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Das Erziehungskonzept zur sozialistischen Persönlichkeit

Tina Kwiatkowski-Celofiga

An den Schulen in der DDR habe es „keine Agitation, keine Indoktrination, sondern Faktenvermittlung zur Herausbildung von Standpunkten” gegeben. Bildungsverbote als Strafe für Andersdenkende seien nur „Einzelfälle” gewesen. „Der Sinn der Volksbildung” habe darin bestanden, Kinder und Jugendliche zu „aktiven Mitstreitern und Gestaltern” des Sozialismus zu erziehen, die bereits in der Schule erste Kenntnisse zur militärischen Landesverteidigung erlernten. So lautet noch heute Margot Honeckers Auffassung zum Erziehungs- und Bildungswesen der DDR.

Demgegenüber steht eine Vielzahl von gebrochenen Biographien, die dieses Erziehungs- und Bildungssystem hinterließ, dessen Verantwortung 26 Jahre lang Margot Honecker als Ministerin für Volksbildung oblag.

Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage, welches Erziehungskonzept dem DDR-Erziehungs- und Bildungssystem zugrunde lag und ob sich die Aussage Margot Honeckers allein aufgrund dieses Erziehungskonzeptes nicht ad absurdum führen lässt.

In der DDR galten Bildung und Erziehung als umfassender Prozess, der laut Kleinem politischen Wörterbuch zielgerichtet auf die allseitige Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit einwirke, wissenschaftliche Kenntnisse und Erkenntnisse vermittele, Fähigkeiten und Fertigkeiten (Bildung) entwickle, eine sozialistische Weltanschauung und Moral herausbilde sowie ein entsprechendes Verhalten (kommunistische Erziehung) bewirke.

Die SED verfolgte die Erziehung zur allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit als grundlegendes Ziel, um das Individuum beim Aufbau des

Sozialismus in die neue Gesellschaftsordnung einzubinden.

GESCHICHTE DES ERZIEHUNGSKONZEPTES

Während des Bestehens der DDR unterlag der Erziehungsbegriff mehreren Änderungen, sodass die SED in den 1950er Jahren in einer Phase des Moralisierens danach strebte, ihr Erziehungskonzept zu etablieren. Die 1960er Jahre waren von der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft geprägt und die 1970er und 1980er Jahre zunehmend von der Vermittlung „sozialistischer Persönlichkeiten” und deren Lebensweise sowie ihrer Einbettung in den ideologischen Kampf beeinflusst, der sich nicht zuletzt auch in Form eines verstärkten Militarismus ausdrückte.

Die 1950er Jahre

Mit der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 erhielten die Schulen den Auftrag, die Jugend zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen. Die Grundlage dafür sollte ein angemessenes System moralischer Werte und Normen für das Verhalten des Einzelnen gegenüber Staat und Partei bilden. Das Ziel des staatlich und parteilich vorgegebenen Erziehungsprozesses war, dass sich der Einzelne zu seinem sozialistischen Vaterland bekannte, sich zum Wohle des Sozialismus in erster Linie im Arbeitsprozess einsetzte und sich in die sozialistische Menschengemeinschaft eingliederte. Bereits die „Gesetze” und das „Gelöbnis” der Jungen Pioniere aus dem Jahre 1949 folgten diesen parteilichen Erziehungsrichtlinien.

Von ähnlichem Charakter waren 1958 auch Ulbrichts „10 Gebote der sozialistischen Moral und Ethik”, die schließlich in das Parteiprogramm von 1963 einflossen, und ähnlich dem Dekalog die Tradition der kommunistischen Arbeiterbewegung mit deutschen Moral- und Wertvorstellungen verbanden.

  1. „Du sollst dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasseund der Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischer Länder einsetzen.
  2. Du sollst dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraftund Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter- und Bauernmacht einzusetzen.
  3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschenzu beseitigen.
  4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.
  5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigenHilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen.
  6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.
  7. Du sollst stets nach Verbesserungen Deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen.
  8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zuallseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen.
  9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten.

10.Du sollst Solidarität mit den um ihre nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.”

In den Vordergrund rückte nun die sozialistische Arbeitsmoral, denn eine erhöhte Arbeitsproduktivität bewies auch die materielle Überlegenheit des Sozialismus. Gerade im Zuge der sozioökonomischen Umstrukturierung und der fortschreitenden Enteignungen traten schwerwiegende innergesellschaftliche, politische und soziale Spannungen auf, die eine Legitimation und Konsolidierung der politischen Herrschaft der SED erforderten.

Daher zielte ab 1954 die Einführung der Jugendweihe mit ihrem Gelöbnis auf das staatsbürgerliche, patriotische und parteiliche Bekenntnis des Einzelnen und richtete sich gegen die Kirchen und deren christliches Welt- und Menschenbild.

Der Erziehung „sozialistischer Persönlichkeiten” diente weiterhin die Neustrukturierung des Bildungswesens, mit der schrittweisen Einführung des polytechnischen Unterrichts, um so die politisch-ideologischen Begründungen einer „marxistischen Pädagogik” mit praxisorientierten Überlegungen zu verbinden, und dem Ausbau der Mittelschule als Modell der künftig als obligatorisch geltenden Zehnklassenschule. Das Jahr 1958 stellt daher und aufgrund der Schulkonferenz der SED ein Schlüsseljahr dar.Die 1960er Jahre

Anfang der sechziger Jahre wurden umfangreiche Wirtschaftsreformen eingeleitet, die für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung der DDR einschneidend waren. Im Januar 1963 verabschiedete der VI. Parteitag der SED sein Parteiprogramm, das als Beginn des „umfassenden Aufbaus des Sozialismus” galt. Um anhaltende wirtschaftliche Probleme zu beseitigen, deren Ursachen auf die Planungs- und Leitungsstruktur der Volkswirtschaft zurückgeführt wurden, beschloss das Präsidium des Ministerrates 1963, das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft” (NÖSPL) einzuführen. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftsreform stellte sich nun auch die Frage nach Veränderungen der Wissenschaft in Produktion und Gesellschaft, sodass das Konzept der wissenschaftlich-technischen Revolution (WTR), dessen Bezeichnung sich nach dem VII. Parteitag der SED 1967 durchsetzte, zunehmende Bedeutung erlangte.

Der Reformschub in Wirtschaft, Planung, Wissenschaft und Bildung erforderte ein neues ideologisches Erziehungskonzept, damit die „allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit” den Ansprüchen der modernen Industriegesellschaft gerecht werden konnte. Somit waren von der breiten Masse der Bevölkerung eine fundierte Allgemeinbildung, fachliches Spezialwissen, Flexibilität und Disponibilität gefordert. Auf die Entwicklung einer sozialistischen Moral und Ethik folgte jetzt „die Idee der sozialistischen Menschengemeinschaft”, wonach der Einzelne sich bewusst mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung identifizieren sollte.

Das neue ideologische Erziehungskonzept kodifizierte das Erziehungsziel einer „sozialistischen Persönlichkeit” erstmals und umfassend im Jahre 1965 mit dem „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem”. Es zielte ab auf „die Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten, die bewusst das gesellschaftliche Leben gestalten, die Natur verändern und ein erfülltes, glückliches, menschenwürdiges Leben führen.”

Weiterhin waren Schüler, Lehrlinge und Studenten zur Stärkung der Gemeinschaft, zu „sozialistischem Patriotismus”, Frieden und Völkerfreundschaft sowie zur Liebe zur Arbeit zu erziehen. Ihnen waren die „Lehren aus der deutschen Geschichte, besonders der deutschen Arbeiterbewegung” und gründliche Kenntnisse des Marxismus-Leninismus zu vermitteln. „So werden sie befähigt, den Sinn des Lebens […] zu begreifen, sozialistisch zu denken, zu fühlen und zu handeln und für die Überwindung von Widersprüchen und Schwierigkeiten bei der Lösung von Aufgaben zu kämpfen.” Wichtigstes Erziehungsumfeld und wichtigste Instanz war dabei das Kollektiv. Ebenfalls festgehalten wurde das Erziehungskonzept im „Familiengesetzbuch” (1965) sowie später im Jugendgesetz (1974).

Im Bildungswesen bewirkte das geänderte Erziehungskonzept eine Reihe von Reformen, weil neben den moralischen und politischen Qualitäten der 1950er Jahre nun auch eine umfassende Allgemeinbildung und eine darauf aufbauende Spezialbildung gefordert waren. Es folgten eine mehrjährige Lehrplanreform mit neu gefasster Allgemeinbildung, die Umstrukturierung der Akademikerausbildung mit der 3. Hochschulreform 1967, die Reformierung der Berufsausbildung 1968 und eine Neuregelung der Erwachsen(weiter)bildung 1970. In diesem Zusammenhang ist auch die Neugestaltung der Lehrpläne des Staatbürgerkundeunterrichts ab 1964 zu nennen, der aus dem Fach Gegenwartskunde (eingeführt 1946) hervorgegangen ist.

Die 1970er und 1980er Jahre

Der VIII. Parteitag der SED 1971 leitete weitreichende soziale und politische Veränderungen für verbesserte Lebensbedingungen der Bevölkerung ein. Die Konsumgüterindustrie sollte gefördert werden und umfangreiche sozialpolitische Maßnahmen sollten die Lage der Rentner, Arbeiter, Familien und berufstätigen Frauen verbessern. Auf das Erziehungskonzept wirkten sich diese Veränderungen insofern aus, dass „das Wesen und der Sinn des Sozialismus, die maximale Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse, die günstigsten Bedingungen für die allseitige Entwicklung und Betätigung der Persönlichkeit zu schaffen” nunmehr Mittelpunkt aller gesellschaftlicher Anstrengungen sein sollten.

Im Erziehungskonzept gewann der subjektive Faktor zunehmend an Bedeutung, um Bildungsreserven effizient auszuschöpfen. Auch erlebten Intelligenzforschung wie auch Begabungstheorien eine Renaissance. Nichtsdestotrotz hatte das Persönlichkeitskonzept gesellschaftlichen Zielsetzungen zu entsprechen, das heißt die Entwicklung eines parteilichen und politischen Bewusstseins galt es weiterhin zu optimieren, um das Gegebene auszubauen und zu stabilisieren. So verwundert es nicht, dass das Jugendgesetz von 1974 das Erziehungskonzept in alter Weise erneut betonte, ohne auf subjektive Faktoren einzugehen. Dieses Gesetz nannte erstmals konkret Merkmale der „sozialistischen Persönlichkeit”, in denen Aufgaben und Eigenschaften kombiniert waren. Als Aufgaben der sozialistischen Persönlichkeit werden in § 1 Abs. 2 des Jugendgesetzes erklärt:

  1. „Auf sozialistische Art zu arbeiten, zu lernen und zu leben.
  2. Selbstlos und beharrlich zum Wohl des sozialistischen Vaterlandes (derDDR) zu handeln.
  3. Den Freundschaftsbund mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Bruderländern zu stärken und für die allseitige Zusammenarbeit der sozialistischen Staatengemeinschaft zu wirken.
  4. Die revolutionären Traditionen der Arbeiterklasse und die Errungenschaften des Sozialismus zu achten und zu verteidigen.
  5. Sich für den Frieden und Völkerfreundschaft einzusetzen und antiimperialistische Solidarität zu üben.
  6. Sich durch sozialistische Arbeitseinstellung, solides Wissen und Könnenauszuzeichnen.
  7. Hohe moralische und kulturelle Werte sein Eigen zu nennen.
  8. Aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben, an der Leitung vonStaat und Gesellschaft teilzunehmen.
  9. Sich den Marxismus-Leninismus, die wissenschaftliche Weltanschauungder Arbeiterklasse, anzueignen.

10.Sich offensiv mit der imperialistischen Ideologie auseinanderzusetzen.”

An Eigenschaften zeichnet sich der junge Mensch nach § 1 Abs. 2 des Jugendgesetzes aus durch:

  1. „Verantwortungsgefühl für sich und andere,
  2. Kollektivbewusstsein,
  3. Hilfsbereitschaft,
  4. Beharrlichkeit,
  5. Zielstrebigkeit,
  6. Ehrlichkeit,
  7. Bescheidenheit,
  8. Mut,
  9. Standhaftigkeit,

10.Ausdauer,

11.Disziplin,

12.Achtung vor den Älteren, ihren Leistungen und Verdiensten,

13.verantwortungsbewusstes Verhalten zum anderen Geschlecht,

14.Gesundheit,

15.Leistungsfähigkeit.”

Die formulierten Aufgaben knüpfen an Ulbrichts „10 Gebote der sozialistischen Moral und Ethik” an, die geforderten Eigenschaften lassen sich auf bürgerliche Norm- und Wertvorstellungen zurückführen, deren Tradition bereits unabhängig von kommunistischer oder sozialistischer Ideologie bestand und auch weiter besteht.

Diese Einbettung bürgerlicher Wert- und Normenvorstellung in das Erziehungskonzept erzwang eine ideologische Abgrenzung, bei der die Überlegenheit der sozialistischen Persönlichkeit gegenüber der bürgerlichen Persönlichkeit herausgestellt wurde, sodass Verhaltensweisen wie Individualismus, Egoismus und politische Gleichgültigkeit, die das kapitalistische Gesellschaftssystem hervorbrachte, in der sozialistischen Gesellschaft überwunden und durch Eigenschaften wie Opferbereitschaft, Kollektivgeist, Solidarität, Internationalismus, Klassenbewusstsein, Standhaftigkeit und Prinzipientreue ersetzt werden sollten.

Vor dem Hintergrund veränderter Ost-West-Beziehungen und den Einflüssen der westlichen Jugendkultur befürchtete die Staatsmacht ein Schwinden des Feindbildes. Um dem entgegenzuwirken und um das Bewusstsein der jungen Generation zum Schutze der „Errungenschaften des Sozialismus” zu festigen, setzte eine klare Abgrenzungspolitik durch Reideologisierung und Militarisierung ein. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Einführung der sozialistischen Wehrerziehung an Erweiterten Oberschulen und Spezialschulen im Februar 1973, die gesetzliche Fixierung der Teilnahme an der vormilitärischen Ausbildung im Rahmen der Berufsausbildung im Juni 1977 und die Einführung des Wehrunterrichts an den polytechnischen Oberschulen 1978.

Die Abgrenzung gegenüber der Gesellschaft der Bundesrepublik, deren konsumorientierte Werthaltungen sich zunehmend auch in der Gesellschaft der DDR abzeichneten, führte zu einer „Reaktualisierung des Klassentheorems” und zu einer Betonung der sozialistischen Lebensweise, mittels derer das Erbe der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Lebensweise überwunden war.

Die Übereinstimmung von individuellen und gesellschaftlichen Interessen sollte in den 1980er Jahren zunehmend durch die politisch-ideologische Erziehung erreicht werden, die sich an den gesellschaftspolitischen Zielen der SED orientierte. Eine politische Sozialisation war durch politische Aktivität und Partizipation im Rahmen der vorhandenen Institutionen zu bewirken. Dabei waren Eigenschaften wie Konfliktfähigkeit und Konflikt-

bereitschaft unerwünscht. Ebenso war für menschliche Unzulänglichkeiten und Schwächen in diesem System des Konformismus kein Platz. Nur mittels Anpassungsdruck konnte der Einzelne die geforderten Verhaltensweisen erfüllen und verinnerlichen, um sich schließlich in das Kollektiv einzuordnen. Jedoch zeigte sich immer offensichtlicher ein Widerspruch zwischen dem unbeirrten Festhalten an den weltanschaulichen Prämissen und dem „Zwang zu Modernisierung und Leistungssteigerung”. So war der Beschluss des XI. Parteitags der SED 1986 für einen neuen Gesamtlehrplan, der die optimale Förderung jedes Kindes entsprechend seiner individuellen Anlagen und Fähigkeiten und somit eine wachsende Bedeutung des „subjektiven Faktors” forderte, unvereinbar mit den „etablierten Praktiken zur Bewusstseinsbildung der allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit”, die weiterhin bestehen blieben (was letztlich auch aus den Einstellungen alteingesessener Akteure des Volksbildungssystems resultierte).

Folglich stand sich die DDR in Fragen der Modernisierung selbst im Weg mit ihrer begrenzten Differenzierung in der allgemeinbildenden Schule, erstens weil Begabungstheorien und Differenzierung als bürgerliche Pädagogik angesehen wurden, zweitens weil die Durchlässigkeit des Bildungssystems an die Prämissen des ideologischen Bewusstseins geknüpft war und drittens weil sich soziale Schichten, in diesem Fall die etablierte Bildungsschicht, selbst reproduzieren.

DIE DURCHSETZUNG DES ERZIEHUNGSKONZEPTES

Auf der Grundlage des Erziehungskonzeptes einer allseitig gebildeten (entwickelten) sozialistischen Persönlichkeit setzte die Partei- und Staatsführung der DDR ihre Politik im Erziehungs- und Bildungswesen massiv durch. Die Umsetzung des Erziehungskonzeptes begann bereits frühzeitig in Krippen und Kindergärten und sollte allumfassend alle Lebensbereiche durchdringen. In der Schule fand die Erziehung zur allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit nicht nur im Unterricht durch Lehrkräfte statt, sondern auch in enger Verflechtung mit der Kinder- und Jugendorganisation (Pioniere und FDJ) seit deren Etablierung in den 1950er Jahren. Der Durchsetzung des Erziehungskonzeptes dienten zudem die Jugendweihe und die Wehrerziehung, sodass letztendlich allein die Mitgliedschaft bei den Pionieren bzw. in der FDJ und die Teilnahme an der Jugendweihe und Formen der paramilitärischen Ausbildung als formale Gradmesser für einen gelungenen Erziehungsprozess gewertet wurden.

Schülern, Auszubildenden und Studenten, die sich dem Erziehungsideal nicht unterwarfen und aufgrund ihrer Individualität oder ihres Verhaltens vom vorgegebenen sozialistischen Normen- und Wertekanon abwichen, drohten Repressionen verschiedenen Ausmaßes. Was die Machthaber unter abweichendem Verhalten subsumierten, richtete sich nach den vorherrschenden politischen Rahmenbedingungen der Zeit. In Anlehnung an die Dissertation und die Forschungsergebnisse der Verfasserin, die in Bezug auf die Benachteiligung von Schülern, Auszubildenden und Studenten gewonnen wurden, lassen sich die Gründe, die zu Repressionen im Schulalltag führten, grob in drei Phasen unterscheiden, in denen zwar mehr oder weniger alle genannten Gründe mit Benachteiligungen einhergehen konnten, jedoch der eine oder andere Sachverhalt besonders häufig zu Diskriminierungen führte. Dabei gehen diese Phasen jedoch weniger gleitend als vielmehr überlappend ineinander über.

Von 1946 bis Mitte der 1950er Jahre kann zunächst von einer antifaschistisch-antibürgerlich dominierten Phase gesprochen werden. Anlass zu Benachteiligungen und Verfolgungen gaben in den ersten Nachkriegsjahren die Aktivitäten des Jugendlichen und seiner Familienmitglieder während der Zeit des Nationalsozialismus. Daneben waren bis Ende der 1950er Jahre die soziale Herkunft, ein Fluchtversuch oder „politisch-feindliches” Handeln häufig Gründe für Diskriminierungen im Bildungswesen. In diese Phase zählten auch Maßnahmen gegen Schüler nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953.

Seit Beginn der 1950er Jahre bis Anfang der 1970er Jahre lässt sich eine antiklerikale-sozialistisch-atheistisch dominierte Phase ausmachen. Während dieser Zeit fanden häufiger Benachteiligungen aufgrund von Konflikten zwischen der staatlich propagierten wissenschaftlichen Weltanschauung und der traditionellen religiösen Weltanschauung statt. Diesen Konkurrenzkampf führte die SED im Bereich des Erziehungs- und Bildungswesen seit Kriegsende. Um den Einfluss der Religionen und Kirchen zu schmälern, ging die SED-Führung seit Anfang der 1950er Jahre zunehmend energisch vor und betrieb dabei eine doppelte Strategie: Einerseits verfolgte sie Gläubige, wie beispielsweise das Verbot der Zeugen Jehovas und die Rufmord-Kampagne gegen die Junge Gemeinde zeigen, andererseits schuf sie Alternativen zur „Abwerbung”, wie beispielsweise staatliche Kinder- und Jugendorganisationen und die Jugendweihe.

Obwohl Schulfunktionäre und zum Großteil auch Lehrer alles daran setzten, den Forderungen von Partei- und Staatsführung nachzukommen, um deren politische Richtlinien in den Schulen durchzusetzen, ließen sich zu keiner Zeit hundert Prozent der Schüler erreichen. Konflikte mit christlichen Schülern blieben im Schulalltag bis zum Ende der DDR bestehen und äußerten sich besonders deutlich, wenn die Eltern die Mitgliedschaft ihres Kindes in der staatlichen Kinder- und Jugendorganisation ablehnten (insbesondere betraf das die Zeugen Jehovas) oder an der christlichen Tradition der Konfirmation bzw. Firmung gemeinsam mit ihren Kindern festhielten, statt ihre Kinder ab Mitte der 1950er Jahre an der staatlichen Jugendweihe teilnehmen zu lassen.

Während dieser Zeit erreichten auch neue westliche jugendkulturelle Trends die DDR, die nach Meinung der Partei- und Staatsführung den sozialistischen Moralvorstellungen widersprachen. Um ein Abweichen von den sozialistischen Norm- und Moralvorstellungen zu verhindern galt es, die Jugend einerseits für die Ziele der SED zu gewinnen und andererseits zu kontrollieren. Folglich begann ein Wechselspiel zwischen staatlichen Lockerungen und Restriktionen, bei dem das SED-Regime bis zum Ende der DDR jegliche westliche Beeinflussung beargwöhnte. Infolge dieser Abgrenzungs- und Eindämmungspolitik kam es von Seiten der Volksbildung und der Staatssicherheit gegenüber Jugendlichen teilweise zu massiven Eingriffen, die deren berufliche und persönliche Entwicklung beeinträchtigten.

Auch in den 1970er Jahren waren die Konflikte aufgrund unterschiedlicher Weltanschauungen und religiöser Bindungen weiterhin präsent und bestanden bis zum Ende der DDR, jedoch traten nach der Einführung der Wehrpflicht und der damit verbundenen zunehmenden Militarisierung mehr und mehr pazifistische Motive der christlichen Weltanschauung in den Vordergrund. Nicht zuletzt schlossen sich auch Konfessionslose der Friedensbewegung an, sodass gegen Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre eine Vielzahl von Jugendlichen im Erziehungs- und Bildungswesen benachteiligt wurden, weil sie aus pazifistischen Gründen ihre Teilnahme an verschiedenen Formen der Wehrausbildung oder den bewaffneten Wehrdienst ablehnten. Diese letzte Phase der Repressionen kann als antipazifistisch-antichristlich dominiert eingestuft werden. Ab Mitte der 1980er Jahre erfolgten zudem mehrere Benachteiligungen aufgrund von Ausreiseanträgen, die Jugendliche allein oder gemeinsam mit ihren Eltern stellten.

Obwohl übermäßig häufig christliche Schüler diskriminiert wurden, war die konfessionelle Bindung nicht grundsätzlich ausschlaggebend für eine Benachteiligung. In einigen Fällen war sie zweitrangig oder gar bedeutungslos, denn die Ursachen der Diskriminierungen standen vorwiegend im Zusammenhang mit verweigerten Formen der Militärausbildung, mit Fluchtversuchen und Ausreisewünschen oder fehlender gesellschaftlicher Aktivitäten. Zum Teil waren die Benachteiligten selbst nur infolge einer „Sippenhaftung” betroffen, weil Ausreiseanträge, Flucht oder Fluchtversuche von Familienmitgliedern mit staatlichen Repressionen gegenüber dem familiären Umfeld geahndet wurden. Aus diesen Gründen wurden auch Konfessionslose benachteiligt.

Die Diskriminierungen im Schulalltag reichten von täglichen kleinen „Gängeleien”, die auf die Initiative einzelner Lehrer zurückzuführen waren und sich gezielt gegen andersdenkende Schüler richteten, bis hin zu „organisierten” Nichtzulassungen zu weiterführenden Bildungseinrichtungen (Bildungsverbot). Zudem waren die vorgegebenen Lehr- und Lerninhalte in der DDR ideologisch und politisch durchtränkt, sodass einzelne Schüler wie auch Eltern eine Erziehung zu Hass, Militarismus und Blasphemie offen ablehnten. Lehrer sanktionierten dieses Verhalten der Schüler mit schlechten Fach- und Verhaltenszensuren, da sich derartige Verweigerungshaltungen als Verstoß gegen die Schulordnung oder zumindest als Verstoß gegen die Lernpflicht des Schülers interpretieren ließen. Als gängige Methode zur Ausgrenzung erwies sich zudem, dass Lehrer und Schuldirektoren unangepassten Schülern Belobigungen und Auszeichnungen für schulische Fachleistungen vorenthielten, um ihnen so Anerkennung und Wertschätzung zu versagen. Schließlich spiegelte sich die eigensinnige Haltung von Schülern vielfach auch in den Zeugnissen wider, da Lehrer das staatsbürgerliche Bewusstsein sowohl in der schriftlichen Gesamteinschätzung als auch in den Kopfnoten mit zu bewerten hatten. Im Bezug auf die Beurteilung der Schülerpersönlichkeit kam dem Klassenlehrer eine besondere Bedeutung zu, denn von seinem Wohlwollen und Schreibgeschick hing es ab, ob und wie er manche Eigenart des Schülers wiedergab. Zudem verfügte er wie auch der Schuldirektor über großen Einfluss bei der Delegierung eines Schülers zu einer weiterführenden Bildungseinrichtung. Beide konnten den einzelnen Schüler sowohl fördern als auch benachteiligen, weil sie trotz gesetzlicher Vorgaben und Anordnungen in vielen Fällen über einen gewissen individuellen Ermessensspielraum – im positiven wie negativen Sinn – verfügten.

Besonders nachhaltig wirkten sich die Relegierung und die Nichtzulassung zu weiterführenden Bildungseinrichtungen aus. Insbesondere die Auswahl und Zulassung zu höherer Bildung stand zunehmend unter dem politischen Einfluss der SED, wie sich auch anhand einschlägiger Gesetze und Verordnungen zeigte. Ihre politisch-ideologischen Maßstäbe in Bezug auf das Erziehungskonzept der allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit setzte die Partei im Zulassungsverfahren mittels Auswahlkriterien, vorausgehenden Auswahl- bzw. Delegierungsverfahren und über die personelle Zusammensetzung der Zulassungskommissionen durch. Dabei folgten die Forderungen gegenüber Bewerbern immer mehr dem Primat der SED-Politik. In den ersten Nachkriegsjahren waren zunächst die politischen und militärischen Aktivitäten während des Nationalsozialismus und die soziale Herkunft des Bewerbers für das Zulassungsverfahren relevant. Später wurden die Bedingungen für eine Aufnahme entsprechend neuen politischen Maßstäben verändert, sodass Ende der 1950er Jahre die „aktive Teilnahme am Aufbau des Sozialismus” und Anfang der 1960er Jahre die „Bereitschaft zur aktiven Verteidigung der Errungenschaften des Sozialismus” für den Zugang zu einer weiterführenden Bildungseinrichtung als notwendig galten. Bis zum Ende der DDR waren die Mitgliedschaft in der FDJ, die Teilnahme an der Jugendweihe und an den paramilitärischen Ausbildungen (für männliche Bewerber auch die Bereitschaft zur Schießübung auf menschliche Silhouetten) sowie das Interesse für ein volkswirtschaftlich notwendiges Studium ausschlaggebend, um im Auswahlverfahren für die Abiturstufe eine Chance zu bekommen.

FAZIT

Abschließend lässt sich festhalten, dass das Erziehungskonzept der allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit, das dem Erziehungs- und Bildungswesen der DDR zugrunde lag, eindeutig auf die Durchsetzung der gesellschaftspolitischen Ziele der SED ausgerichtet war, wie sich anhand von Gesetzen, Verordnungen und deren praktischer Umsetzung im Schulalltag beweisen lässt. Ebenfalls dienten insbesondere die personelle Besetzung an den Schulen und in den administrativen Bereichen der Volksbildung, deren Anleitung und Kontrolle durch Vertreter der SED, die Einbindung der staatlichen Kinder- und Jugendorganisation in den täglichen Bildungs- und Erziehungsprozess als auch die Durchtränkung der Lehrund Lernmaterialien mit ideologischen Inhalten eindeutig der Agitation und Indoktrination. An den Schulen in der DDR fand keine bloße Faktenvermittlung statt, die es Kindern und Jugendlichen erlaubt hätte, eigene Standpunkte herauszubilden und zu vertreten. Andersdenkende und Abweichler wurden attackiert, stigmatisiert und ausgegrenzt, sodass der Lebensweg dieser DDR-Schüler nicht nur kurzzeitig, sondern nachhaltig beeinflusst wurde, denn diese Betroffenen konnten in der Regel nur einen Teilberufs- oder Berufsabschluss erwerben. Für viele ehemalige Schüler war eine Verwirklichung ihrer Bildungskarriere oftmals nicht möglich und sie mussten insbesondere nach der Wiedervereinigung finanzielle Nachteile aufgrund ihrer fehlenden Qualifikation in Kauf nehmen. Das Bundesamt für Justiz verzeichnete bis zum 31. Juli 2008 6.889 Anträge auf Rehabilitierung als Verfolgte Schüler, von denen letztlich 3.878 Anträge positiv entschieden wurden. Die Dunkelziffer wird bei Weitem höher liegen, denn nicht jeder benachteiligte Schüler stellte schließlich einen Rehabilitierungsantrag. Angesichts dieser Zahlen und der Tatsache, dass es sich bei jedem Betroffenen um ein Lebensschicksal handelte, kann bei den „Bildungsverboten” in der DDR keineswegs nur von „Einzelfällen” gesprochen werden, wie Margot Honecker noch immer meint.