leipziger SED-Bezirkschef Paul Fröhlich entwickelten maßgebliche Kräfte in der Leipziger Universitätsparteileitung seit der zweiten Hälfte der 1950 er Jahre ein orthodoxes Gegenprogramm zu den Plänen aus Berlin. Ihnen war die Ausrichtung der Fakultät unter dem von Norden protegierten Dekan Budzislawski, der als einer der ganz wenigen ernsthaft versuchte, das Konzept eines „sozialistischen Journalismus“ auch wissenschaftlich zu begründen, entschieden zu liberal. Stattdessen propagierten sie ein dezidiertes Gegenprogramm zu Budzislawskis angeblich „bürgerlichem“ Wissenschaftsverständnis. Dieses Gegenprogramm verkörperte einen Grundzug der SED-Politik jener Jahre. Der Historiker Bernd Florath hat die neue Orthodoxie treffend wie folgt zusammengefasst: „Intellektuelle Anstrengungen des Einzelnen, historische Wahrheit zu ergründen, waren schon im Ansatz verfehlt. […] Der Weg des Parteimitglieds in die Partei war begleitet vom Abtöten der eigenen Subjektivität.“

Anzeichen dafür, dass die Staatssicherheit in diesen SED-internen Machtkampf zwischen Berlin und Leipzig, zwischen praxiserfahrenen Kommunikationsexperten (Norden, Budzisawski) und hemdsärmeligen Parteiorthodoxen vor Ort, aktiv eingriff, liegen nicht vor. Programmatische Richtungsentscheidungen waren nicht das Aufgabengebiet des Ministeriums, das sich bekanntlich als „Schild und Schwert“, aber nicht als Kopf der Partei verstand.Wenn Helga Novak in ihren Erinnerungen schreibt, dass sich „einige der Professoren, Dozenten und Assistenten, die wir sympathisch oder unsympathisch fanden, […] als Handlanger und Zubringer der Stasi“ entpuppten,trifft dies sicher zu. Allerdings sollte dies nicht zu der Fehlannahme verleiten, die Staatssicherheit habe die eigentliche Fakultätspolitik bestimmt, wozu sie, selbst wenn sie gewollt hätte, intellektuell auch kaum in der Lage gewesen wäre.

3.           Schließlich sind einige Bemerkungen zur Tätigkeit der seinerzeit von der Staatssicherheit als „geheime Informatoren“ – also den heute meist als IMs, Informellen Mitarbeitern – angeworbenen Studierenden wichtig. Wie viele von ihnen tatsächlich für die Staatssicherheit tätig wurden, ist nicht bekannt. Bis 1963, also in knapp zehn Jahren, soll die Fakultät ungefähr 1200 Absolventen produziert haben, wobei diese Zahl sowohl die grundständigen Studierenden als auch die Zahl derjenigen, die berufsbegleitend „Journalistik“ studierten, umfasst.Bis Mitte der 1970er Jahre wurden jährlich durchschnittlich 100 Studierende neu aufgenommen.Falls diese Zahl bis 1989 in etwa konstant blieb, lag die Gesamtzahl der Diplom-Journalistik-Studenten in Leipzig bei insgesamt rund 4000. In der Leipziger Außenstelle der BStU existieren jedoch offenbar nur wenige zusammenhängende Akten zur Fakultät, es sind vor allem „Einzelfälle“ dokumentiert. Auf der Basis der meinem Kollegen Christian Schemmert (Universität Bielefeld) und mir vorgelegten Unterlagen ist zu konstatieren, dass die Anwerbung von Informellen oder Hauptamtlichen Mitarbeitern in den 1950er Jahren keinesfalls zwingendes Ausbildungsziel der Fakultät war, sondern eine Ausnahme blieb.

Sehr aufschlussreich waren diese Akten aber dennoch, denn sie erlauben zumindest eine Annäherung an die Frage, in welcher Qualität sich die Studierenden gegenseitig bespitzelt haben. Auf der Basis des von uns gesichteten Materials drängt sich der Eindruck auf, dass es zwar einerseits Studierende gab, die bereitwillig, konstruktiv und zum Teil erstaunlich selbstsicher-fordernd mit dem MfS zusammenarbeiteten, dass aber andererseits eine große Zahl der seinerzeitigen GIs erkennbar Schwierigkeiten mit der Weitergabe von Informationen über Freunde und Kollegen hatten. Die Berichte der Staatssicherheit aus jenen Jahren sind voll von frustrierten Vermerken über nicht eingehaltene Treffen und mangelnde Auskunftsbereitschaft der GIs. Wenn die geheimen Informatoren tatsächlich „Charak teriska“ von Mitstudierenden anfertigten, so blieben diese meist unverbindlich und wohlwollend. Auch Fälle, in denen sich die Verpflichteten durch allzu freizügiges Ausplaudern quasi selbst „abschalteten“, finden sich in den Akten mehrfach.

Mag das tatsächliche Ausmaß des gegenseitigen Verrats also nicht so dramatisch gewesen sein wie von manch ehemaligem Studierenden später befürchtet, so gibt dies dennoch zur Verharmlosung keinen Anlass. Es war letztlich gleichbedeutend, wie viel die Staatssicherheit tatsächlich wusste, sofern sie nur den Anschein erwecken konnte, umfassend informiert zu sein. Als Klump und Novak am eigenen Leib die Macht der Staatssicherheit erfuhren, verstanden sie zudem, dass gerade der Zwang zur Isolierung und des „Nicht-Kritisch-Nachfragen-Könnens“ die gefährlichste Waffe der SED und ihres Geheimdienstes war. Diese Waffe setzte das Ministerium für Staatssicherheit sowohl gegen Studierende wie Lehrende erfolgreich ein. Sie war maßgeblich für das zwischenmenschliche Klima im „Roten Kloster“ verantwortlich – ein Klima, das von vielen als zerstörerisch und inhuman empfunden wurde. Neben der politischen Indoktrination war dies gewissermaßen das zweite Standbein des Leipziger Journalismus-Studiums: Wer es erfolgreich absolvierte, von dem durfte die Partei begründet davon ausgehen, dass er im Parteisinne „geformt“ und damit umfassend einsetzbar war. Die Absolventen hatten auch gezeigt, dass sie gegebenenfalls stillschweigend mit der Staatssicherheit kooperieren würden. Sie hatten – wie es der Titel einer neueren Publikation zum Journalismus in der DDR treffend auf den Punkt bringt – „die Grenze im Kopf“.Und das war entscheidend – nicht eine vermeintlich komplette Erfassung.

Diese eben gemachten Einschränkungen, das ist hervorzuheben, gelten nur für die 1950er Jahre. Für spätere Jahrzehnte liegt meines Wissens bislang keine verlässliche empirische Grundlage vor, aufgrund derer qualifizierte Aussagen zur Präsenz der Staatssicherheit an der Fakultät für Journalistik getroffen werden können. Allerdings ist ein Vergleich mit anderen Berufsgruppen instruktiv. Die Historikerin Francesca Weil hat ermittelt, dass drei bis fünf Prozent aller Ärzte in der DDR als „geheime Informatoren“ der Staatssicherheit gearbeitet haben – eine Zahl, die deutlich über dem Anteil der Gesamtbevölkerung lag. Leitende Ärzte großer Krankenhäuser hatten beinahe zwangsläufig Beziehungen zur Staatssicherheit.Für die Leitungsfunktionen an der Fakultät für Journalistik wird man ähnliches annehmen können. Auch liegt es nahe zu vermuten, dass – analog zum immer weiteren Ausbau der Staatssicherheit in der DDR bis zumindest Anfang der 1980er Jahre – auch die Fakultät immer genauer und umfassender von der Stasi durchdrungen und vielleicht partiell auch gesteuert wurde. In diese Richtung deutet etwa ein Redemanuskript aus dem Jahr 1970, das die Ansprache eines hauptamtlichen Mitarbeiters der Staatssicherheit „vor Professoren, Dozenten, Studenten und Mitarbeitern“ der Karl-Marx-Universität enthält und in dem die Tatsache, dass diese Universität viele der aktuellen Mitarbeiter der Staatssicherheit „gründlich wissenschaftlich ausgebildet“ habe, explizit und lobend hervorgehoben wird.

Die Forschungen von Christian Schemmert und mir zum Thema haben sich bislang auf die Zeit bis Ende der 1960er Jahre beschränkt. Für diesen Zeitraum ergibt sich ein überaus komplexes Bild: So war die Fakultät für Journalistik in ihren Anfangsjahren nicht nur eine sozialistische Kaderschmiede im Sinne einer „ideologischen Militarisierung“ von Politik und Gesellschaft, sondern beispielsweise auch Heimat eines bald überregional bekannten Studentenkabaretts „Der Rat der Spötter“. Dieses wurde allerdings im Herbst 1961 wegen angeblich „organisierter Feindarbeit“ verboten; ihre Hauptakteure landeten im Gefängnis.Neben linientreuen Journalisten produzierte die Fakultät zumindest in den Anfangsjahren vielfach auch Dissidenz und Widerspruch bei den Studierenden,bedingt nicht zuletzt, so analysierte es die SED-Parteileitung im Jahr 1962, durch „ideologische Schwankungen im Lehrkörper“. Dieser Vorwurf richtete sich gegen die Budzislawski-Fraktion.Durch den Mauerbau, aber auch durch interne Umstrukturierungen innerhalb der Fakultät für Journalistik, die ab Mitte der 1960er Jahre komplett in der Hand von linientreuen „Parteisoldaten“ war, endeten diese spannenden und im Detail durchaus ambivalenten Anfangsjahre. 1966 konnte die SED-Parteileitung an der Universität dann schon verkünden: „Die Studenten haben bisher immer gestanden, wenn es darauf ankam!“

Ich möchte zum Ende noch ein letztes Mal auf die Erinnerungen Helga Novaks zurückkommen. Wie sie mehrfach betonte, haben ihre Erlebnisse mit der Staatssicherheit und an der Fakultät für Journalistik im Herbst 1957  ihr Leben einschneidend verändert und geprägt. Im Buch spricht sie sogar vom „Zerfall“ ihrer damaligen Identität und beschreibt ein seither nie mehr ganz verschwundenes Gefühl der Heimatlosigkeit: im bürokratischen wie im ideellen Sinne. Es waren nun genau diese Erfahrungen, die Helga Novak, trotz der von ihr unterschriebenen Verpflichtungserklärung zweifellos auch ein Opfer der Staatssicherheit, in den frühen 1990er Jahren erneut vorsichtig werden ließen. Die ersten Jahre der gesamtdeutschen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und seines Ministeriums für Staatssicherheit scheinen bei ihr keineswegs Glücks- oder gar Triumphgefühle ausgelöst zu haben. Eher stellte sich wieder die seit 1957 bekannte Angst ein, öffentlich an den Pranger gestellt zu werden. Novak dichtete:

„Seitdem die gerechtsamen Schuldlosen, seitdem die Gerechtsamen und Schuldlosen seitdem die Gerechtsamen und Unschuldigen die Makellosen und die über allen Zweifeln erhabenen also die Erhabenen seitdem die Gerechtsamen und Mutigen die Unschuldigen die Makellosen und über allen Zweifel Erhabenen also die Erhabenen Siegerpose einnehmen habe ich Angst

Angst dass sie mich einbeziehen dass sie mich ungefragt gegen andere ausspielen dass sie mich auf ihr Podest stellen ich habe Angst vor den Urteilen die sie fällen und Angst dass die fallen.“

Damit keine Missverständnisse entstehen: Es ist natürlich die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, Probleme zu analysieren, Strukturen und Zusammenhänge aufzuzeigen, und – basierend auf methodisch reflektierter Forschung – Urteile, auch Werturteile, zu fällen. Die frühe Geschichte der Fakultät für Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig ist zweifellos ein ebenso komplexes wie lohnendes Forschungsgebiet, um die Herrschafts praxis der SED, ihre Hochschul- und Kaderpolitik zu studieren. Wichtig sind aber auch diejenigen, die – in welcher Rolle auch immer – mit dieser Herrschaftspraxis konfrontiert waren und deren Biographien durch diese entscheidend geprägt wurden. Helga Novaks Angst vor der Arroganz und Skrupellosigkeit der Macht, in den 1950er wie den 1990er Jahren, verweist auf dreierlei: Erstens macht sie deutlich, dass lebensgeschichtliche Erfahrung nicht parallel zu den Zäsuren politischer Ereignisse verläuft. Zweitens mahnt sie an, die ersten Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR auch abseits der bislang etablierten Erfolgs- und Verlustnarrative in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu untersuchen, über die Epochenwende 1989/90 hinaus. Drittens erinnert sie an die Fragilität menschlicher Existenz im Angesicht von politischen Ideologien und in den Herrschaftssystemen, die sich auf sie berufen.