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Schule als Ort demokratischer Bildung

Lothar Bienst MdL

Ich bin im Jahre 1956 geboren, ich zähle mich noch als Nachkriegskind und zwar deshalb, weil mein Leben von den Nachkriegsjahren noch heute begleitet wird.

Mein Vater, 1945 16 Jahre alt, war weder an der Front noch im aktiven Wehrdienst, aber wurde im Juni 1945 verhaftet, nach Bautzen gebracht und von dort nach Sibirien ins Arbeitslager abtransportiert. Er ist nach drei Jahren, zum Jahreswechsel 1948/1949,  körperlich einigermaßen gesund, aber doch gebrochen, zurückgekehrt. Für ihn, heute 83-jährig und geistig rege, haben die damaligen Erlebnisse, die Jahre in der russischen Gefangenschaft oberste Priorität und fast jedes Gespräch endet eben mit dem Erlebten in seiner Jugendzeit.

Die Gespräche mit ihm und seine Erfahrungen prägten mein Tun nachhaltig.

„Junge”, sagte er zu mir, „gehe niemals in eine Partei und lass die Finger von der Politik, Politik ist eine Hure”, so seine Lebensweisheit, die er mir schon mit sieben oder acht Jahren mit auf den Weg gab.

Die Polytechnische Oberschule fiel mir leicht, die Noten waren gut bis sehr gut, also reifte in mir als aktiver und bekennender Christ der Wunsch, mit einem Abitur und anschließendem Jurastudium dem, schon rechtzeitig erkannten Unrecht, im sogenannten sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat, entgegenzutreten. Mein Schuldirektor nahm mich an die Seite und warnte mich vor möglichen Folgen, die mir als Christ im Staat widerfahren könnten. Ich ignorierte seine Warnungen, ging nach der Klasse 8 zur EOS in die Kreisstadt und musste recht bald erfahren, wie die Machthaber tickten.

Drei Jahre Wehrdienst sollte ich leisten oder besser eine Offizierslaufbahn einschlagen, dies waren die Empfehlungen oder sollte ich sagen „Weisungen” der Genossen in der Schulleitung. Sollte ich nicht einwilligen, bekäme ich keinen Studienplatz, so der Schuldirektor.

„Mit mir nicht“, so meine Antwort, ich verließ die Schule nach der 10. Klasse, meinen Traum musste ich vertagen. Berufsausbildung mit Abitur wurde mir verwehrt, also habe ich einen handwerklichen Beruf erlernt, ich wurde Elektromonteur. Nach einem Jahr und 4 Monaten lernte ich vorzeitig aus. Ich nutzte die Chance bzw. das Angebot an der Bergakademie Freiberg mit einem Sonderstudium in einem Jahr das Abitur zu erlangen und im Anschluss in Freiberg zu studieren. Ich wurde immatrikuliert und noch im Jahre 1975 zum Wehrersatzdienst einberufen. Während dieser Zeit unterbreitete mir das Kraftwerk Boxberg, mir als Arbeiterkind, die Möglichkeit nach dem Wehrdienst in zwölf Wochen die Hochschulreife zu erlangen und an der Ingenieurhochschule Zittau zu studieren. Ich schrieb Freiberg ab, erreichte in zwölf Wochen die Hochschulreife und wurde dann nach vier Jahren, auch ohne eine Unterschrift zum Reserveoffiziersanwärter geleistet zu haben, Diplomingenieur für Elektroenergieerzeugung.

Da ich noch eine kleine Rechnung mit meinem ehemaligen Berufsschullehrer offen hatte und man mich in der Zeit der Absolventenvermittlung fragte, ob ich mir vorstellen könnte an der BBS Boxberg zu unterrichten, dachte ich mir, das machst du zwei Jahre um diesen gewissen Lehrer zu ärgern und dann gehst Du als Projektierungsingenieur ins Kraftwerk. Aus dieser Rache wurde Leidenschaft und in der Funktion Lehrer war ich dann 28 Jahre tätig. Mit Zusatzaufgaben wie Fachleiter, Fachberater und seit 1990 in vielen politischen Funktionen tätig, habe ich versucht, durch meine Person Schule als Ort demokratischer Bildung zu leben.

Demokratisches Denken und Handeln ergibt sich nicht zwangsläufig aus der allgemeinen Erfahrung des alltäglichen Lebens. Das Elternhaus bildet die Basis dafür, ob und wie ein Kind Demokratie begreift und lebt. Es ist aber eben kein Garant für demokratisches Denken, das Verständnis für demokratische Prozesse und deren aktive Mitgestaltung.

Zu oft sind wirtschaftliche Verhältnisse im Elternhaus, soziales Umfeld und nicht zuletzt der mediale Umgang mit Demokratie und Politik, Staat und Verwaltung der Grund für mangelndes Interesse an Demokratie und politischer Mitgestaltung.

Siegfried Schiele und Gotthard Breit beschreiben es in ihrem Buch „Vorsicht Politik” sehr treffend: „Bei einer Umfrage in der Innenstadt von Hannover wussten nur ca. 50 Prozent der Befragten, was die Abkürzungen ‚CDU’ und ‚SPD’ bedeuten, über 90 Prozent der Passanten dagegen kannten die Bedeutung von ‚GZSZ’.” 

Ich glaube, eine ähnliche Umfrage in der Leipziger oder Dresdner Innenstadt hätte Ähnliches zu Tage gebracht. Wohl noch gravierender wäre es gewesen, die Passanten nach dem Verfahren zur Wahl des Bundestages oder gar des Bundespräsidenten zu fragen und dies in das Verhältnis zum Wissen um die Auswahl des letzten Gewinners von „Deutschland sucht den Superstar” zu setzen.

Dieses banale Beispiel zeigt uns, wie wichtig es ist, demokratische Bildung zu vermitteln. Nur wer Politik und Staat versteht, die Prozesse erkennt und Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklung unserer Gesellschaft zu nutzen weiß, wird sich der Entwicklung unseres demokratischen Systems positiv zuwenden können.

Was kann der Staat, kann die Politik für eine solche Entwicklung leisten? Und zwar parteiübergreifend und parteiunabhängig? Ich glaube wir sind uns hier alle einig, dass Schule erster und idealer Ort für die Herausbildung persönlicher und demokratisch strukturierter Kompetenzen eines jeden Schülers ist. Sicher, auch im Bereich der frühkindlichen Bildung finden wir erste Ansätze, die sich mit unserer Gesellschaft befassen. Gleichwohl sehe ich die Schule als idealen Ort, um diese Aufgabe zu meistern.

Was braucht Schule, um demokratische Bildung zu ermöglichen? Diese Frage habe ich mir als Lehrer, der ja noch vor einigen Monaten selbst im Prozess der Wissensvermittlung stand, gestellt und für mich selbst analysiert, welche Voraussetzungen das Bildungssystem haben muss, um Demokratie, das Verständnis für sie und deren Fortentwicklung sowie den positiven Umgang mit Politik und unserer Gesellschaft zu gewährleisten. In erster Linie sind es gut ausgebildete, didaktisch versierte und weltoffene Pädagoginnen und Pädagogen. Hier liegt nach meiner Meinung der Schlüssel für eine positive Entwicklung.

Ein Beispiel aus meinem Arbeitsleben: An meiner Schule arbeiteten vier Kolleginnen und Kollegen in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern. Ich saß seit 1994 zehn Jahre im Gemeinderat und bin noch heute im Kreistag, ich war und bin politisch in den vielfältigsten Gremien tätig, u. a. war ich auch stellvertretender Landrat. Ich habe in dieser Zeit stets meinen Kollegen angeboten, in meinen Freistunden über meine politische Arbeit zu berichten und für Fragen von Schülern und Auszubildenden offen zu sein. Nun raten Sie mal, wie viele Kollegen in wie vielen Stunden an der eigenen Schule davon Gebrauch gemacht haben. Die  Antwort: ein Lehrer für eine Stunde. So viel zu nutzbaren Möglichkeiten in Schule und zu Lehrersichtweisen.

Ich komme wieder zurück zu meinen Ausführungen. Wie soeben erwähnt, halte ich Pädagogen für den Schlüssel guter demokratischer Bildung an Schulen. Als essentiell erweist sich somit deren Ausbildung. Die Lehramtsausbildung im Freistaat Sachsen bildet den Grundstein guter Schule und damit auch demokratischer Bildung. Unsere Lehrerinnen und Lehrer müssen die Möglichkeit haben, im Rahmen ihres Studiums die inhaltlichen und didaktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erhalten, um Schüler für Gesellschaft und Demokratie, Politik und Mitgestaltung zu begeistern. Und genau diese Kompetenzen muss der angehende Pädagoge bereits im Studium erhalten. Hier kann ich nur an die Universitäten appellieren, die Lehramtsstudenten fachwissenschaftlich und fachdidaktisch bestmöglich auszubilden, um diese Kompetenzen für die spätere Anwendung vor der Klasse zu bilden – wertfrei, frei von parteipolitischen Selektionen und auf möglichst allen Abstraktionsebenen unserer Gesellschaft, von Kommunalpolitik bis hin zur Bundes- und europapolitischen Ebene.

Denn wenn wir diese sehr wichtige Aufgabe der demokratischen und politischen Bildung in sächsischen Schulen bewältigen wollen, müssen unsere Lehrerinnen und Lehrer in der Lage sein, die Schüler dort abzuholen, wo sie am Beginn eines solchen Lernprozesses stehen. Sie müssen an den grundlegenden sozialen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler sowie an ihrem politischen Vorwissen anknüpfen, dieses entsprechend der Unterrichtsgestaltung ordnen und bewusster machen, damit die komplexen Zusammenhänge unserer Gesellschaft erkannt werden können. Ich spreche von dem sogenannten „Roten Faden” beginnend in der frühkindlichen Erziehung, der Grundschule, der Mittelschule, im Gymnasium und der Berufsausbildung bis hin zum Studium.

Gerade die Individualität des Wissensstandes, unterschiedliche politische und soziale Prägungen und eine mitunter vorherrschende familiär initiierte Politikverdrossenheit stellen an die politische und demokratische Bildung und an die Pädagoginnen und Pädagogen besondere Anforderungen. Bereits in der Grundschule müssen wir erste Ansätze legen, um jungen Menschen Verständnis für gesellschaftliche Strukturen, das Funktionieren von Politik und Verwaltung und die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten zu vermitteln. Zu wissen, was eine Kommune, ein Landkreis oder ein Landesparlament ist, kann ein erster Einstieg auch im Grundschulalter sein. All das sind Wissensbausteine, die auf dem Weg zu demokratischer Bildung notwendig und sinnvoll sind.

Aber ich möchte auch noch eine andere Facette der demokratischen Bildung beleuchten, nämlich die der individuellen Kompetenzerweiterung des Schülers. Nicht nur, dass er nachvollzieht, wie Politik und damit unsere Gesellschaft funktioniert. Nein, er erlernt wichtige persönlichkeitsprägende Komponenten über die demokratische Bildung:

  • Toleranz gegenüber anderen, trotz unterschiedlicher Meinung, Religion oder Herkunft
  • Kommunikation und Artikulation eigener Meinungen auf der Ebene gegenseitigen Verständnisses
  • Analyse und Einordnung anderer Meinungen und Akzeptanz unterschiedlicher Standpunkte, Abgrenzung von extremistischen Gedankengut
  • Einflussnahme auf Gruppenentscheidungen und Mitwirkungsmöglichkeiten an individuellen Prozessen im gesellschaftlichen Leben
  • Gesellschaft und Politik positiv zu erleben.

Wir müssen unsere jungen Menschen dafür begeistern und sie dafür gewinnen, Politik und Gesellschaft mitzugestalten, aktiv und frühzeitig. Nur so kann es uns gelingen, egal ob etablierte Partei oder politische Newcomer. Und ich möchte es an dieser Stelle sagen: Uns ist nicht bange vor den Piraten oder den Freien Wählern. Sie sind Bestandteil eines demokratischen Prozesses und eines Mehrparteiensystems. Das ist es, was wir brauchen. Meinungsvielfalt und positive politische Auseinandersetzung. Was wir nicht brauchen, ist extremistischer Populismus, unabhängig von welcher Seite er kommt.

Im 22. Jahr der politischen Wende in Ostdeutschland hat politische Aufklärung noch mehr an Bedeutung gewonnen und muss durch uns weiterhin in hohem Maße unterstützt werden. Die hervorragende Arbeit der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen leistet einen sehr positiven Beitrag zur Aufarbeitung unserer Vergangenheit, sowohl in der DDR als auch zur Zeit des NS-Regimes. Diese Arbeit ist unerlässlich und sichert uns eine Informationsplattform, die demokratische Bildung erst möglich macht, sowohl in der Schule als auch außerhalb und im Rahmen der Qualifizierung unseres Lehrerpersonals. Es muss uns weiterhin gelingen, unsere Jugendlichen aufzuklären, ihnen zu zeigen, wozu undemokratisches Handeln, die Unterdrückung anderer Meinungen und die Ausgrenzung religiöser oder politischer Gruppen führen können. Extremismus schwächt unsere Gesellschaft, gefährdet das rechtsstaatliche System und führt dazu, dass sich unser Land nicht positiv und im europäischen Kontext weiterentwickeln kann. Aber gerade diese Entwicklung und das Verständnis für Demokratie in Sachsen, Deutschland und auch in Europa brauchen wir, wenn wir ein starker Partner in der EU bleiben wollen.

Politische und demokratische Bildung ist nicht losgelöst von Lehrplänen und Unterrichtsgestaltung zu betrachten. Sie muss sich in den verschiedensten Ebenen schulischer Bildung wiederfinden.

Die Mitsprache der Schüler in der eigenen Schule beispielsweise über gewählte Vertreter in den Klassen ist ein erster Baustein, der sich bis zum Landesschülerrat fortsetzt. Und wir nehmen diese Vertretungen ernst, sind sie doch Gradmesser für die Qualität von Schule und die Akzeptanz unserer Entwicklungsmaßnahmen in den Bildungseinrichtungen. Demokratische Bildung muss sich aber auch im regulären Unterricht finden. Geschichte, Gesellschaftskunde, Geographie, Kunsterziehung und auch MINT-Fächer eignen sich, um die jüngste Vergangenheit in unserem Land aufzuarbeiten und zu zeigen, was Demokratie und Meinungsfreiheit für hohe Güter sind und wie sehr man sich darum bemühen muss, sie zu wahren und fortzuentwickeln.

Und auch darüber hinaus ergeben sich in der Organisation von Schule und Bildung in Sachsen umfangreiche Möglichkeiten demokratischer Bildung. Exkursionen und Klassenfahrten sowie Schüleraustausche vermitteln Erfahrungen, die zur politischen Bildung und dem Erwerb persönlicher Kompetenzen unerlässlich sind, auch im Prozess um das Zusammenwachsen von Europa. Der Besuch von Parlamenten weckt Interesse an Politik und wenn die Abgeordneten ihrerseits dieses Interesse auch positiv aufgreifen, reift daraus positives Verständnis für politische Abläufe und Entscheidungen. Und auch die Bildung von Schüler- und Jugendparlamenten auf kommunaler Ebene kann in Kooperation mit Schulen ein Ausdruck oder das Ergebnis demokratischer Bildung im Freistaat Sachsen sein.

Ich möchte schließen mit einem Zitat aus „Demokratie hin oder her” von

Christine Böckmann aus dem Beitrag „Wie halten wir’s mit der Demokratie”

Sie schreibt: „Alle Erfahrungen in der Bildungsarbeit zeigen: Demokratie muss erfahrbar sein, wenn sie gelernt werden soll. Sollen Jugendliche Demokratie lernen, muss diese für sie konkret werden und nah an ihrer Lebensrealität erfahrbar sein. Dazu müssen sie in unserer konkreten Bildungsarbeit Erfahrungen von Mitbestimmung und demokratischer Auseinandersetzung machen können. Die Vermittlung von Demokratie darf dabei kein Lippenbekenntnis sein.” (aus: Miteinander e.V., 2010)

Wir als Politiker,  Pädagogen, Eltern und Erwachsene sollten dies beherzigen und uns daran orientieren. Vorbild und Akzeptanz wird Demokratie in Schule und im gesellschaftlichen Leben hier bei uns in Sachsen wachsen lassen. Lassen Sie es uns gemeinsam tun.