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Ablehnung der Reserveoffiziersausbildung versus vollständige Anpassung

Roman Schulz

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist für mich eine große Ehre, im Rahmen der Belter-Dialoge als Plattform für Zivilcourage und Widerstand zu sprechen. Erwarten Sie jedoch von mir keinen wissenschaftlichen Vortrag und keine Forschungs- oder Studien ergebnisse. Es wird eher eine sehr persönliche Einlassung in diese Tagung sein. Ich lebte in der DDR weder im Widerstand noch empfand ich es damals als große Zivilcourage, was wir taten oder nicht taten.

Mein Respekt gilt den Opfern, die wirklich gelitten haben, sei es durch Gefängnis, zugefügte Schikanen, Überwachung und Bespitzelung, Exmatrikulation oder die Verweigerung eines Studienplatzes: sie verdienen Anerkennung und Dank. Wer noch bis Mitte der 80er Jahre an einer Universität in der DDR zu Ende studiert hat, war kein wirkliches Opfer!

Was ich Ihnen erzählen kann, handelt zum Teil vom studentischen Alltag in den 70er und 80er Jahren in der ehemaligen DDR. Es sind kleine Episoden. Sie beschreiben banale und leicht aufmüpfige Ereignisse, die zumindest einer vollständigen Anpassung entgegenstanden.

Ich war und bin nicht nostalgisch, ich bin mehr als froh, dass seit 1989/90  eine neue Zeit angebrochen ist. Im Frühjahr 2009 habe ich unter dem Titel „Zwischen Hörsaal 13 und Moritzbastei“ einige biografische sowie studentische Erlebnisse veröffentlicht, die mehrheitlich vom damaligen Leben in Beziehung zur Universität Leipzig berichten. Ich möchte keine Werbung für mein Buch machen, aber der Einfachheit halber komme ich auf einige Auszüge zurück und werde einzelne Passagen einfügen.

Und noch ein Aspekt erscheint mir betonenswert und sei hier genannt. Man konnte sich auch in der DDR immer „relativ anständig und selbstehrlich“ verhalten. Man musste nicht spitzeln und denunzieren! Man musste nicht in die SED eintreten und man musste auch nicht den letzten ideologischen Quatsch mitmachen. Die Freiheit für sich zu entscheiden, wie weit man bereit war, sich mit einer Diktatur einzulassen, konnte sich jeder Mensch selbst nehmen. Das heißt, auch der Grad der Anpassung – ich rede hier noch nicht einmal von Verweigerung oder konsequenter Ablehnung – war gleichfalls selbstbestimmt. Der Preis dafür war übrigens überschaubar und akzeptabel: man lebte ohne große Karriere. Ich hatte vor Jahren Einblicke in Stasiakten von Kommilitonen, die auf übelste und mieseste Weise – ihrer Karriere wegen – für die Stasi gespitzelt hatten. Andere verleugneten lautstark und demonstrativ ihre zum Teil christlichen Elternhäuser für wenige Schritte mehr auf der Karriereleiter. Das war, einfach gesagt, charakterlich widerlich.

Und möglicherweise hatten wir in dieser Phase der DDR einfach Glück. Die Gründe für Repressalien waren vielfältig, aber nicht selten Bagatellen und eigentlich häufig Belanglosigkeiten. In den 80er Jahren konnte vermutlich die DDR-Überwachung nicht mehr jede Kleinigkeit verfolgen wie noch in den stalinistischen 50er und 60er Jahren.

Ich möchte mich dem Thema über Umwege nähern, um auch ein Gefühl für die Zeit zu transportieren. Wenn für Sie scheinbar kein Zusammenhang sichtbar wird, dann wundern Sie sich bitte nicht, biografische Verläufe sind naturgemäß oft verwoben.

Bevor ich wirklich zum Thema komme, noch eine erste Episode zu dem Ort, an dem wir heute sind. Vor 32 Jahren war ich schon einmal hier, genau in diesem wunderbaren Senatssaal.

Buchausschnitt: Der Senatssaal ( S.  114)

Anfang der achtziger Jahre hatte ich den Senatssaal in der Ritterstraße zum ersten Mal betreten. Irgendwann in den ersten Semestern wurden die Studenten zu einem Arbeitseinsatz innerhalb der Universität gerufen. Er stand in keiner Verbindung zur wissenschaftlichen Ausbildung und hatte auch keinen politischen Hintergrund, vielmehr leisteten die Studenten von der Küche über Reparaturarbeiten bis hin zu Wachdiensten Dienst an der Allgemeinheit. Eine sinnvolle Aktion, denn warum sollten die Studenten nicht einen kleinen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten?

Mit meiner Einteilung zum Wachdienst an der Pforte im alten Senatsbereich in der Ritterstraße zog ich einen der Hauptgewinne. Die Zeit von 16.00 bis 22.00 Uhr hätte ich problemlos verschlafen können, denn spätestens ab 17.00 Uhr war das Gebäude menschenleer. Gegen 20.00 Uhr ein Hausrundgang, Kontrolle ob sich die Fenster sowie bestimmte Zwischen türen im verschlossen Zustand befanden und zurück in die Pforte. Ein kurzer Vermerk im Kontrollbuch, das war’s. Anrufe gingen in den Wochen keine zehn ein. Warten bis 22.00 Uhr, Lichter aus, Haupttür zu, Tagewerk geschafft. Ich genoss die Ruhe und mit Büchern ausgerüstet, konnte man für vergangene oder kommende Semester die Lektürelisten abarbeiten. Und für den Fall, dass noch eine nächtliche Unternehmung auf dem Programm stand, half dann doch ein Stündchen Schlaf.

Der alte Senatssaal faszinierte mich schon damals. Mit seinem glänzenden Parkett, den samtbezogenen Lehnstühlen und dem großen Kristall leuchter unterschied er sich völlig vom Hörsaalgebäude. So setzte ich mich nicht selten, wenn ich sicher war, dass der letzte Mitarbeiter das Haus verlassen und ich die schweren Vorhänge zugezogen hatte, zum Lesen mit meiner Lektüre direkt in diesen Saal. Unbeschreiblich, wie die Örtlichkeit dieses Saales das Gelesene wirken ließ. Dieser Luxus war einmalig.

Den Anfang nahm die Geschichte mit dem Ende meiner Schulzeit. Ich bekam 1976 wegen meines eher undisziplinierten Verhaltens und fehlenden politischen Engagements keine Zulassung zur damaligen Erweiterten Oberschule. Die Zulassung für eine Berufsausbildung mit Abitur konnte jedoch über einige Nebenwege erreicht werden. Die so eigentlich nicht geplante Berufsausbildung als Buchbinder (1976–1979) sollte sich schon kurze Zeit später als Glücksumstand erweisen, denn der erlernte Beruf gab mir enorme persönliche Sicherheit. Nach besagter Ausbildung hätte ich gern Medizin studiert – das war mein einziger Studienwunsch –, aber es wurde Lehramt.

Buchausschnitt: Immatrikulation 1981 (S. 21-24)

Zurück aus dem Ernteeinsatz, folgte der ersten kollektivbildenden Maßnahme, Kollektiv und Maßnahme, zwei zwischenzeitlich fast vergessene typische Begriffe, Anfang Oktober der feierliche Höhepunkt, die festliche Immatrikulation im Gewandhaus zu Leipzig. Ein unglaubliches Gefühl erfüllte das Haus. Da saßen über 1500 junge Menschen im Großen Saal und wussten eigentlich nicht im Detail, was kommen würde, aber irgendwie fühlten sich die meisten nun endgültig der Schulzeit entkommen und endlich, obwohl noch keine Vorlesung gehört, in die Reihen der zukünftigen Intelligenz aufgenommen. Man spürte sprichwörtlich das Funkeln der Augen und die Neugier auf Kommendes in den Köpfen.

Mir erging es nicht anders. Man saß herrlich in den weinroten Sitzen, aus der in die Rückenlehnen integrierten Klimaanlage, Hightech in der DDR, strömte ein angenehmer Luftzug und von der Saalempore eröffnete sich ein fürstlicher Ausblick. Für kurze Zeit gingen mir, obwohl mit 21 Jahren wahrlich nicht im Alter für eine Lebensrückschau, einzelne Stationen des Weges bis in die Universität durch den Kopf.

„Geschafft, du hast es tatsächlich an die Uni geschafft, wenn die dich hier alle sehen könnten“, ohne Partei, ohne FDJ-Arbeit, um die sich meine Klassenlehrer zur Disziplinierung an der Polytechnischen Oberschule so bemüht hatten, zum Kassierer der Beiträge für ein Jahr reichte es mit der Konsequenz, dass eine Wiederwahl ausblieb. Eine Delegierung zur Erweiterten Oberschule erübrigte sich durch mein leider nicht gänzlich tadelloses Verhalten und Ablehnung sämtlicher militärischer Berufsvarianten. Der Umweg über die Berufsausbildung als Buchbinder mit Abitur dauerte nur ein Jahr, stellte aber eine sehr hilfreiche Lebenserfahrung dar. Eigene Einblicke in die volkseigene Produktion und praktische Arbeit mit den Werktätigen erweiterten den Horizont und verschafften Bodenhaftung.

Medizin wollte ich eigentlich und ernsthaft studieren. Da jedoch an der Kommunalen Berufsschule Biologie bis zum Abitur nicht angeboten wurde, musste ich den Kurs zusätzlich an der Volkshochschule im Abendprogramm absolvieren, um die Zulassungskonditionen zu erlangen. Dann, Anfang 1979, traf mich der erste Tiefschlag: Ablehnung des Studienwunsches Medizin mit der Begründung zu schlechte Leistungen in den Fächern Staatsbürgerkunde und Russisch. So war das also, nicht dass ich mich nicht ernsthaft bemüht hätte, das Abitur im Fach Biologie zusätzlich zu absolvieren und man das als Motivation hätte bewerten können. Nein, für eine Arztausbildung in der DDR zählten Staatsbürgerkunde- und Russischleistungen. Fast schizophren mutete die sich anschließende Studienlenkung an. Nun war ich kein Held und hatte auch so schnell nicht vor, einer zu werden. Mit dem erlernten Beruf als Buchbinder besaß ich eine hilfreiche Alternative und verspürte keine Lust auf die beharrliche Tour, die möglicherweise jahrelange Arbeit als Hilfspfleger in Krankenhäusern verbunden mit ständigen Wiederholungsbewerbungen für Medizin. Man hatte von diesem Weg gehört, aber die Aussicht auf Erfolg war nicht sicher gegeben. Dann lieber später eine eigene Buchbinderei. In Leipzig existierten noch zahlreiche kleine Druckereien und Buchbindereien, allein in Gohlis kannte ich drei, die Anfang der achtziger Jahre einen Nachfolger suchten. So führte der Weg der Studienberatung weiter ins Umlenkungsverfahren. An dieser Stelle sei eingefügt, früher war die Betreuung aller Abiturienten und die Studienlenkung ein üblicher geregelter Prozess mit dem Ziel, die Jahrgänge entsprechend der geplanten Hochschulkapazitäten und Nachwuchserfordernisse zu verteilen. Keiner sollte verloren gehen, für jeden fand sich irgendwo in der Republik ein Studienplatz. Was dann kam, überraschte vollkommen. Mit klarem Ton, ohne jegliche Emotionen verkündete die Verantwortliche:

„Herr Schulz, Ihnen sind die Ablehnungsgründe für ein Studium der Medizin, Ihre gesellschaftlichen Aktivitäten und die nicht ausreichenden Leistungen in Russisch und Staatsbürgerkunde, bekannt. Aber wir bieten Ihnen ein Studium an der Karl-Marx-Universität Leipzig als Diplomfachlehrer für Geschichte/Deutsch an.“ Durch meinen Kopf schossen die Gedanken wie Blitze. „Kneif dir sofort in den Oberschenkel – bist du wach – hast du wirklich richtig gehört, Lehrer, Lehrer für …? Mein Gott, was läuft hier ab, du kannst aus bekannten Gründen keine Patienten behandeln – aber als Lehrer wollen die dich auf Kinder loslassen?“ Für einen Moment nicht zu glauben. Ausgerechnet Lehrer, haben die nie mit meiner alten Schule gesprochen? Jedoch hatte der Vorschlag durchaus Charme. Die Zusage, gleich im Herbst 1981 – direkt nach dem Grundwehrdienst – beginnen zu können, beflügelte meine Entscheidung. Positiv klang Universität Leipzig, zum Glück nicht an einer Pädagogischen Hochschule. Diese hatten auf Grund ihrer vollständigen Verschulung der Ausbildung und der damit verbundenen stärkeren Politisierung einen katastrophalen Ruf als Margots Kaderschmiede. Durch die einseitige Fixierung auf die Pädagogikausbildung fehlte häufig der wissenschaftliche Tiefgang.

Die Immatrikulation sollte an der Sektion Geschichte der Karl-MarxUniversität Leipzig erfolgen. Universitäten galten selbst am Ende der siebziger Jahre noch als Zentren der Wissenschaften und inhaltlich offener in den Studiengängen. Der Mix aus Medizinern, Theologen, Natur- und Geisteswissenschaftlern versprach liberalere Ansätze. Die Forschung an Universitäten unterlag grundlegenden Zwängen, fand aber statt. So stimmte ich einem Studiengang zu, an den ich vor Tagen nicht im Entferntesten gedacht hatte und Ende März 1979 hielt ich meinen Zulassungsbescheid für das Studienjahr 1981/82 in der Hand. Man war überzeugt, „dass ich das in mich gesetzte Vertrauen jederzeit durch sehr gute Leistungen und tatkräftige Mitarbeit zur allseitigen Stärkung unserer sozialistischen DDR rechtfertigen werde“. Und in Anlehnung an meine erfolglose Medizinbewerbung erteilte mir die Zulassungskommission folgende Auflage: „Wir erteilen Ihnen die Auflage, die Leistungen im Fach Russisch auf die Note 3 und empfehlen, die Leistungen im Fach Staatsbürgerkunde bis zum Abitur zu verbessern.“ Natürlich dachte ich auch an die vielen Lehrer, die sich in den zurückliegenden Schuljahren mit mir abplagen mussten. Denen hatte ich es wahrlich nicht leicht gemacht mit meinem Verhalten. Wenn die von meinem Lehrerstudium erfahren würden, ich glaube es käme einem Genick schlag sehr nahe. Willis Worte fielen mir ein. Willi, 1915 im Leipziger Osten geboren, schuftete bis zur Rente 1980 als Buchbinder an seiner Papierschneidemaschine im Grafischen Großbetrieb Interdruck und war einer meiner praktischen Ausbilder. Willis Maschine aus den dreißiger Jahren tat immer noch ihre Dienste neben einer sehr modernen aus den Siebzigern. „Mein Junge sei froh, dass du einen vernünftigen Beruf erlernst.“ Und ich war gerade dabei, die Reihen der Buchbinder zu verlassen. „Willi“, sagte ich zu mir, „wenn die Sache schief geht, dann habe ich wenigstens bei Dir viel gelernt.“ In wenigen Minuten schloss sich der Kreis von der Schulzeit bis in diesen Sessel.

Die in der DDR zunehmende Militarisierung ging auch an der Universität Leipzig nicht spurlos vorüber. Spürbar wurde es besonders im Komplex der militärischen Ausbildung innerhalb des Studiums. Ich möchte an dieser Stelle nicht über universitäre Zwänge sprechen. Mit Sicherheit war es unstrittig, dass sich eine Universität nicht den systembedingten Konditionen entziehen konnte. Aber die handelnden Akteure hatten schon die Chance, die staatlichen Zwänge so oder so auszuführen. Das eigentliche Trauerspiel bildeten Dozenten, Wissenschaftler und andere Universitätsmitarbeiter, die sich auf diesem militanten Feld mehr engagierten und sich politisch mehr zu Hause fühlten als in der eigentlichen Wissenschaft. Diese Scharfmacher trugen aus meiner Sicht die Hauptverantwortung für die Politisierung und Militarisierung der Universität, denn sie bestimmten und reglementierten den Alltag. Die wenigen aufrechten Wissenschaftler wie die Professoren Karl Czok, Siegfried Hoyer und Hartmut Zwahr konzentrierten sich auf die Vermittlung fachwissenschaftlicher Inhalte und hielten sich auffallend zurück. Und es war nicht nur eine Frage der militärischen Ausbildung der Studenten, auch die Studentinnen mussten sich diesem Thema stellen.

Dazu ein weiteres Erlebnis:

Buchausschnitt: Militarisierung – ein Trauerspiel 1982 (S.33-34)

Ein Trauerspiel, und alle, die glaubten, mit einer zivilen Berufswahl oder einem Studienplatz sei das Thema Armee ausgestanden, wurden eines Besseren belehrt. Militärwerbung in der DDR nahm kein Ende. Die Studenten mussten zu Beginn des dritten Semesters ein mehrwöchiges Armeelager in Seelingenstädt als offiziellen Bestandteil der militärischen Ausbildung durchlaufen. Einige als Soldaten-, andere als Offiziersanwärter.

Kasernierung, Uniformen, das gesamte militärische Grundprogramm mit Sturmbahn, Märschen über Wiesen und durch Wälder sowie Politunterricht erwartete uns erneut. Das Armeelager zählte als NVA-Reservedienst und dem entsprechend straff erfolgten die Organisation und der

Drill.

Weil nur geteiltes Leid halbes Leid ist, durften auch die Studentinnen einrücken. Sie hatten zeitgleich in einem Lager für Zivilverteidigung das Vergnügen, sich einer leicht abgespeckten Variante der Militärausbildung zu unterwerfen. Untergebracht in einem Barackenlager zwischen Leipzig und Halle, durften auch sie endlich erste militärische Erfahrungen sammeln. Vermutlich fiel es ihnen noch schwerer, denn diesen paramilitärischen Nonsens kannten sie bis dato nur vom Erzählen oder aus den Briefen ihrer Freunde. Die Schilderungen nach dem Abschluss des Lagers klangen für uns nicht überraschend, für die Studentinnen kam es einem Kulturschock nahe. War es für Daggi und Co. anfänglich noch teilweise belustigend, sollte sich die Stimmung langsam aber sicher dem Tiefpunkt nähern. Eingekleidet in Ersatzuniformen mit Käppi und Koppel, begaben sie sich in die Hände ihrer Ausbilder, die sich aus besonders übereifrigen Dozenten oder hauptberuflichen Zivilverteidigern rekrutierten. Schon der im wahren Sinne des Wortes Frühsport (fünf Minuten nach Sechs) erzeugte Frustpotential für den Rest des Tages. Das Absolvieren der Sturmbahn und Robben über frisch geweidete Schafswiesen führten an den Rand von Nervenzusammen brüchen. Die Tatsache, dass ein Nachdenken über Sinnhaftigkeit bestimmter Übungen nicht erwünscht war, blieb den meisten bis dato erspart. Wahre Begeisterung kam bei der Übung Atomangriff auf: Die Gruppe lief über ein Feld und der Ausbilder brüllte wie von einer Hornisse gestochen „Atomangriff“. Wie vom Blitz getroffen schmissen sie sich alle flach auf die Erde und durften ja nicht in die Explosion schauen, Hände auf den Kopf und warten bis sich der atomare Sturm gelegt hat – so einfach war Überleben oder aufpassen, dass der Gasmaskenrüssel richtig mit dem Filter verbunden ist, sonst erlebt man den Sieg des Sozialismus nicht mehr. Exerzierübungen mit „Stillgestanden und Ruhe im Glied“ stellten dagegen für die gesprächigen Damen ein grausames Moment dar. Truppenverpflegung aus der Feldküche ließ Lagerfeuerfeeling aufkommen. Wie bei den Soldaten gab es nur an bestimmten Tagen Ausgang. Aber das Lager hatte auch wenigstens eine gute Seite, die Frauen lernten Kartoffelschälen. Küchen dienste standen ebenfalls mit auf dem Plan und mehrere hundert Studentinnen verdrückten in den Wochen eine Menge Kartoffeln. Die große Mehrheit zeigte sich hocherfreut, als sie wieder ins Wohnheim einzogen, welches ihnen nach dem Lageralltag wie ein Grandhotel vorkommen musste.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal eine kurze Zeitreise in die späten 70er und frühen 80er Jahre unternehmen. Ich nenne nur wenige Schlagworte und Ereignisse, Sie werden sich erinnern: 1979 Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, Charta 77, Papst Johannes Paul II., aufkommende Proteste in Polen, Solidarnosc, drohende Rüstungseskalation, NATO: Pershingraketen – Ostblock: SS-20-Raketen. In der damaligen DDR konnte für jedermann, wenn man Pech hatte, jegliches Sympathisieren mit der westlichen Welt bei gleichzeitiger Ablehnung sozialistischer Grundwerte das berufliche Aus bedeuten. Das war wahrlich keine tolerante Zeit.

Buchausschnitt: Militarisierung – ein Trauerspiel 1982 (S. 35-38)

Der Zeitraum der frühen achtziger Jahre bildete den idealen Nährboden für Kriegshysteriker und Chefideologen. Die DDR mutierte zur Kaserne. Hochrüstung in beiden Teilen Deutschlands, und die DDR militarisierte sich von der Insel Rügen bis zum Fichtelberg, vom Kindergarten bis zum Kombinat. Atomkriegsängste wurden geschürt und ein Szenario konstruiert, nach dem man annehmen musste, jeden Moment würde die US-Invasion beginnen. Da gab es nur eine Antwort, alle an die Waffen, der Sozialismus muss verteidigt werden, mit Mann und Maus. In den Betrieben gründete man eine Kampfgruppe nach der anderen. Mit aussortierten Gewehren und „Eisenschweinen“ ging es an den Wochenenden in die Manöver. Das Feindbild war so klar wie simpel, hüben die Friedliebenden und drüben die Bösen. Besuche bei den für den Frieden kämpfenden Soldaten gehörten für Kindergärten und Schulen zum Alltag.

Aber nicht genug mit diesen Militärlagern für Männlein und Weiblein, die Sektion Geschichte wollte die Ausbildung beziehungsweise ideologische Positionierung ihrer Studentenschaft im Vorfeld noch überbieten. Alle potentiellen männlichen Lageristen sollten sich freiwillig für eine Reserveoffiziersausbildung (ROA) in den Reihen der Nationalen Volksarmee verpflichten. So genau hat über die Motive der Sektion keiner gesprochen, aber es war klar, dass die Sektion Geschichte universitätsintern glänzen, ihren Klassenauftrag mit Höchstquote erfüllen wollte. Man musste und wollte bessere Werte bringen als die anderen Sektionen, man bildete schließlich das geistige Zentrum der revolutionären Weltbewegung. Das gesamte Agitationsprogramm wurde jeweils im Frühjahr abgespult, damit die Studenten noch rechtzeitig in die Ausbildungskompanien der Reserveoffiziersanwärter eingetaktet werden konnten. Irgendwann war ich an der Reihe, und so teilte ich Dr. Pfeffer nach einem ersten Gespräch mit, dass das mit ROA für mich nicht in Frage käme. Es vergingen nur wenige Tage und die Einzelbearbeitung sollte starten.

Erneut musste ich zu Dr. Pfeffer, der zu seiner Verstärkung den Assistenten Salz von der Methodik mit ins Feld führte. Es wurde spannend und interessant, aber auch die Brisanz nahm zu. Überhaupt konnte man ohne Übertreibung konstatieren, dass die größten militärischen Scharfmacher nicht selten die fachlichen Tiefflieger in Personalunion verkörperten. Die wirklich integeren Historiker hielten sich wohlwollend zurück. Und dann geschah, was geschehen musste. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen einer Audienz beim Sektionsdirektor. Einige Tage vorher traf ich den Professor im Seminargebäude und es war unschwer zu erkennen, dass er sich nicht wohl fühlte in Erwartung der anstehenden Audienz. Ich erlebte den Professor das erste Mal mehr als Psychologen statt als Historiker. Und auch diesen Job erledigte er nicht schlecht. Keine Agitationsversuche, kein Überreden, vielmehr bedachte Worte mit einem Appell, meine Entscheidung so zu treffen, dass ich damit leben kann. Das war mehr als ich erwartete, ich verstand dieses Signal seiner Distanz und wusste, er war zu diesem Gespräch als Seminargruppenberater zwangsverpflichtet. Meine ablehnende Haltung hatte sich zwischenzeitlich an der Sektion herumgesprochen und wie es aussah, hatten sich fast alle anderen Studenten für die ROA bereit erklärt.

Das Gesprächszimmer mit den holzvertäfelten Wänden einschließlich Honeckerbild und glanzloser Einrichtung sah aus wie eine gute Funktionärsstube. Diesmal erwarteten mich drei Herren, den Professor zählte ich nicht mit. Moderat im Ton begann der Direktor, taktisch an verschiedenen Stellen von seinen Vasallen Pfeffer und Salz ergänzt, die lange Geschichte von Krieg und Frieden, vom Klassenfeind und der Wachsamkeit, von Sozialismus und ideologischer Diversion. Und den Sozialismus überhaupt, den müsse man verteidigen, dazu gäbe es keine Alternative. Man sehe in diesen Tagen im Nachbarland Polen, wie die imperialistische Konterrevolution tätig sei. Aber die Studenten, auf die käme doch eine besondere

Verpflichtung zu, würden sie doch auf Kosten des werktätigen Volkes studieren. Und die Werktätigen in den Betrieben, jeder würde an seiner Front kämpfen. Arbeiterklasse sei Dank.

Auf Durchgang schalten konnte ich nicht, vielmehr brauchte ich alle Konzentration, um den drei Herren argumentativ zu folgen. Das Kostenargument, eher moralisch interpretierbar, war wie gesagt schon angesprochen und es folgte der Punkt, wo man über das Studienende und die Arbeit in der Produktion sprach. Dabei hatte man nicht offen und unverhohlen gedroht, nein – die Genossen verkörperten doch die sozialistische Intelligenz, und da wird feiner formuliert. Es glich einem Kreisen des Bussards, der noch nicht zugestoßen hatte, über seiner Beute.

Die Uhr schien stehengeblieben zu sein, Sekunden dehnten sich aus zu Minuten, die Zeit verging nicht. Eigentlich wollte ich nichts sagen, ich hatte mir fest vorgenommen mehr zu schweigen als zu reden, meine Beweggründe brauchten die Genossen nicht zu wissen und jedes überflüssige Wort barg die Gefahr, dass man sich irgendwie versprach. Das wäre mir fast passiert, denn die Bemerkung über die Konterrevolution in Polen konnte ich leider nicht unkommentiert lassen, ich sagte: „Ich habe eher Bilder gesehen, wo polnische Armeefahrzeuge gegen ihre eigenen Landsleute in Stellung gegangen sind. In Danzig streiken die Arbeiter auf den Werften. Die riegeln ihre eigenen Fabriken ab. Und wenn die Bruderarmeen einmarschieren, macht die Nationale Volksarmee dann mit?“

Ende 1981 verhängte Polens Staatschef Jaruzelski über sein Land das Kriegsrecht, weil in den Städten die eigene Bevölkerung streikte. Mit seiner Sonnenbrille und der Uniform, dieses Bild ging seit Monaten durch die Medien, ähnelte er einem Diktator einer Bananenrepublik. Ein Einmarsch der Russen wie 1968 in Prag lag in der Luft. Und dann argumentierten die hier mit imperialistischer Konterrevolution.

Noch während ich antwortete, bemerkte ich meinen Fehler, und zog mich aufs Schweigen zurück. Die Stimmung wurde gereizter, mein staatsbürgerliches Pflichtbewusstsein und Geschichtsverständnis seien fragwürdig. Ideologische Sichtweisen des Gegners wären erkennbar. Für die Sektion Geschichte sei meine Weltsicht ein ernstzunehmendes Problem. Sie hatten jetzt noch einen weiteren Angriffspunkt und dann kam die diesmal folgerichtige und offenere Bezugnahme auf den späteren vorgesehenen Lehrerberuf sowie die Möglichkeit der vorzeitigen Arbeit in der Volkswirtschaft, sollte ein plötzliches Studienende mit dieser Einstellung nicht zu vermeiden sein. Ein Jahr praktische Bewährung konnten sich die Herren Agitatoren auch vorstellen.

Damit, vermutlich ungewollt, trafen die Genossen genau den Punkt, der mich innerlich mehr erstarken als erschauern ließ. Ähnliche Typen hatten mich erst vor wenigen Jahren mit meinen Staatsbürgerkunde- und Russischnoten von Medizin in diese Studienrichtung umgelenkt. Wenn ich Angst vor Vielem hatte, aber nicht vor dem Studienende und vor praktischer Arbeit. Der Traum von der kleinen Druckerei war noch nicht gänzlich verflogen. Ich schaute mir die Gesichter, hauptsächlich von Dr. Pfeffer und Salz, an und dachte, wer von euch hat denn hier schon einen Betrieb von innen gesehen? Ihr sitzt hier ohne Vorstellung, wie es in den Betrieben aussieht und erzählt dummes, aber leider gefährliches Zeug. Dem Professor hätte ich die Situation gern erspart. Nur ruhig bleiben, am besten auf die Sachen nichts entgegnen, kein Kleinklein, keine Wortklaubereien, jedoch eine Antwort erwarteten die Herren.

„Wissen Sie eigentlich, dass ich einen sehr schönen und vernünftigen Beruf erlernt habe und können Sie sich vorstellen, dass für mich Arbeit im Arbeiter- und Bauernstaat wirklich keine Schande ist? Ich habe Buchbinder gelernt, keine fünf Straßen von hier um die Ecke in der Inselstraße, bei Interdruck als Maschinenführer gearbeitet und fast doppelt so viel verdient, wie ich es als Lehrer verdienen würde.“ Die Herren schauten leicht irritiert, sollten sie sich nicht richtig vorbereitet und den winzigen Fehler begangen haben, meinen Beruf zu vergessen? Jedenfalls begriffen sie, ihre Drohung mit Bewährung in der Produktion lief ins Leere. Die Luft war raus und das Gesprächsende nahe. Es ging in die Schlussschleife mit den üblichen Floskeln, es mir nochmals zu überlegen und ich bekam Zeit zum Nachdenken. Im September fuhr ich als Soldat nach Seelingenstädt und kam als Soldat wieder.

Mir ging es damals nicht ansatzweise darum, zu protestieren oder zu hinterfragen. Weder wollte ich eine Systemänderung bewirken noch einen großen eigenen Beitrag dazu leisten. Vielmehr war ich eigentlich nur egois tisch, auf mich und auf meine eigenen Lebensvorstellungen bezogen. Ich war Fan von Bob Dylan, las nächtelang amerikanische Literatur, also die Bücher, die man bekommen konnte, träumte von der weiten Welt und hoffte, irgendwann kommt die Zeit. Ich wollte einfach aus eigenen Gründen diesen ganzen parteilichen und militärischen Unfug nicht. Angepasst war ich mehr als genug, aber ich war nicht bereit, mehr als den Mindestpreis zu zahlen, mich weiter als unbedingt notwendig mit dem System einzulassen.

Ich könnte noch mehrere kleine Geschichten und Erlebnisse zum Besten geben, doch ich komme zum Ende meines Vortrages und meines Studiums an der hiesigen Universität. Wie schon bei meiner Studienplatzvergabe sollte der Russischnote wieder eine besondere Rolle zukommen.

Buchausschnitt: Die Exmatrikulation (S. 90-92)

Bevor wir unsere Diplome erhalten sollten, wechselten sich viele Reden und die üblichen Rituale ab. Partei- und FDJ-Funktionäre sprachen, ein Grußwort des Rektors folgte, ein Vertreter der Studenten dankte artig für das Vertrauen der Partei und versprach, als Gegenleistung immer und an jedem Ort der Republik für die Sache der Arbeiterklasse zu kämpfen. Noch einige musikalische Klänge, dann begann die Diplomvergabe.

In Gruppen eingeteilt lagen die begehrten Dokumente mit einzelnen Blumen wohl sortiert auf einem Beistelltisch neben dem Rednerpult. Man hatte sich von den verschiedenen Varianten der Übergabe, nach Seminargruppen, alphabetisch oder nach Leistungsgruppen auf letztere festgelegt. Nach „mit Auszeichnung“ und „sehr gut“ folgten mit dem Preis der Sektion, Nachwuchsförderung sowie anderen Ehrungen einige Einzelübergaben. Es folgte am Schluss die Gruppe „befriedigend“, nachdem „gut“ erledigt war. Mit gewisser Ungeduld hörte ich meinen Namen zum Aufruf, ich weiß bis heute nicht, ob in der vorletzten oder letzten Gruppe. Leicht irritiert, aber insgesamt noch frohen Mutes ging ich nach vorn zur Diplomübergabe und schaute zuerst auf das Diplom und dann auf das Hochschulzeugnis: Prädikat „befriedigend“.

Ich stand wie gelähmt vorn im altehrwürdigen Festsaal mit denen, die gerade so mit viel Fleiß durchgekommen waren, denen vieles nicht leicht gefallen war und die sich wirklich bemüht hatten, das Studium zu absolvieren und denen, die nach dem Willen der Partei und Sektion nicht durchfallen durften. Nein, in dieser Gruppe sah ich mich nicht. Das war nicht mein Platz. Das kann nicht sein, vermutlich handelt es sich um einen Fehler, bei meinen Noten eigentlich ein Unding. Hier stand ich also, diese Gruppe mit nur noch wenigen Studenten bildete das Schlusslicht des Jahrganges. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, ging es zurück an die Plätze. Der Gang durch den Festsaal nach der Diplomübergabe zurück an meinen Platz kam mir wie ein Spießrutenlauf vor, ich konnte die Säbelhiebe spüren, dieses Gefühl verließ mich nicht. Mit Sicherheit haben meine Mitstudenten diese Situation und meine Prädikatsgruppe überhaupt nicht bemerkt, alle schauten mehr oder weniger beglückt in ihre gerade erhaltenen Zeugnisse, aber ich fühlte, als bohrten sich tausende Blicke in meinen Nacken.

Der weitere Verlauf der Exmatrikulation bis zum Ende zog an mir in weiter Ferne vorbei. Zum Glück saß ich auf einem Stuhl, sonst wäre ich vermutlich umgefallen. Immer wieder überflog ich des Zeugnis, aber beim besten Willen, ich konnte mir das Prädikat nicht erklären, nur in Russisch gab es nach dem vierten Semester die Note „vier plus“. Das kann nicht sein, dass diese einzelne Teilnote so das gesamte Studienprädikat beeinflussen sollte, unvorstellbar. An die Einbeziehung der Russischnote in das Prädikat des Hochschulzeugnisses dachte ich bis zu diesem Moment keine Sekunde. Mit nachträglicher Entschuldigung gegenüber meinen Mitkommilitonen, die mit mir in der gleichen Gruppe nach vorn gingen, das Prädikat hatte ich nicht verdient. Ich wusste natürlich, irgendwelche Preise bekommst du nicht, auch war mir klar, für „sehr gut“ würde es nicht reichen, aber „befriedigend“? Über mehrere Semester bekam ich ein Leistungsstipendium, besuchte als einer der wenigen Studenten der Lehrerseminargruppen zusätzliche Seminare bei den Historikern und Germanisten, schrieb mehr Referate als notwendig, versuchte mich für ein Semester in Latein und gehörte, man muss mit Eigenlob wirklich zurückhaltend sein, zu den leistungsstärksten Studenten.

In meiner offiziellen Universitätsabschlussbeurteilung las ich den Satz „… da er stets kontinuierlich arbeitete, … erzielte er gute, teilweise sehr gute Studienergebnisse“. Na also Roman, da steht es schwarz auf weiß. Und dann stehst du in der letzten Reihe, bei denen, die es gerade so geschafft haben. Alles was ich noch konnte, war meinen Durchschnitt zu errechnen, knapp über „zwei-null“, die vier in Russisch eingerechnet, ohne Russisch unter zwei-null. Alle drei Haupt- und Abschlussprüfungen im Hauptfach mit „sehr gut“, selbst im Rotlichtbereich „gut“, dazu „befriedigend“ in Psychologie und Nebenfachmethodik. Prädikat „befriedigend“ – dafür hast du jahrelang die Bibliotheken unsicher gemacht, unfassbar. Und dann betrittst du als letzter die Bühne. Und allmählich kam der Verdacht auf, die haben dich doch nicht etwa bewusst auf diesen Platz gesetzt?

Dieses Gefühl der Niederlage brannte unglaublich.

Während sich unmittelbar am Ende die meisten zu einem letzten Gespräch locker gruppierten, freudig plauderten und die Glückwünsche der Eltern entgegennahmen, bewegte ich mich in meinem eigenen Tunnel. Der ganze festliche Rummel ging an mir vorbei. Ich wollte die Sache aufklären und bedrängte Professor Vogel. Ich fuchtelte wild mit dem Hochschulzeugnis vor seinen Augen herum und redete auf ihn ein, schauen sie auf diese Noten, wieso dann dieses Prädikat? Sie haben es doch als amtierender Sektionsdirektor unterschrieben. Meine Hoffnung auf ein Versehen platzte wie eine Seifenblase. Mit seiner ganzen institutionellen Macht ließ mich Vogel abblitzen und verkündete mir mit breitestem hämischem Grinsen:

„Herr Schulz, was erwarten sie eigentlich von uns, Sie wissen doch, eine Kann-Bestimmung bestimmen immer noch wir. Haben Sie wirklich geglaubt, wir legen die Bewertungsspielräume ausgerechnet bei Ihnen zu Ihren Gunsten aus?“

Wer glaubt, dass mein Studienprädikat ein Zufall war, kann das wirklich gern denken. Ich bin mir relativ sicher, es war der Preis für meine vielen kleinen Abweichungen. Den habe ich wirklich gern bezahlt, auch wenn mich 1985 die Situation wahrlich nicht erfreute. Die Hoffnung auf ein – wie man damals sagte – Forschungsstudium hatte ich freiwillig und ohne jeglichen Kummer schon Monate vorher begraben. Ohne Partei, Stasi, NVA oder anderes sozialistisches Engagement blieb dieser Weg verschlossen. Das war genau der Karriereverzicht, den ich anfangs erwähnt hatte und den ich ohne Groll respektierte. Aber das Prädikat schmerzte trotzdem. Denn spätestens am Morgen nach der Exmatrikulation war mir klar, das war der Abschied von der Wissenschaft für immer! Auch nach Jahren als Lehrer würde ich mit „befriedigend“ nie eine Chance haben.

Sie können sich unschwer vorstellen, dass ich über den Herbst ’89 mehr als erfreut war. Für kurze Zeit hatte ich 1990/91 überlegt, nochmals in die Wissenschaft einzusteigen. Aber man kann Glück und Erfolg nicht suchen, es kommt oder es kommt nicht. Und die Jahre seit der Friedlichen Revolution sind gut verlaufen.