Konrad Weiß
Als im August 1961 die Mauer gebaut wurde, war ich neunzehn. Meine Lehrzeit als Elektromonteur ging zu Ende, und ich wohnte noch bei meiner Mutter in Genthin. In ein paar Wochen würde ich nach Görlitz ans Katechetenseminar gehen und dort einen Halbjahreskurs für katholische Laien belegen. An jenen Sonntag, an dem in Berlin die Mauer gebaut wurde, habe ich nur eine sehr ungenaue Erinnerung. Ich war wohl in einem Nachbarort zur Hochzeit eines Freundes. Das Hochzeitsfoto, das aber nicht datiert ist, zeigt mich mit einem gewaltigen Pflaster am Kinn. Ich war am Tag zuvor auf dem Heimweg vom Polterabend mit dem Fahrrad gestürzt. Wie ich vom Mauerbau erfahren habe? Ich weiß es nicht mehr. Hatte es sich auf der Hochzeit herumgesprochen? Oder hatte es uns jemand auf dem Rückweg zugerufen? Es scheint mich nicht wirklich beunruhigt zu haben, Berlin war weit, und was es wirklich bedeutet, hatte ich wohl zunächst nicht begriffen. Fernsehen hatten wir nicht, und die Bilder, die damals um die Welt gingen und sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingruben, sah ich erst viel später.
Ein oder zwei Jahre darauf hätte ich die Möglichkeit gehabt, in den Westen zu gehen. Mein Bruder Reinhard, der damals Geschäftsführer der CDU in Lippstadt war, hatte einen Weg gefunden. Er selbst hatte 1949 aus der DDR fliehen müssen. Damals, vor den 1. Volkskammerwahlen, hatte er in Genthin zusammen mit anderen Jugendlichen eine Ortsgruppe der Jungen Union gegründet. Die SED ließ die jungen Leute verhaften, einige sind verurteilt worden und nach Sibirien in den Gulag gekommen. Mein Bruder und ein Freund waren gewarnt worden und konnten bei Nacht über die Felder bis zur nächsten Bahnstation und von dort nach Westberlin flüchten. Bis heute erinnere ich mich an diesen überstürzten nächtlichen Abschied von meinem großen Bruder. Erst drei Jahre später haben wir uns beim Katholikentag in Westberlin wiedergesehen. Und dann noch einmal 1954 , als meine Mutter und ich zum Verwandtenbesuch in den Westen reisen durften. Er gab mir in den Tagen, als ich bei ihm in Düsseldorf war, ein Buch zu lesen, das ihm sehr wichtig war und seinen Weg mitbestimmt hatte, den Roman „Menschenfischer” von Maxence van der Meersch. Mein Bruder hat am Katholisch-Sozialen Institut in Bad Honnef studiert, das der katholischen Soziallehre verpflichtet war und ist, und war anschließend jahrzehntelang hauptamtlicher Mitarbeiter der CDU.
Und nun hatte er einen Freund aus dem Katholisch-Sozialen Institut zu mir geschickt, der mir sagte, dass mein Bruder für mich einen sicheren Fluchtweg gefunden hätte. Das konnte er mir natürlich nicht im Brief schreiben oder am Telefon sagen. Für seinen Freund war es ein erhebliches Risiko, mit einem solchen Angebot in die DDR zu reisen. Aber ich lehnte das Angebot ab. Ich wollte in der DDR bleiben. Ich wollte bleiben, um das Feld nicht ganz den anderen zu überlassen. Ich wollte bleiben, um als junger Christ im atheistischen Arbeiter- und Bauernstaat zu leben. Ich frage mich heute natürlich, war das wirklich mein Motiv? Oder hatte ich vielleicht nur Angst vor der Flucht oder Angst vor Veränderung? Wollte ich bei meiner Mutter bleiben, die nicht gegangen ist, solange es in Genthin das Grab meines Vaters gab? Fast alle Verwandten waren in den 1950er Jahren in den Westen geflohen. Nur zwei alte Tanten, meine Mutter und ich waren in Genthin geblieben.
Bei meiner Entscheidung hat mich ganz sicher das Buch „Menschenfischer” beeinflusst, der Roman über die Christliche Arbeiterjugend, die CAJ. Zu deren Grundsätzen gehört es, als Christ bewusst zu den Menschen zu gehen, dort zu sein, wo sie leben und arbeiten, auch in einer atheistisch gewordenen Arbeitswelt. Ich gehörte Anfang der 1960er Jahre zu einer illegalen CAJ-Gruppe in der DDR, die Pfarrer Georg Kirch aus Ziesar um sich geschart hatte. Einmal im Jahr trafen wir uns unter dem Tarnnamen „Laues Wasser” zu einem Zeltlager der CAJ auf einer abgelegenen Waldlichtung bei Lehnin. Ein uns wohl gesonnener Förster hatte den Platz zur Verfügung gestellt. Auf dieser Waldlichtung versuchten wir, das Evangelium als Lebendiges Evangelium zu erfahren, wie es überall in der Christlichen Arbeiterjugend praktiziert wurde, und wir wurden in Vorträgen und Gesprächen in die Grundlagen der katholischen Soziallehre eingeführt. Zwei Jahre lang ging das gut, im dritten dann – 1963 – hat der Staatssicherheitsdienst uns aufgespürt und des Platzes verwiesen. Wir haben eine andere Stelle gesucht und dort weitergemacht.
Ich habe meine Entscheidung, in der DDR zu bleiben, in all den Jahren kaum einmal bereut. Natürlich gab es immer wieder Momente und Zeiten, wo das Leben in der DDR angesichts der Repressionen, der Stagnation, der Dummheit schwer auszuhalten war. Wo ich mich fragte: „Warum tust du dir das an?” Aber ich hatte ja eine Familie, die mich trug und mir Kraft gab. Ich hatte einen Beruf, der mich erfüllte und mir oft Freiheiten gab, die andere in der DDR nicht hatten. Ich hatte Freunde, auf die ich mich verlassen konnte und die mich ermutigten, meinen Weg zu gehen. Ich hatte schon einmal, 1945 als kleines Kind, meine Heimat verloren. Das Leid meiner Mutter hatte mich verstehen lassen, wie schmerzlich ein Heimatverlust ist. Ich wusste, von der Heimat lässt man nicht leichtfertig.
Die meisten wirklich schmerzlichen Konflikte gab es bei der Erziehung der Kinder und bei der Arbeit, wenn ich einen Film nicht machen oder nicht so machen konnte, wie ich es wollte. Dennoch, innerlich war ich ziemlich frei, auch dann, wenn ich als Nichtgenosse diskriminiert oder in der Arbeit behindert wurde. Das ist mit dem Wort Zensur nur sehr ungenau beschrieben. Den Zensor mit Ärmelschonern und Schere gab es in der DDR nicht. Aber es gab, und das war weitaus schlimmer, ein gesellschaftliches System der Zensur, das man kaum umgehen konnte, wollte man öffentlich werden. Als wirklich hilfreich habe ich da oft die Solidarität meiner Kollegen erfahren, insbesondere der aus meinem engeren Stab. Wenn wir das Studio in der Berliner Nuschkestraße hinter uns gelassen hatten und auf dem Weg zum Drehort waren, waren wir sowieso frei. Oder fühlten uns jedenfalls so.
Der Dokumentarfilm in der DDR war – wie konnte es in einem totalitären Staat anders sein – obrigkeitserlaubter Film, wie mein Kollege Günter Jordan das treffend genannt hat. Das gilt für alle Medien in der DDR. Sie waren auch dort, wo sie gegen den Strich gingen, konforme Medien. Das war mir von Anfang an klar, wenn auch vielleicht nicht mit allen Konsequenzen für den Berufsalltag. Ich konnte zwar längst nicht alle Filme machen, die ich gern gemacht hätte. Aber ich habe keinen Film gemacht, den ich nicht machen wollte.
Auf jeden Fall – das war mir aber immer bewusst – hatte ich bei der DEFA einen sehr privilegierten Arbeitsplatz. Wir sind viel in der DDR und zuweilen auch im Ausland herumgekommen und haben zahlreiche Menschen aus sehr unterschiedlichen Lebensbereichen kennengelernt. Diese Begegnungen waren oft sehr intensiv. So haben wir viel von der realsozialistischen Realität mitbekommen, was allerdings die Distanz zur DDR auch immer größer werden ließ. Der Konflikt, nicht das im Film zeigen zu können, was wir eigentlich hätten zeigen müssen, wurde immer brennender. Manche meiner Kollegen haben das nicht ausgehalten; einige sind in den Westen gegangen, andere haben aufgehört Filme zu machen, wieder andere sind zu Alkoholikern geworden oder zu Zynikern, die am Ende alles gemacht haben, was von ihnen verlangt wurde.
Ich habe mir einen anderen Weg gesucht. Ich habe Mitte der 1970er Jahre begonnen, immer mehr als Autor zu arbeiten. Da aber natürlich in den Zeitungen und Zeitschriften der DDR davon kaum etwas erscheinen konnte – mit Ausnahme der immer mutiger werdenden evangelischen Wochenzeitung „Die Kirche” – habe ich zunehmend auch im Westen, in Polen und im Samisdat der DDR publiziert. Die Konflikte, die ich deswegen hatte, beschränkten sich zunächst nur auf arbeitsrechtliche Aspekte. Ich war als Regisseur bei der DEFA festangestellt und hätte alles, was ich veröffentliche, der Studioleitung zur Genehmigung vorlegen sollen. Das habe ich natürlich nie getan, trotz aller angedrohten Konsequenzen. So hatte ich mir einen wirklichen Freiraum geschaffen, der mir half, in der DDR zu überleben. Durch meine Veröffentlichungen bin ich dann letztlich auch zur Opposition gekommen.
Wenn heute von dieser fernen, dieser untergegangenen DDR gesprochen wird, geht manches durcheinander. Das Erinnern hat immer eine persönliche und eine politische Dimension. Wenn man das nicht beachtet und sorgsam trennt, tut man uns, den Ostdeutschen, schnell unrecht. Bindungen an das kulturelle und soziale Umfeld, in dem man aufgewachsen ist und gelebt hat, sind doch etwas Natürliches und Schönes. Das ist gelebtes Leben, ist Teil der eigenen Biographie. Die kann einem niemand streitig machen oder entwerten, wie das oft unterstellt wird. Jeder hat allein die Hoheit über seine Erinnerung.
1977 habe ich in der mongolischen Steppe einen Film gedreht. Geologen und Bergleute aus der DDR und der Mongolei suchten dort gemeinsam nach Bodenschätzen. Einige hatten ihre Familien mit in das Expeditionslager genommen. Von den deutschen und mongolischen Kindern in Salchit, dem fernen Tal des Windes, erzählte mein Film.
Dort in der Steppe habe ich die wohl denkwürdigste Vorführung meiner Filmlaufbahn erlebt. Ich hatte, um mein Team vorzustellen, einen unserer Filme mitgebracht. Die Vorführbedingungen waren abenteuerlich: Der uralte Bildwerfer musste erst instand gesetzt werden, als Projektionsfläche diente eine Schranktür. Der Zufall fügte es, dass unser Film im Heimatort eines der Männer spielte, die dort arbeiteten, in einem Dorf in der Altmark. Da hockte nun dieser gestandene, raubeinige Bergmann, den es schon um die halbe Welt getrieben hatte, vor dem flimmernden Schrank und schluchzte wie ein Kind. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir ihm die Bilder von der Dorfstraße daheim, dem Kirchturm, den Feldern vorspielen mussten.
Aber das war natürlich keine Sympathiebekundung für die DDR, für den SED-Staat, den Sozialismus. Das Wir-Gefühl, das die ehemalige Staatspartei den Ostdeutschen noch immer einzureden versucht, gab es in der DDR in Wahrheit nie. Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte und hat mit den Genossen nichts im Sinn. Den Bergmann in der mongolischen Steppe hat es doch nicht vor Sehnsucht nach der Partei geschüttelt! Seine Tränen waren eine sympathische, menschliche Regung, das war Heimatliebe und Heimweh. Aber Heimweh nach dem, was Heimat ausmacht: Menschen, Landschaften, Häuser, ein Geruch, ein Licht – nicht ein Staat und erst recht nicht eine Partei. Ich bin mir sicher: Wer so wie er sein Land liebte, hat weder der SED noch der DDR eine Träne nachgeweint.
Zum Leben in der DDR gehörte das Misstrauen und gehörte die Angst. Diese Gesellschaft hätte nicht ohne die tiefe Zerstörung von Menschlichkeit funktioniert. Diese Gesellschaft war krank. Und natürlich waren wir alle, die in der DDR lebten, betroffen. Es war eine unglaublich mühevolle und schmerzhafte Arbeit, diesen Grunddefekt der DDR-Gesellschaft zu erkennen und sich der eigenen Verstrickung bewusst zu werden. Auch bei mir hat es das halbe Leben gedauert, obgleich ich den Vorteil hatte, in kritischer Distanz zum Marxismus aufgewachsen zu sein und darin immer wieder bestärkt zu werden.
Wenn es dennoch Menschlichkeit und Wärme in diesem Land gegeben hat, dann nicht dank des Staates oder der alleinherrschenden Partei, sondern trotz ihrer. Die Nischen, die ein romantischer Beobachter entdecken mochte, waren in Wahrheit Rettungsinseln, waren verzweifelter Widerspruch, waren Widerstand. Die Wärme, die manche Expeditionsreisende aus dem Westen spürten, war unser Selbstschutz und unsere Selbsterhaltung. Aber sie war nicht das Wesen dieses Staates. Der Staat, diese sogenannte sozialistische Menschengemeinschaft, war in Wahrheit menschenverachtend, brutal und eiskalt.
Natürlich bin auch ich von dieser DDR geprägt. Ich glaube nicht, dass man ein ganzes Leben in der Distanz, im Widerspruch leben kann. Kaum jemand erträgt es, lebenslänglich zu leiden. Ich jedenfalls konnte es nicht. Auch für mich war die DDR, das kleinere Deutschland, wie ich es zuweilen nannte, mein Land. Mein Land, das ich zwar verändern, aber nie verlassen wollte, trotz all seiner Schäbigkeit nicht. Wie hätte ich auch leben sollen, wenn ich mir eingestanden hätte, hoffnungslos gefangen zu sein, entmündigt und unfrei, abhängig und gehorsam gemacht? Auch ich war angepasst und verstrickt, keine Frage. Doch das durfte ich mir, um des Überlebens willen, nur für Augenblicke eingestehen. Aber diese kostbaren, schmerzvollen Augenblicke haben mir geholfen, angstfrei zu werden. Angstfrei? Nein, das wohl nicht. Aber so frei immerhin, dass ich nicht mehr von der Angst beherrscht war und Mut hatte zum Denken und Handeln.
Die Verwurzelung in dieser kalten, engen, schäbigen DDR ist viel tiefer, als ich zeit ihres Bestehens geglaubt hätte. Dass die Wiedervereinigung auch Heimatverlust bedeuten, dass sie auch schmerzhaft sein würde, ahnte ich früh. Die DDR war nun einmal der Ort, wo ich gelebt habe, wo ich geliebt habe, wo ich glücklich war. Wo ich in einem langen und mühsamen Prozess gelernt habe, Widerspruch zu wagen. Wo ich tauglich geworden bin für ein selbstbestimmtes, aktives Leben in Freiheit und Demokratie. Aber das habe ich zuallerletzt der DDR oder gar der SED zu verdanken.
Ich habe jedoch auch nicht die Bitternis vergessen, all die Demütigungen, das Gefangensein. Ich weiß, wie viele Menschen an dieser DDR verzweifelt, irre geworden, zugrunde gegangen sind. Und wie viele deformiert, unmündig gemacht worden sind für immer. Ich habe das Glück gehabt, frühzeitig ein wenig distanzierter, ein wenig wacher zu sein als die meisten.
Als ich Ende der 1970er Jahre zum ersten Mal in den Westen fahren durfte, ertappte ich mich beim Überfahren der Grenze, irgendwo in der S-Bahn zwischen Friedrichstraße und Bahnhof Zoo, bei einem Gefühl der Dankbarkeit. Zugleich durchfuhr es mich wie ein Blitz: Dankbar sein für das, was doch dein selbstverständliches Recht, ein verbrieftes Menschenrecht ist? Das hat mich wachsam gemacht.
Kaum jemand hat mich bei den seltenen Besuchen im Westen verstanden, wenn ich sagte, ich gehe zurück. Wie nur kann man freiwillig in das Gefängnis zurückkehren, dem man zugleich doch entfliehen möchte? Es gab immer die Minuten bei der Rückkehr, zwischen Bahnhof Zoo und Friedrichstraße, in denen sich die Frage übermächtig, ja elementar stellte: Fahre ich weiter oder steige ich aus, bleibe im Westen. Für mich gab es niemals eine Alternative für das Land hinter der Mauer, für die Heimat, die Familie, den Beruf, den kleinen Frieden. War es wirklich eine Rückkehr ins Gefängnis? Ja, vielleicht für ein paar Augenblicke, wenn die Mauer draußen vor dem Zugfenster näher kam, vorbeizog, hinter mir lag; wenn die Grenzer unfreundlich und neidisch den Pass beäugten; wenn der Zoll die mitgebrachten Zeitungen und Bücher beschlagnahmte. Aber schon das Grau der Straßenzüge war wieder Heimat.
Haben so auch all jene gefühlt und gedacht, die über die Jahre hin das Land verlassen haben? Die Zehntausende, die im Sommer ’89 die erstbeste Gelegenheit, die sich bot, zur Flucht nutzten? Und hatten die Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Philosophen, die Dissidenten und die Hinterzimmerrevolutionäre, die in all den Jahren das Land verlassen haben, tatsächlich ihren Glauben an die Veränderbarkeit der Welt verloren? Oder hatten sie es einfach nur satt, bevormundet und beobachtet zu leben, sind gegangen, um frei zu sein? Sie alle haben uns gefehlt. Niemandem, der ein anderes Leben gewählt hat, ist ein Vorwurf zu machen. Ich weiß, wie verzweifelt, verstümmelt, verstört viele waren, wenn sie den Ausreiseantrag stellten oder die Flucht wagten. Ich kenne ihr langsames Verstummen, ihr Verlöschen, ich habe ihre leeren Blätter und Leinwände gesehen. Da war so viel Schmerz. Da war so viel Trauer. Aber das hätte sich keiner von ihnen eingestanden.
Diese Ausbürgerungen und Vertreibungen gehörten ebenso zum System wie das Gewähren von Reiseprivilegien für Künstler und prominente Dissidenten. So sollte das Land steril und blutleer gemacht werden. Sobald einer aus der Reihe tanzte, wurde er durch Verführung gefügig gemacht oder gewaltsam ausgeschlossen. Auf diese Weise konnte die Opposition in der DDR nur mühsam erstarken. Über Jahre hin blieben die kritischen Geister vereinsamt und zerstreut.
Die Frage „Gehen oder bleiben?” stellte sich manchmal übermächtig. Die gewählte Antwort hat Familien und Freunde entzweit. Nicht wenige aus der Opposition verurteilten jene, die gehen wollten und die die einzige Alternative für sich in der Ausreise sahen. Ich habe in den 1980er Jahren an einem Text über die Jüdische Presse im „Dritten Reich” gearbeitet und monatelang die Zeitungen gelesen, die damals erschienen waren. Zu den großen Überraschungen gehörte für mich, dass es diese Diskussion – gehen oder bleiben – auch damals gegeben hatte, und dass sie ebenso leidenschaftlich und kontrovers geführt wurde wie 50 Jahre später in der DDR. Zwei Jahre lang, bis zu den Nürnberger Gesetzen, war dies das alles beherrschende Thema: die Auswanderung oder der Versuch, in Deutschland weiterzuleben. Aber gerade die zionistischen Blätter, die regelmäßig aus Palästina berichteten, wussten auch um die Schwierigkeiten, im Exil heimisch zu werden, und kannten das herbe Emigrantenschicksal nur zu gut. Sie schrieben durchaus realistisch darüber, was Deutsche bei der Einwanderung in Palästina zu erwarten hätten, und warnten vor einem Massen-Exodus. Und natürlich waren auch die meisten Zionisten viel zu innig mit ihrer deutschen Heimat verbunden, um leichten Herzens, gar Hals über Kopf ins Ausland zu gehen. Andere sahen allein in Deutschland den geschichtlichen Raum und die Zukunft der deutschen Juden. Auswanderung könne immer nur der Ausweg für wenige sein. In all dem war der naive Glaube, die verzweifelte Hoffnung zu spüren, dass der braune Spuk nicht von Dauer sein und es schlimmer nicht mehr kommen könne. Dem aber bereiteten die Nürnberger Gesetze ein jähes Ende. Von nun an wurde einhellig die Auswanderung als einzige Alternative gesehen.
Mich hat diese Debatte, bei der es – wie wir heute wissen – buchstäblich ums Leben und Überleben ging, damals sehr nachdenklich gemacht. Wenn ein solcher Disput nach 50 Jahren erneut geführt werden muss, wenngleich unter völlig anderen Bedingungen, musste es doch ähnliche Elemente und Strukturen der Herrschaft geben. Natürlich waren Grad, Art und Ausmaß der Bedrohung andere. Aber für den Einzelnen, der in seiner Existenz, seiner Persönlichkeit, seiner Gesundheit, seiner Lebensfähigkeit bedroht war, konnte es in der DDR genauso ums nackte Leben gehen wie 50 Jahre zuvor.
Nach dem Krieg war damals die Debatte noch einmal in aller Heftigkeit geführt worden, und zwar zwischen denen, die in Deutschland geblieben und denen, die ins Exil gegangen waren. Gegenseitig warf man sich vor, den falschen, den bequemen Weg gegangen zu sein. So schrieb Thomas Mann im September 1945 in einem berühmten Brief an Walter von Molo: „Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden.”Für andere hingegen war auch die Innere Emigration eine legitime Form des Widerstandes. Der Theologe Paul Tillich hatte schon 1935 im Exil geurteilt, dass die innere Emigration entweder den unterirdischen Kampf für ein anderes Deutschland führe, oder suche, die zerstörten Traditionen humanistischen und sozialistischen Charakters aufrecht zu erhalten und rein geistig weiter zu entwickeln, ohne mit dem System zu paktieren. Es sei nötig, so Tillich, dass die innere und die äußere Emigration in ernsthafter Verbindung blieben.
Mich hat damals vor allem ein Wort von Carl von Ossietzky in meiner Haltung bestärkt. Ich wollte Mitte der 1980er Jahre einen Film über von Ossietzky und seine „Weltbühne” drehen, bin damit aber gescheitert. Im Mai 1932 hatte von Ossietzky eine mehrmonatige Gefängnisstrafe antreten müssen, weil er in der Zeitschrift „Weltbühne” die illegale Aufrüstung der Reichswehr aufgedeckt hatte und wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse verurteilt worden war. Die erzwungene Zäsur nutzte er, um sich und seinen Lesern Rechenschaft über sein Denken und Handeln zu geben. Die Frage, warum er nicht ins Ausland geflohen sei, beantwortete er so: „Der Oppositionelle, der über die Grenze gegangen ist, spricht bald hohl ins Land herein. Der ausschließlich politische Publizist namentlich kann auf die Dauer nicht den Zusammenhang mit dem Ganzen entbehren, gegen das er kämpft, für das er kämpft, ohne in Exaltationen und Schiefheiten zu verfallen. Wenn man den verseuchten Geist eines Landes wirkungsvoll bekämpfen will, muß man dessen allgemeines Schicksal teilen.”
Ich weiß nicht, wie es anderen gegangen ist, aber mir hat die Beschäftigung mit den historischen Debatten über das Gehen oder Bleiben sehr geholfen, eine eigene Position zu finden. Wenn ich es richtig sehe, sind seit Ende der 1970er Jahre in der DDR eine Reihe Arbeiten über Exil und Exilliteratur erschienen. Auch die seinerzeit im Ausland gedruckten Werke wurden nun nach und nach neu verlegt. Während man in den 1960er Jahren in den Antiquariaten hin und wieder noch einen der Exildrucke finden konnte, waren sie in den 1980er Jahren zur absoluten Rarität geworden. Vielleicht zeugt ja auch das davon, dass das Gehen oder Bleiben wieder zum aktuellen Thema geworden war.
Zeitgleich zu diesem Vortrag habe ich an einem Text über die Asylrechtsänderung vor 20 Jahren gearbeitet. Damals, am 26. Mai 1993, war der Grundsatz des Grundgesetzes „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht” bis zur Unkenntlichkeit beschnitten und verwässert worden. Weil ich selbst einmal Flüchtling gewesen bin, habe ich mich damals vehement gegen die Änderung eingesetzt. Mir war auch bewusst, wie kalt und herzlos die Asylund Flüchtlingspolitik der SED gewesen ist. Nur wenigen tausend Asylsuchenden hat die DDR in den 40 Jahren ihres Bestehens Asyl und Bleiberecht gewährt, und dann nur aus ideologischen Gründen. Auch deswegen hatte die Bürgerbewegung der DDR 1990 im Verfassungsentwurf des Runden Tisches den Grundsatz des Grundgesetzes „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht” wörtlich übernommen und so ein Zeichen gesetzt für eine humanere Flüchtlingspolitik.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten sich für diese klare Aussage entschieden, weil viele von ihnen, weil ihre Generation die bitteren Erfahrungen von Verfolgung und Flucht, von Emigration und Exil hatten machen müssen. Sie haben das Asylrecht aus der Sicht des Individuums, nicht des Staates formuliert. Diese neue Sicht, dieser großartige Fortschritt im europäischen Rechtssystem, war erlitten und erstritten worden von denen, die als Flüchtlinge Rettung gesucht hatten vor deutschem Egoismus und Nationalismus. Ich habe es als Verrat an ihnen empfunden, als im Deutschen Bundestag eine Mehrheit aus CDU, CSU, FDP und SPD dieses Grundrecht de facto abgeschafft hat.
Gehen oder bleiben, das ist für zahllose Menschen immer noch ein aktuelles Thema, auch heute noch, zwar kaum in Deutschland, aber doch an vielen Orten der Welt, an denen die politischen oder sozialen Verhältnisse Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Ob wir es wollen oder nicht, ob sie uns willkommen sind oder nicht, auch künftig werden Menschen bei uns Zuflucht vor Verfolgung und Krieg, Hunger und Elend suchen. Unser Bestreben sollte es sein, möglichst vielen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, zugleich aber die Fluchtursachen entschieden zu bekämpfen. Ich glaube nicht, dass wir und unser reiches Land heute alles uns mögliche tun, um Flüchtlingen und Heimatlosen zu helfen.