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Zwischen Staatsideologie und Religion:

Die Diskriminierung christlicher Schüler

Kirstin Wappler

Zum Einstieg in ein Thema, das droht in Vergessenheit zu geraten, zumindest aber in Verharmlosung abzugleiten, möchte ich zwei Dinge nennen, die mich in dieser Hinsicht in den letzten Wochen aufgeschreckt haben: Da war einmal das unsägliche Interview mit Margot Honecker in der ARD. Schwer zu ertragen. Am Ende der Sendung sagte Helmut Schmidt: „2030 werden nicht einmal mehr die Kinder in der Schule lernen, wer Erich Honecker gewesen ist”.

Nun ist klar, dass er damit auf die Vermessenheit Margot Honeckers einging, die ernsthaft meint, ihrem Mann werde schon noch vermeintliche Gerechtigkeit zuteil und er werde als großer Staatsmann in die Weltgeschichte eingehen.

Helmut Schmidts Statement beinhaltet aber auch eine andere Tendenz: Diese kleine DDR war so unbedeutend, dass sie mittelfristig nur noch eine Fußnote im Geschichtsunterricht sein wird.

Das zweite Erlebnis war ein Gespräch mit einem Freund, der in der DDR als Christ gelebt hat und sie in allen Facetten kannte. Wir kamen auf den neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck zu sprechen und auf ein Interview mit seinem ältesten Sohn Christian.Christian Gauck hatte berichtet, wie schwer es für ihn war, als er nach dem Umzug der Familie nach Rostock-Evershagen in eine neue Schule kam mit fast nur atheistischen Mitschülern und wie er dort ausgegrenzt und gehänselt wurde. Mein Freund sagte: Vielleicht übertreibt er ein bisschen. Nur aufgrund seines Christseins musste man doch eigentlich keine Angst haben als Schüler in der DDR. Ich war erschrocken. Wenn schon ein Christ, der meiner Erinnerung nach durchaus die Diktatur in ihrer Härte erlebt hatte, so etwas sagt, was denken dann Andere mit oberflächlicheren oder gar keinen Erfahrungen?

Ich möchte jetzt keine Ursachenforschung betreiben, warum es zu dieser Verharmlosung kommt. Das im Vergleich zur NS-Diktatur geringe Ausmaß des Terrors, das friedliche, harmlose Ende der zweiten deutschen Diktatur und das sanfte Hineingleiten in das nun wiedervereinte Deutschland mögen Gründe dafür sein.

Ich möchte aber davor warnen, die SED-Diktatur zu verniedlichen. Denn die Gefahr des Extremismus von Rechts und von Links ist präsent. Ich finde es deshalb auch bedenklich, dass in der Öffentlichkeit immer wieder die vermeintlichen Vorzüge des DDR-Bildungssystems gepriesen werden, ohne den Gesamtzusammenhang herzustellen. Da werden die (angebliche) Chancengleichheit, guter Fachunterricht und stärkere Disziplin gerühmt. Ausgeblendet werden Repressalien gegen Andersdenkende, die ideologische Durchdringung aller Schulfächer und die fehlende Vermittlung ganzer Wissenskomplexe – denken wir an Geschichte, Geografie, Deutsch und Fremdsprachen.

Die Rundumbetreuung vom Kleinkind wird bewundert und dabei vergessen, dass hier nicht allein das Wohl des Kindes im Vordergrund stand, sondern auch die schnelle Wiedereingliederung der Mutter ins Arbeitskollektiv und die frühstmögliche staatliche Einbindung des Kindes.

Ich möchte gegen das Vergessen und Verharmlosen drei Fakten stellen:

  1. Fakt ist, dass christliche Schüler während der gesamten DDR-Zeit diskriminiert wurden.
  2. Fakt ist auch, dass christliche Schüler in einem nur schwer auszuhaltenden Spannungsfeld zwischen Staatsdoktrin und Religion standen.
  3. Fakt ist schließlich, dass christliche Schüler die DDR-Schule nachhaltiggeprägt und letztendlich zum Niedergang des Systems beigetragen haben.

Ich habe 2006 zum Thema „Grenzen der Politisierung am Beispiel von Schulen im katholischen Eichsfeld und evangelischen Erzgebirge unter SED-Herrschaft” promoviert.Wichtig war mir, die Sicht der Betroffenen wiederzugeben. Deshalb habe ich damals mehr als fünfzig ehemalige Lehrer und Schüler interviewt.

Die folgenden Erkenntnisse beziehen sich auf das Erzgebirge und das Eichsfeld als relativ stark religiös geprägte Gebiete in der DDR. Ich glaube aber, dass sie sich im Großen und Ganzen auf die DDR verallgemeinern lassen.

  1. Christliche Schüler wurden während der gesamten DDR-Zeit diskriminiert.

Die rigorosen Methoden, die die Machthaber in den 1950er Jahren anwandten, um alle Gegner, insbesondere die starke evangelische Volkskirche zurückzudrängen, haben Gert Geißler und Thomas Ammer in ihren Beiträgen in diesem Band dargestellt.

Nachdem die stärksten Gegner von den Oberschulen verdrängt worden bzw. so verängstigt waren, dass sie still geworden waren, gingen die Machthaber zu subtileren Methoden über.

Aber auch in den späteren Jahren galt: Wer sich offen zur Kirche bekannte und daraus auch Konsequenzen zog (nicht an der Jugendweihe teilnahm, nicht in die FDJ eintrat), wurde mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit belegt, da er ja „noch” an Gott glaube und damit rückständig sei, und meist auch mit dem Vorwurf des mangelnden gesellschaftlichen Engagements. Wer mit diesem Makel behaftet war, hatte im Regelfall keine Chance, sein Abitur machen zu können bzw. sein Wunschstudium zu absolvieren. Er oder sie hatte meist auch kaum eine Chance, den gewünschten Ausbildungsplatz zu bekommen, sondern riskierte es, in eine Ausbildung gedrängt zu werden, die an Strafe grenzte, weil sie den Neigungen und Begabungen so gar nicht entsprach. Wer sich von den Jungen gegen den Wehrdienst entschied und Bausoldat wurde, verbaute sich damit grundsätzlich eine Bildungskarriere.

2.   Als weitere These habe ich aufgeführt, dass christliche Schüler in einemnur schwer auszuhaltenden Spannungsfeld zwischen Staatsdoktrin und Religion standen.

Freya Klier hat von einer kollektiven Schizophrenie gesprochen. Tatsächlich mutet es aus heutiger Sicht unmenschlich an, was bereits Siebenjährigen zugemutet wurde. Viele christliche Eltern wussten sich keinen anderen Rat, als ihren Kindern einzuschärfen, dass zuhause geführte Gespräche über Politik nicht nach draußen getragen werden dürften. Das galt erst recht für Dinge, die man im Westrundfunk gehört hatte. Kinder mussten also ständig überlegen: Was darf ich sagen, was nicht?

Und was schrieb man in den Leistungskontrollen im Staatsbürgerkundeunterricht? Schrieb man die Wahrheit, riskierte man alles. Schrieb man nichts, bekam man eine Fünf. Die meisten entschieden sich, das zu schreiben, was gefordert war. Viele trösteten sich, dass sie nur das Gelehrte repetiert hätten. Manche schrieben noch Sätze darunter, wie: Das oben Stehende wurde mir im Unterricht beigebracht.

Dieses Leben in zwei Welten war für Kinder ein schwer auszuhaltender Zustand. Besonders, weil die Lüge im christlichen Weltbild entsprechend geächtet ist und Schüler oft das Gefühl hatten, eine Sünde zu begehen. Hier haben sich bei vielen über Jahre Schuldgefühle aufgebaut, die oft ein ganzes Leben lang eine Belastung geblieben sind.

Dieses Spannungsfeld zog sich noch weiter. Da gab es das ganz natürliche kindliche (und menschliche) Bedürfnis, zur Gemeinschaft dazu gehören zu wollen. Das setzte Anpassungsleistungen voraus, wie etwa eine Mitgliedschaft bei den Pionieren und später in der FDJ. Die Machthaber setzten das Mittel der Ausgrenzung ganz bewusst ein. Wer nicht in der FDJ war, durfte auch an keiner FDJ-Aktivität teilnehmen (nicht immer waren diese freilich attraktiv, aber das steht auf einem anderen Blatt). Und es ging weiter: Sollte man seiner Sympathie nachgeben und versuchen, eine Freundschaft mit dem Sohn des Parteisekretärs aufzubauen oder der Tochter der Lehrerin, die sich nicht einmal traute, mit zu einem klassischen Konzert in die Kirche zu gehen? Konflikte bei solchen staatlicherseits unerwünschten Freundschaften waren jedenfalls vorprogrammiert.

Sollte man seinen Begabungen und Neigungen folgen und zumindest versuchen, den Beruf anzustreben, zu dem man sich berufen fühlte? War es aber nicht unchristlich, sich deshalb zu verbiegen und Anpassungsleistungen zu erbringen, die einem zutiefst widerstrebten?

Viele christliche Schüler reagierten auf dieses Spannungsfeld mit Leistungseifer. Sie hofften, mit Bestleistungen dieses Spannungsfeld auflösen zu können. Sie hofften, die Machthaber überzeugen zu können, dass sie außer Christen auch leistungsfähige Mitglieder der Gesellschaft waren. Dass sie dazu gehörten. In manchen Fällen honorierten Lehrer diese Bemühungen und versuchten, sie z. B. durch sehr gute Beurteilungen zu unterstützen. Manchmal – immer auch abhängig von den Menschen, die verantwortliche Ämter innehatten – half das, in den meisten Fällen nützte es nichts. Leistungen, so erfuhren die Betroffenen, machten nur 50 Prozent aus. Die anderen 50 Prozent waren das sogenannte gesellschaftliche Engagement. Was hieß: sich anpassen und alles Geforderte unhinterfragt mitmachen.

Es gab viele Christen, die ihren Weg gegangen sind und auf eine Bildungskarriere verzichtet haben – oft auch ganz bewusst, um nicht ständig mit dem System in Konflikt zu kommen. Die ihre Arbeit als Broterwerb betrachtet haben, während ihr eigentliches Leben in der Familie und der Kirchgemeinde stattfand.

Ich bin bei meinen Interviews aber nicht nur auf gebrochene Schülerbiografien gestoßen, sondern in mehreren Fällen auch auf gebrochene Menschen. Menschen, die mit einem hart erkämpften Notendurchschnitt von 1,0 bis 1,2 nicht zur Erweiterten Oberschule (EOS) oder zur Berufsausbildung mit Abitur zugelassen wurden. Die stattdessen in Berufsausbildungen gedrängt wurden, die weder ihren Talenten noch ihren Leistungen entsprachen. Die in ihren Berufen unglücklich gearbeitet haben. Die, als die Friedliche Revolution kam, zu alt waren, um das Abitur nachzuholen und zu studieren oder bereits eine Familie zu ernähren hatten. Die teilweise heute arbeitslos sind und sich als Verlierer vorkommen.

Trotz vieler leidvoller Erfahrungen waren christliche Schüler in der SED-Diktatur nicht vornehmlich Opfer. Daher möchte ich als dritte These ausführen:

3. Christliche Schüler haben die DDR-Schule nachhaltig geprägt, der Politisierung Grenzen

gesetzt und letztendlich zum Niedergang des Systems beigetragen.

Es waren die Kirchen, die den sich in den 1980er Jahren  bildenden Oppositionsgruppen die Türen offen gehalten und ein Dach gegeben haben. Es waren nicht nur Christen, aber doch vornehmlich junge Christen, die sich zum Widerstand formierten. Es waren Menschen, die das SED-Bildungssystem durchlaufen hatten. Es waren Menschen, die mit Anfeindungen aufgewachsen waren, aber auch gelernt hatten, Stellung zu beziehen und im Glauben gewachsen waren.

Es war den SED-Machthabern über 40 Jahre lang zwar gelungen, die evangelische Volkskirche zu einer Minderheitskirche zu machen. Es war ihnen aber nicht gelungen, die Massen für ihre Ideologie zu begeistern und die Sehnsucht der Menschen nach Sinn zu erfüllen.

Je stärker Ideologie und Realität auseinanderliefen, desto mehr erstarkte wieder das Interesse an der Kirche. Die Junge Gemeinde im Erzgebirge hatte in den 80er Jahren teilweise Zulauf wie in den Fünfzigern, was die Machthaber mit großer Angst erfüllte. An den sogenannten „Offenen Abenden” nahmen in Freiberg, im damaligen Karl-Marx-Stadt, in Marienberg und Aue nach SED-Angaben bis zu 1200 Besucher wöchentlich teil.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Machthaber nie die Angst vor der Kirche verlassen hat. Angesichts schwindender Mitgliederzahlen hätte man ja in den diktaturfesten Siebzigern mit einzelnen Abweichlern etwas milder umgehen können. Aber nein. Selbst wenn nur ein Jugendlicher in der Klasse nicht zur Jugendweihe ging, wurde er oder sie agitiert und diskriminiert, als ginge es um den gefährlichsten Feind. Zum einen war es sicher der diktaturimmanente Hundertprozentwahn der Machthaber. Zum anderen war es aber auch das Wissen, dass ihre gleichsam zur Religion erhobene Ideologie Antworten auf die existentiellen Fragen des Lebens schuldig blieb.

Wenn ich mir wünschen darf, was die Kinder in Deutschland im Jahr 2030 über die DDR lernen werden, dann müssen sie nicht den Lebenslauf Erich Honeckers kennen. Sie müssen aber wissen, dass die SED-Machthaber über 40 Jahre das Volk beherrscht und mit aller Macht versucht haben, es zu politisieren und seine Religion auszuschalten. Sie müssen wissen, dass Menschen, die sich dem widersetzten, verfolgt wurden. Sie müssen erfahren, dass die DDR-Schule das Gegenteil der demokratischen Schule war und nicht zum mündigen Bürger, sondern zur sozialistischen Persönlichkeit erziehen wollte. Ich würde mir wünschen, dass sie mit Zeitzeugen sprechen und Erinnerungsorte aufsuchen. Vor allem wünsche ich mir, dass sie den Wert unserer freiheitlichen Grundordnung schätzen und sagen: So etwas nie wieder!