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Wertevermittlung in Schulen?

Lehrer zwischen Erinnerungsarbeit und Zukunftsorientierung

Dieter Schulz

VORBEMERKUNG

Wertevermittlung bzw. Werteerziehung in der Schule ist ein weites Feld; man kann sich in diesem Thema leicht verlieren. Es eignet sich zudem sehr gut für „Sonntagsreden”. Es impliziert auch die Gefahr, zu bloßen „appellativen Reden” zu verkommen. Das gilt auch für „historische Erinnerungs-Analysen”, die zugleich den Brückenschlag über die Gegenwart in die Zukunft leisten sollen. Tina Kwiatkowski-Celofiga hat in diesem Band bereits differenziert die Zielsetzung und Aufgabe der DDR-Schule aufgezeigt, nämlich die „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit”. Vielleicht darf ich aber eines nochmals hervorheben:

1. POLITISCH-IDEOLOGISCHE WERTORIENTIERUNG

Seit 1976 sprach man in der pädagogischen Literatur der DDR und in allen schulpolitischen Direktiven nicht mehr von sozialistischer, sondern von kommunistischer Erziehung. Während nach wie vor vom sozialistischen Bildungswesen, vom sozialistischen Staatsbürger oder von der sozialistischen Gesellschaft die Rede war, sollte mit der Bezeichnung „kommunistische Erziehung” offensichtlich zum Ausdruck gebracht werden, dass dank und mittels der Erziehung die nächste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung möglich und beschritten würde und dass die Orientierung auf den Kommunismus das Richtmaß für die Erziehung der Gegenwart darstelle.

Tatsächlich wird im Programm der SED, das auf dem IX. Parteitag 1976 beschlossen wurde, als Ziel der „Vervollkommnung des einheitlichen sozialistischen Bildungswesens” der allmähliche Übergang zum Kommunismus genannt. Unstrittig war das ein weiterer Schritt, die ideologische Kontrolle über die Jugenderziehung zu verstärken. Diese Absicht belegen die zeitversetzten Analysen, wie wir sie aufgrund der historischen Ereignisse und unter Kenntnis der spezifischen Quellen gegenwärtig zu ziehen in der Lage sind. Die obligatorische Einführung des Wehrunterrichts zum Schuljahr 1978/79 in den Klassen 8 und 9 sind hierfür ein Beleg.

In dem Standardwerk „Pädagogik”, das gemeinsam mit der „Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der UdSSR” und der „Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR” in der 8. Aufl. 1989 (Redaktionsschluss 11. Juli 1988) herausgegeben wurde, wird die Aufgabe der Schule – die rasant verlaufende politische Entwicklung der folgenden Wochen und Monate sowohl in der Sowjetunion als auch in der DDR nicht ahnend – unter dem Stichwort „Schule – Lern-, Arbeits- und Lebensstätte” (noch) wie folgt definiert:

„Die Schule ist in vielfältiger Weise mit dem Leben der sozialistischen Gesellschaft verbunden; sie ist Ergebnis der revolutionären Umwälzung der ganzen Gesellschaft, ihre Entwicklung ist bedeutsamer Bestandteil der Revolution auf dem Gebiet von Ideologie und Kultur. Zugleich nimmt sie Einfluß auf die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Die sozialistische Schule ist ihrem Charakter nach ‚polytechnische Arbeitsschule’, in der der Unterricht mit produktiver Arbeit und körperlicher Ausbildung verbunden wird (…)  Enge Beziehungen bestehen zwischen Schule und sozialistischem Jugendverband. (…) Schließlich ist kommunistische Erziehung der heranwachsenden Generation nicht ohne die Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie denkbar. (…) All das muß bei der Führung der Arbeit an der Schule berücksichtigt werden. Mit dem Aufbau der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule wurden entscheidende Voraussetzungen für die Realisierung unseres Erziehungszieles, die Herausbildung allseitig entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten geschaffen. Jetzt kommt es – wie der XXVI. Parteitag der KPdSU und der X. Parteitag der SED übereinstimmend feststellen – darauf an, alle Potenzen unserer Oberschule, unseres gesamten Volksbildungswesens für die Lösung dieser Aufgabe voll auszuschöpfen.”4

Es ist emotional geradezu Gänsehaut erzeugend, was unter dem Kapitel 2.1.3 „Prinzipien der kommunistischen Erziehung”5 formuliert ist. Interessierte Leser – so sie es aus jener Zeit nicht selbst erfahren und erlebt haben – können die einschlägigen, peinlich differenzierten „pädagogischen Denk- und Handlungsanweisungen für Lehrer und Erzieher” in der zitierten Publikation nachlesen. Nachhaltig auffällig ist – trotz eines hochauflösenden „Stichwortverzeichnisses” –  dass Werte in unserem Sinne es nicht wert waren bzw. wert sind, thematisiert zu werden. Es findet sich lediglich das Stichwort „Wertorientierungen, politisch-ideologische”.

„Zum Inhalt der Erziehung gehören Fakten und Begriffe, die das menschenfeindliche Wesen des Imperialismus kennzeichnen. Die Schüler müssen den Feind durchschauen und ihn überall entlarven können. Sie sollen lernen, sich mit der bürgerlichen Ideologie auseinanderzusetzen, das Wesen und die Erscheinungsformen imperialistischer Propaganda und Diversion zu durchschauen und dabei die erworbenen Kenntnisse anzuwenden. Auf diese Weise entstehen politisch-ideologische Wertorientierungen, die Haß gegen die imperialistische Ausbeutung und Unterdrückung

einschließen”.6

In welchem Ausmaß die „Pädagogik” und ihre Handlungsträger (Erzieher, Lehrer, Hochschullehrer) durch die SED instrumentalisiert wurden, belegt das schier unglaubliche, ungeheuerliche Vorwort von Lothar Oppermann zur „Instruktionshilfe Parteiarbeit und Pädagogik”:

„Eine Bemerkung sei noch zur gesamten Anwendungsproblematik der Pädagogik in der Parteiarbeit gestattet. Wir sind uns darüber klar, dass die Anwendung der Pädagogik vor allem das „Wie” der Führungstätigkeit betrifft. Sie hilft bei der Beantwortung der Frage nach wirksameren Methoden und Formen der Führungstätigkeit. Primär ist immer die politische Richtigkeit dessen, was im Erziehungs- und Bildungsprozeß vermittelt

  • Ders., a.a.O., S. 191 (Hervorhebungen im Original).
  • Oppermann, Lothar: Parteiarbeit und Pädagogik. In Reihe; Der Parteiarbeiter. Hrsg. von der Abteilung Volksbildung des Zentralkomitees der SED. Autorenkollektiv unter der Leitung von Dr. Lothar Oppermann. Redaktion: Helmut Günther. Berlin 1. Aufl. 1969, S. 5. Oppermann gehörte zu den maßgeblichen und verantwortlichen Ideologen der Kaderpolitik in der Pädagogik. Für ihn ist der Pädagogik  die Aufgabe gestellt, die „Anwendungsproblematik” zu bewältigen: „Die Anwendungsproblematik der Pädagogik liegt also in der Parteiarbeit besonders auf dem Gebiet der Agitation und Propaganda sowie der Auswahl, Delegierung und Erziehung der Kader”. In: ders., a.a.O., S. 16 (hier durch die Herausgeber „rot” unterlegt hervorgehoben!). Zur Person vgl. Herbst, Andreas: Oppermann, Lothar. In: Wer war wer in der DDR? (2 Bände) Berlin 2010, 5. Ausgabe.

Dem Organ „Der Parteiarbeiter” kam in der Arbeit der SED eine besondere politisch-ideologische Funktion zu. Für nahezu alle Arbeitsbereiche gab es in unregelmäßigen Abständen „Arbeitshefte”, die spezifische Themen der Parteiarbeit im jeweiligen Bereich in den Mittelpunkt stellten. In der Regel sind die hier abgehandelten thematischen Blöcke bereits in der Zeitschrift „Der Neue Weg” aus-

werden soll. (…)”7

Gewiss machen diese „Erinnerungsstücke” besonders nachdenklich und sollten zur Diskussion anregen. Im Weiteren möchte ich mich mit dem Verständnis von „Werten und Werteerziehung in der Schule von heute” befassen. Dass in diesem Zusammenhang auch grundsätzliche Reflexionen zur Erzieher- und Lehrerpersönlichkeit zu treffen sind, darf nicht dazu verleiten, eine Summe von unrealistischen „Sollte-Formulierungen” in die Welt zu setzen.

2. PARADIGMENWECHSEL – WERTEERZIEHUNG HEUTE

Die schrecklichen Geschehnisse, die sich in den zurückliegenden Jahren an einzelnen Schulen in der Bundesrepublik ereignet haben, sind uns noch gegenwärtig:

  • 09.11.1999: Ermordung einer Lehrerin an einem Gymnasium in Meißen.
  • 26.04.2002: Amoklauf eines introvertierten Schülers in Erfurt – Schreckensbilanz: 17 Tote!
  • 09.11.2009: Amoklauf eines Realschülers in Winnenden bei Stuttgart – Schreckensbilanz: 15 Tote!

Und es liegen dazwischen noch viele weitere, mehr als furchtbare Ereignisse. An dieser Stelle soll kein Schreckensszenario unter dem Leitthema von „Werteerziehung in der Schule” skizziert werden. Derartige Vorkommnisse  werden von vielen Politikern und Repräsentanten des öffentlichen Lebens, aber auch von Erziehungswissenschaftlern genutzt, um unstrittig persönliche Betroffenheit zu zeigen und „mehr Entschlossenheit zur Werteerziehung” anzumahnen; so auch vom ehemaligen Bundespräsidenten, Prof. Dr. Roman Herzog.

Hartmut von Hentig sah sich als Reaktion auf die Ereignisse von Meißen dazu veranlasst, ein kleines Buch mit dem gleichsam resignierenden Titel „Ach, die Werte!” zu verfassen. In ihm geht es vor allem darum, über den Zusammenhang von Politik und Pädagogik nachzudenken und nachdrücklich davor zu warnen, dass die Schule Dinge wiedergutmachen könnte, die in der Gesellschaft schieflaufen. Selbstredend hat die Schule, haben wir Lehrer generell die erzieherische Aufgabe, die „moralische Urteilskraft” (Theodor Litt) und die sittliche Entscheidungsfähigkeit junger Menschen herauszubilden. In allen Bundesländern wird „ethische Erziehung” gefordert – gleich, ob wir noch bereit sind, uns als Christen zu bekennen oder nicht. Keine aktuelle Richtlinie – gleich aus welchem Bundesland – kein aktueller Lehrplan und kein aktuelles Schulprogramm lassen die ethische Erziehung als Zielsetzung unerwähnt. Wer sich mit der Struktur von Schulgesetzen, Richtlinien und Lehrplänen auskennt, der weiß in diesem Zusammenhang um ein Dreifaches: dass die „ethische Erziehung” eher in den Präambeln als in den konkreten Stoffplänen bzw. Lehrplänen thematisiert wird; dass die didaktischen und methodischen Ausführungen, z. B. zu den Fächern Sprache, Mathematik usw. in der Regel Aussagen zur ethischen Erziehung vermissen lassen; und dass am ehesten noch für den „Religionsunterricht”, für das Fach „Ethik” und für das Fach „Politische Bildung” selbst Hinweise zur ethischen Orientierung gegeben werden. Aber auch das erschöpft sich in banalen Hinweisen.

Es ist aber zu hoffen, dass unabhängig von einem Auftrag durch die Lehrpläne die Mehrzahl der Fachlehrer die ethische Erziehung von sich aus als einen Teil ihrer Berufsaufgabe auffassen – wenngleich sich in dieser Formulierung sicher auch meine unterschwellige Skepsis wahrnehmen lässt.

3. VERSUCH EINER BEGRIFFSKLÄRUNG

Ich will an dieser Stelle keinen akademischen Streit über den Facettenreichtum der Begrifflichkeiten „Lehrerpersönlichkeit”, „Vorbild”, „Wert” und „Werteerziehung” entfachen. Es geht mir lediglich darum, im Rahmen dieses Beitrags eine Verständnisgrundlage zu haben. Das Wort „Wert” ist mehrdeutig. In der abendländischen Tradition war an Stelle von „Werten” lange von „Gütern” die Rede. Erst durch die im 19. Jahrhundert entstandene „Wertephilosophie” wurde der „Wert” neu durchdacht, philosophisch zugeordnet und gedeutet. Werte werden seitdem als Wertschätzungen des Subjekts verstanden, durch die den Phänomenen eine Geltung zugeschrieben wird. Werte werden heute verstanden als Maßstäbe und Standards, die für Einschätzungen – im Sinne des Wertschätzens – erforderlich sind. Werte sind somit u.a. „Kriterien für Wahlentscheidungen”. Oder etwas abstrakter formuliert: Werte sind „innere Führungsgrößen für unser Handeln”.

„Vorbilder” wirken im Prinzip durch Lebens- und Sozialisationserfahrungen. Sie sind somit durch Lern- und Bildungshilfen beeinflussbar. Werte bzw. Wertungen unterliegen hingegen als historische Phänomene epochal- und lebensgeschichtlichen Wandlungen.

4.   WERTEPLURALISMUS UND LEHRERHANDELN 2012

Auch wenn zahlreiche Fragen immer wieder auftreten, darf man doch 22 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Sinne einer (historischen) Zwischenbilanz feststellen: Im Prozess eines Übergangs entsteht immer eine Unsicherheit, entsteht ein Vakuum – ein Wertevakuum. Die sich ergebende „Werteunsicherheit” schlägt sich auch in Bildung und Erziehung nieder – ja, vielleicht ist sie aufgrund des Paradigmenwechsels im gesellschaftlichen Rahmenverständnis von Schule und ihrer Handlungsträger (also: der Lehrer) besonders spürbar! Wer zum Beispiel in den Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gehofft hatte, dass es nach dem Ende des Sozialismus wieder gleichsam automatisch zu einer Rückbesinnung und Wiederaufnahme christlichen Denkens kommen werde, muss sich spätestens unter dem gegenwärtigen Erscheinungsbild unserer Gesellschaft enttäuscht sehen.

Ja, ich wage zu behaupten: Dieser Verlust ist weit gravierender als die marode Gebäudesubstanz, die wir relativ leicht zu restaurieren verstehen (Ich erinnere an das geflügelte, geradezu makabre Wort aus DDR-Zeiten: „Ruinen schaffen ohne Waffen!”). Der weitaus größere Schaden wurde in den Hinterköpfen der unter dem kommunistischen Regime lebenden jungen Generationen angerichtet. Die Schädigung ist im wahrsten Sinne des Wortes nachhaltig, zumal sie durch nicht zwingend christlich denkende und handelnde „Aufbauhelfer” aus den westlichen Bundesländern noch verstärkt wurde und (wohl auch immer noch) wird.

Das Verstehen und die Aufforderung zur Überwindung solcher vielfach empfundenen Defizite – in der sozialwissenschaftlichen Diskussion häufig unter den Kategorien „Wertekrise, Werteverfall, Wertewandel” zusammengefasst – signalisiert der Begriff „Werteerziehung”. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, man könne den Defiziten durch organisierte erzieherische Maßnahmen begegnen und zu ihrer Behebung beitragen. Von daher muss man unter Werteerziehung – so die allgemeine und undifferenzierte Vorstellung – den Versuch verstehen, weltanschauliche und moralische Erziehung zu leisten und Werteeinstellungen beim Adressaten hervorzurufen, die der angedeuteten Symptomatik entgegenwirken können. Unter dem Aspekt der Sozialisation gehen dann schließlich Werte in Tugenden über, z.B.: Pflicht in Pflichtbewusstsein, Leistung in Leistungsbereitschaft, Gemeinwohl in solidarisch orientiertes Denken.

Diese mehr als vereinfachende Skizze, was unter „Werteerziehung” verstanden werden sollte, darf selbstredend nicht die Schwierigkeiten ausblenden, die sich in der praktischen Umgebung damit verbinden. Niemand erfährt das direkter und immer unmittelbarer als z. B. die Initiatoren und Akteure der weltweit sich thematisch unterschiedlich artikulierenden politischen „Agenden”. Ich denke hier vor allem an die entsprechenden Äußerungen der Vereinten Nationen und die am 8. September 2000 von 189 Regierungen gefassten Beschlüsse, z. B. die Hungersnot und Armut in der Welt innerhalb einer selbst gesetzten Frist von 15 Jahren drastisch zu senken („Millenium Declaration”). Derartige politische Aktionismen sind populistisch und bewusst irreführend. Ich denke hier auch an die entsprechenden Äußerungen zum „Klimawandel”. Man darf gespannt sein, welche Formulierungen seitens der Politiker beim Erreichen des Zieljahres 2015 (!) der „Millenium Declaration” zur Rechtfertigung ge- oder erfunden werden.

Auch wenn es in diesem Zusammenhang spannend wäre, hierzu einzelne Positionen aufzuschlüsseln, so will ich es mit einer vorläufigen Zwischenbilanz bewenden lassen: Je abstrakter die normative Setzung von Werten für den Einzelnen ist, desto weniger wird deren Realisierung bzw. Umsetzung in Frage gestellt – auch wenn keiner weiß, wie es gehen soll. Wenn Grundwerte, wie Menschenwürde, Friede, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität usw. einmal ausgesprochen sind, stellt sie auch keiner mehr in Frage. Man akzeptiert die positiv belegten verbalen Begriffe, aber in der konkreten Umsetzung ist man völlig hilflos. Dabei beinhaltet jeder Begriff für sich ein umfassendes, weltweit gültiges Programm und Handeln!

Auch die Rolle der Schule hat sich gewandelt – und sie wird sich noch weiter wandeln! Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass sie im Zuge des Leben begleitenden Lernens allenfalls nur ein Element – wenn auch unbestritten ein sehr wichtiges – im gesetzmäßigen Kontinuum aufeinander bezogener Bildungsschritte darstellt. Schule bleibt der Bereich von Bildung und Erziehung, der dem staatlichen und damit dem politischen Einfluss am stärksten ausgesetzt ist. Damit besitzt Schule als die Agentur staatlich organisierter Bildungsprozesse immer eine Funktion der Gesellschaft, in der sie betrieben wird. Insofern spiegelt sich im Unterrichtsgeschehen, in ihren Richtlinien und Lehrplänen, Lernzielen und Schulbüchern nicht allein das, was gesellschaftlich von der Generation der Erwachsenen aktuell für wünschenswert gehalten wird. Es soll in diesem Zusammenhang nicht weiter ausgeführt werden. Dennoch sei als eine denkbare Konsequenz eine Gegenfrage angedeutet – und es ist keine rhetorische Gegenfrage: Muss nicht Schule aus sich heraus gerade gegen die Zeit, also bewusst unzeitgemäß sein? Ist das nicht gerade ihr Auftrag? Es kann doch im schulischen Erziehungsprozess nicht ernsthaft um die Anpassung an ein aktuell gesellschaftliches Verständnis gehen – vielmehr muss doch die Gesellschaft durch die nachrückende Generation weiterentwickelt werden!

Es sei jedoch bereits eines eingeblendet: „Erziehung zur Selbstständigkeit und Mündigkeit” ist immer darauf zielgerichtet, dass Kinder und Jugendliche Dinge anders sehen als Erwachsene, die zu ihren Entscheidungen und Überzeugungen in oftmals ganz anderen biografischen und gesellschaftlichen Kontexten gekommen sind. Das ist naturgemäß so – das muss auch so sein! Wir Erwachsene freuen uns, wenn unsere Schüler und Jugendlichen, wenn unsere eigenen leiblichen Kinder die von uns als richtig erkannten Werte möglichst 1:1 verinnerlicht haben. Aber bitte Achtung! Wir Erwachsene, wir Eltern und Erzieher sind leicht ungeduldig! Denn Verinnerlichung von Werten ist in unmittelbarer Abfolge nur äußerst selten! Oder etwas anders formuliert:  Was wir als Erwachsene als einen Wert ansehen, wird von den Kindern und Jugendlichen zunächst nur begrenzt zustimmend zur Kenntnis genommen. Ob es für diese wirklich zu einem Wert wird, hängt von den damit gemachten Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen ab. Bewährt sich dieser Wert und wird er von den Kindern und Jugendlichen für ihr Leben als hilfreich und richtig erkannt – und das kann durchaus deutlich zeitversetzt erfolgen – so  liegt eine Akzeptanz bzw. eine modifizierte Annahme nahe. Aber: Wir Erwachsene können nur Größen und Phänomene anbieten, die wir in unserer Biografie selbst als Wert erfahren und bejaht haben – mehr nicht!  Dieser mitunter langwierige Prozess muss von jeder Generation neu und ganz individuell durchlaufen werden.  Das alles wissen wir zwar; aber wir sind so schrecklich ungeduldig. Wir müssen den Kindern und Jugendlichen sowie allen anderen Zeit geben, um das Angebot der Werte für sich reflektierend zu prüfen, diese in die eigenen Lebenszusammenhänge einzugliedern und deren Richtigkeit persönlich zu erfahren.

5. WERTEERZIEHUNG KONKRET

Wir wissen aus der jüngsten Zeitgeschichte nur zu genau, dass der Versuch, die Pädagogik und ihre Handlungsfelder zu instrumentalisieren, immer wieder gemacht wurde und gemacht wird. Das ist absolut nicht in Ordnung! Da es mitunter sehr subtil geschieht, ist es perfide, denn das Kind bzw. der Jugendliche verfügt mitunter noch nicht über die hinreichenden Entscheidungskriterien.  Ohne es im Einzelnen jetzt nochmals zu unterlegen, gilt, dass aus der Pädagogik alles das zurückzuweisen ist, was den Menschen für andere Zwecke als die seiner Selbstverwirklichung in den Dienst nehmen will. Pädagogik ist weder Abrichtung (Dressur) für bestimmte gesellschaftliche Funktionen noch Gewöhnung an Tabus: Sie ist weder Einübung in herrschende Sitten noch Unterwerfung unter weltanschauliche Vorgaben in Verbindung mit Machtausübung. Erziehung ist schlicht und einfach eine Hilfe zur Entfaltung des Individuums.

5.1         Politik und Verantwortung

Es wäre ein Trugschluss, hieraus „Egoismus” als Erziehungsziel abzuleiten. Vielmehr ist der Mensch auf Gemeinschaft angelegt; nur in ihr kann er sich entfalten. Selbstfindung, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit sind die eigentlichen Ziele, auf die pädagogisches Handeln ausgerichtet zu sein hat. Und in dieser Zuordnung erweisen sich Freiheit und Verantwortung als konstitutive Ziele der Pädagogik.

Einer Person „Verantwortung übertragen” ist immer an ein Vertrauen gekoppelt, in dem sich die Richtigkeit und Gültigkeit vermittelter Werte und Normen beweisen kann. Werden diese Werte und Normen schrittweise verinnerlicht – und nicht „oktroyiert” im Sinne von „Du hast!” oder „Du sollst!” – so verfügt der Betreffende über ein gesichertes und somit geprüftes Verhaltensrepertoire. Staatliches Handeln hat gemäß dem grundgesetzlichen Auftrag ausschließlich dem freiheitlich-demokratischen Gemeinwohl seiner Bürger zu dienen. Richtmaß hierzu ist auf allen Ebenen das Subsidiaritätsprinzip, denn „der Staat ist nicht der ideologische Vormund seiner Bürger!”.

5.2         Die „pädagogische Freiheit und Verantwortung” des Lehrers

Wenn sich Schule von heute – und die Prozesse sind international, wenn sie auch mit unterschiedlichem Tempo verlaufen – zu einer selbst verantworteten Schule wandelt, verändert sich in einem längeren Entwicklungsprozess auch die Rolle der Lehrer. Die Selbstständigkeit vergrößert sich, das Maß ihrer Unabhängigkeit von Vorgaben wächst, Art und Umfang der Verantwortung werden deutlicher. Der Staat allerdings kann nicht erwarten, dass sich diese Veränderungen nur durch die Initiative der Lehrer oder womöglich gegen deren Willen einstellen. Er muss die Rahmenbedingungen schaffen und den Prozess aktiv unterstützend begleiten. Lehrerinnen und Lehrer wollen bzw. dürfen Unterricht und Erziehung nicht in erster Linie über Vorschriften und permanent externe Kontrolle gesteuert und gesichert sehen, sondern durch Selbststeuerung und Selbstverantwortung.

Auf den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel wird die Schule am besten reagieren können, die Lehrern u.a. den Freiraum für innovative Arbeit und für kreative Planung von Erziehungsprozessen gibt. Was der Staat vom Lehrerberuf jedoch erwarten kann und worauf auch die von ihm geleitete Vorbereitung auf den Lehrberuf hinzuarbeiten hat, ist die Ausgestaltung des unmittelbaren Verantwortungsbereichs der Lehrer. Dabei geht es immer um Unterricht und Erziehung im eigentlichen Sinn. Dies ist der Verantwortungsbereich, über den Lehrer gegenüber dem Staat Rechenschaft ablegen können und müssen – in erster Linie aber gegenüber dem einzelnen Kind und jedem einzelnen Jugendlichen.

Diese Verantwortung übernehmen zu können, erfordert einen gebildeten und frei handelnden Lehrer, der seine pädagogische Verantwortung einbindet in seine Verantwortung als Bürger für die gemeinsamen Regeln des gesellschaftlichen Handelns. Wir alle wissen, dass Freiheit und Verantwortung ein nichtauflösbares Paar bilden. Die Pädagogik versteht den Begriff „Freiheit”, indem sie von folgender Aussage ausgeht: Freiheit ist dem Menschen zwar als Möglichkeit gegeben. Aber diese Fähigkeit, sich durch Erkenntnistätigkeit und Handeln selbst zur Welt in ein Verhältnis zu setzen, muss pädagogisch entwickelt werden. Es ist daher die Grundfrage der Pädagogik, wie das „Vernunftwesen, das der Mensch als Möglichkeit ist, Wirklichkeit wird” (Immanuel Kant), wie also die „Vernunft des Kindes in Tätigkeit versetzt werden kann”.

Diese Frage umschreibt den theoretischen Horizont, in welchem sich bereits das Denken der Aufklärungspädagogen bewegte (z. B. Jean-Jacques Rousseau). Erziehung ist danach Gegenstand von Reflexion und Planung. Ihr Ziel ist es, ins Leben zu führen. Sie gilt deshalb dem ganzen Menschen und soll – wie wir schlagwortartig wissen – „Kopf, Herz und Hand” bilden (Johann H. Pestalozzi). Somit ist Erziehung rational begründet und folglich methodischer Planung zugänglich. Dies alles – so wissen wir aus der Geschichte unserer Wissenschaftsdisziplin – konstituierte ein verändertes Verhältnis der Erwachsenen zu den Heranwachsenden. Auch kennen wir die Auswirkungen des Paradigmenwechsels, als die „Kindheit” entdeckt und Kinder nicht mehr nur als „unfertige Erwachsene” bezeichnet wurden.

So gesehen stellt sich die Erziehung als Wegbereiterin der Freiheit dar. Sie wurde und wird in der Tat zu einer gesellschaftlichen Aufgabe, die der rationalen Planung bedarf. Freiheit ist somit ein pädagogischer Begriff, was – wenn auch in sehr verkürzter Form – die soeben gestellte Frage beantwortet. Hier liegt ein internationales Verständnis von Erziehung zugrunde, und zwar völlig unabhängig von den jeweiligen politischen Systemen.

Lassen Sie mich das Phänomen „pädagogische Freiheit” noch kurz aus der beruflichen Rolle des Lehrers betrachten. Sein Rechtsstatus ist gekennzeichnet durch eine Doppelrolle: Der Lehrer ist seinem Status nach Angehöriger des Öffentlichen Dienstes; seiner Funktion nach ist er Erzieher und Wissensvermittler. Als Angehöriger des Öffentlichen Dienstes unterliegt er der Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat bzw. dem Land; er ist weisungsgebunden. Als Erzieher hingegen lebt er weitgehend von der Eigendynamik seiner Persönlichkeit. Als Erzieher muss er in seinem Handeln zudem der Eigengesetzlichkeit der Pädagogik überlassen bleiben. Diese Inkongruenz zwischen dem Status und der Funktion macht die eigentliche Problematik in der Rechtsstellung des Lehrers aus.

Begrifflich wird diese Spannungslage zwischen Status und Funktion durch die Kategorie „pädagogische Freiheit” eingefangen. Mit ihr soll die Antinomie von Bindung und Freiheit innerhalb des Lehrerberufs zum Ausdruck gebracht werden. Die „pädagogische Freiheit” hat –  ungeachtet der Tatsache, dass sie inzwischen zu einem Rechtsbegriff geronnen ist – ihre Heimat unzweifelhaft in der Pädagogik.

So stimmig sich die „pädagogische Freiheit” auch definieren lässt, so sind doch drei wesentliche Fragen zu beantworten:

  1. Wovon soll die „pädagogische Freiheit” den Lehrer freimachen? Von derÜberbelastung mit Verwaltungsarbeit? Von der Bürokratie? Von der Schulleitung? Von Weisungen, Lehrplänen und Richtlinien?
  2. Wozu soll diese Freiheit dienen? Was ist ihr Sinn und ihre Funktion?Stellt sie ein Privileg der Lehrer dar oder steht sie im Dienst einer Aufgabe?
  3. Wie wirken sich die Maßnahmen der Schulaufsicht oder innerschulische Maßnahmen juristisch aus, wenn sie die pädagogische Freiheit des Lehrers berühren?

Fragt man nach dem Zweck und dem rechtlichen Charakter der pädagogischen Freiheit, so ist festzustellen, dass sie missverstanden wäre, wollte man sie als ein Sonderrecht, als ein Privileg des Lehrers bestimmen.

6. DIE SCHULE – EINE SOZIALE LEISTUNGSSCHULE

Schüler und Jugendliche müssen in der Schule zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit eine ihren Begabungen und Neigungen entsprechende Förderung erfahren; sie müssen in der Schule aber auch zugleich erfahren, dass ein Staat  ohne die Leistungen des Einzelnen nicht existenzfähig ist. Denn: Sozialstaat heißt Leistung auf Gegenseitigkeit!

Das bedeutet, dass diejenigen, die mehr leisten können, auch mehr leisten müssen, damit sie für diejenigen Leistungen mit erbringen, die dazu nicht oder nur bedingt in der Lage sind. Die „soziale Leistungsschule” geht daher von einem Leistungsbegriff aus, der in soziale Verantwortung eingebettet ist. Durch eine solche ethische Rückbindung trägt Leistung zur Selbstbestimmung und Weltgestaltung in schöpferischer Weise bei. So kann sie in Solidarität mit und zu den Mitmenschen erbracht werden. Denn die Welt des Menschen wird von den Maßgaben des Funktionalen, des Materiellen und des Quantifizierbaren nicht restlos erfasst. In dieser Welt sind die Würde des Menschen und seine Unverwechselbarkeit bestimmende Maßstäbe, in deren Kontext erst die Leistung ihren gebührenden Platz erhält. In all meinen Berufsjahren ist für mich deutlich geworden, dass die überwiegende Mehrheit der jungen Menschen bereit ist, sich einer so verstandenen Leistungsanforderung zu stellen. Hier hat z. B. das soziale Engagement vieler Jugendlichen in den vielfältigen gesellschaftlichen und privaten Bereichen seinen Grund, hieraus erklärt sich auch der hohe Einsatz bei den verschiedenen Wettbewerben im schulischen wie im außerschulischen Bereich.

Die soziale Leistungsschule will die angesprochene Leistungsbereitschaft dort wecken, wo sie noch nicht hinreichend ausgeprägt ist. Sie will fördern, wo sie bereits lebendig ist. Ich denke, dass nur dieses der Auftrag einer demokratischen Schule sein kann und darf. Nicht das Kollektiv, sondern die Förderung des Einzelnen in sozialer Verantwortung. Das heißt für uns Erzieher, für uns Lehrer und für uns Hochschullehrer in der Konsequenz: Den Anderen zu sehen und für den Anderen da zu sein!

Alles gleichzumachen, bedeutet – bildlich gesprochen – Schüler auf die Schnitthöhe eines Rasenmähers zu bringen. Und wir wissen, wie schnell wir wieder den Rasenmäher herausholen, um die optisch scheinbar so schöne Gleichheit eines „englischen Rasens” wieder herzustellen – und zugleich doch möglichst alle kurz zu halten. Dass die Wiese erst wieder schön wird, wenn erneut z. B. Gänseblümchen, Löwenzahn und viele andere Blumen zu sehen sind, ist uns in der Sehnsucht nach Gleichheit nicht hinreichend bewusst. Schließlich gibt es nichts Ungerechteres, als von Ungleichen Gleiches zu verlangen.

7. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

Sicherlich haben viele Schüler erfahren, was es heißt, füreinander Zeit zu haben. Das ist auch im schulpädagogischen Handlungsfeld eine Maxime – nein, es ist für mich die einzig gültige Maxime! Das gilt sowohl im Umgang mit Schülern als auch mit Kollegen.

Denn es geht schlussendlich immer darum, den Anderen zu sehen, ihm zuhören zu können und für ihn erreichbar zu sein, ihn in seinen Leistungen anzuerkennen, Lösungen gemeinsam finden zu lassen, Fehler nicht als Versagen einzustufen, was per se negativ besetzt ist. Fehler sind immer als eine besondere Lernchance zu begreifen. Weiterhin muss es ein Abrücken von der „Übernehmt-Pädagogik” geben, stattdessen sollte forschendes und entdeckendes Lernen gestärkt werden. „Selbstständigkeit und Mündigkeit” sind die konstitutiven Ziele der Erziehung. Sie sind aber nur zu erreichen, wenn das Individuum (und hier meine ich nachdrücklich die Person des Schülers) „Freiheit und Verantwortung” prozessartig erlebt und mitgestalten kann.

Sicherlich müssten noch zahlreiche weitere allgemeine, für alle Lehrämter und Unterrichtsfächer geltende Grunddispositionen eines Lehrers angesprochen werden. Um es noch einmal zu betonen: Kinder wollen lernen. Sie sind neugierig und sie wollen Dinge in Erfahrung bringen. Warum nutzen wir das nicht in adäquater und jeweils altersgemäßer Form in allen Disziplinen, in allen Jahrgangsstufen aus? Manche Enttäuschung und Abwendung von der Schule müssen wir Lehrer und Erzieher selbst bedenken bzw. in unsere eigene „Verantwortung” nehmen. Sicher begründen sich hierin auch zahlreiche Probleme im allgemein gesellschaftlichen Umfeld von Unterricht und Erziehung – das will ich in keiner Weise klein reden.

Mir ist auch klar – und ich sage es gern noch einmal: Die Schule ist nicht die Reparaturwerkstatt für alle gesellschaftlichen Probleme. Es kann auch nicht sein, dass ihr die Aufgabe zugeordnet wird, sich aus dem Zeitgeist heraus wandelnden Wertvorstellungen chamäleonartig anzupassen. Dennoch müssen wir die Probleme aufmerksam wahrnehmen. Wir müssen sie analysieren und uns mit ihnen in einer offenen Streitkultur – gegebenenfalls unter Heranziehung von Experten – auseinandersetzen. So ist z.B. die Kooperation mit Sozialpädagogen bei uns in Deutschland leider immer noch eine Ausnahme.