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Brauchen wir einen neuen Patriotismus?

Werner J. Patzelt

Wie kann man es schaffen, dass eine Vielzahl von Menschen friedlich zusammenlebt, ja dauerhaft zusammenwirkt – und dass dies gelingt, selbst wenn soziale Ungleichheit fortbesteht, wenn kulturelle, gar sprachliche Differenzen ins Gewicht fallen, wenn es scharfe Interessenkonflikte gibt, wenn politischer Streit nicht nur erlaubt, sondern – wie in einer pluralistischen Demokratie – sogar die normale Weise politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung ist?

I.

Kein Zweifel: Man kann das schaffen – aber nur schwer. Die Geschichtsbücher zeigen, wie häufig Bürgerkrieg und Krieg, Revolution und Ordnungsverfall, Sezession und Vertreibung sind. Das lehrt, dass stabile Strukturen politischer Ordnung keine verlässlich sich einstellenden „Naturtatsachen” sind, sondern höchst störanfällige Hervorbringungen gesellschaftlicher Konstruktion von Wirklichkeit. Und seit die Anthropologie nicht mehr durch spekulative Überhöhung begrenzter Erfahrungen betrieben werden muss, womit sich die Klassiker unseres politischen Denkens noch abzufinden hatten, seit also die soziobiologische Evolutionsforschung die Einsichten der – auch historisch vergleichenden – Kulturanthropologie in einen verlässlichen Befundrahmen einfügen kann: Seitdem verstehen wir besser denn je, warum sich politische Ordnung so schwer auf Dauer stellen lässt. Der britische Anthropologe Robin Dunbar fand vor rund 20 Jahren Folgendes als Ergebnis von Studien zur Größe von Primatenpopulationen und gemeinsam reisenden nomadischen Stämmen, zur Größe archäologisch erschlossener Siedlungsstrukturen sowie heute real gepflogener Sozialkontakte: Es sind im Durchschnitt rund 150 Personen, mit denen sich stabile Kontakte pflegen und individualisierte Beziehungen aufrechterhalten lassen. Die Grenzen werden einesteils vom nötigen Zeitaufwand für direkte Kommunikation gezogen, andernteils von der Größe jener Teile der Großhirnrinde, in denen die für Sozialkontakte wichtigen Informationen verarbeitet werden. Zwar kamen Studien anderer Anthropologen auch auf die doppelte Anzahl der für uns gleichsam „von Natur aus” leicht zu handhabenden Sozialkontakte. Doch dieser Unterschied zur weithin akzeptierten „Dunbar-Zahl” einer „natürlichen Gruppengröße” von rund 150 Personen ist nicht wirklich von Belang, wenn wir vor der Herausforderung stehen, Populationen von Zehntausenden in mittleren Städten, von Millionen in Megastädten, von Dutzenden von Millionen in mittleren Staaten zusammenzuhalten, um ganz zu schweigen von jenen Milliarden, die – unter zunehmenden sozialen, ökologischen und kulturellen Spannungen – unseren blauen Heimatplaneten bevölkern.

Unschwer erkennt man, vor welche Herausforderungen es unsere Spezies stellte, als sie – „neolithische Revolution” genannt – vor rund 12 000 Jahren zunächst im Vorderen Orient, später am Indus und am Gelbem Fluss zur Sesshaftigkeit überging, als dann die Dörfer zu Städten wuchsen und über alledem bald die Ordnungsstrukturen von Reichen entstanden. Wie kann man derlei Großgebilde nachhaltig stabilisieren, die so weit den Wirkungsbereich unserer angeborenen Sozialkompetenz überschreiten? Wie bringt man so viele Leute zum verlässlichen Zusammenwirken, gar zum gemeinsinnigen Handeln? Genau das sind die Fragen, die unter dem Begriff des „Patriotismus” abzuhandeln sind.

Er kommt vom lateinischen Wort patria, das – gendermäßig unausgewogen – das Vaterland meint. Oder doch eher die Heimat? Einstweilen kann das in der Schwebe bleiben, denn gemeint ist in beiden Fällen jenes Gebiet, wo man aufwuchs, Wurzeln schlug, sich zugehörig fühlt – oder wohin man zog, dann Wurzeln schlug und seither zugehörig ist. Wer eine solche patria besitzt, der möchte dort meist auch ein gutes Gemeinwesen bestehen sehen. Nicht selten will er – oder sie – auch selbst zu dessen Gedeihen beitragen. Liebe zur Heimat oder zum Vaterland samt jenem Handeln, das von ihr ausgeht: Genau das soll im Folgenden Patriotismus heißen.

Offenbar ist Patriotismus solcher Art eine zweifach politische Haltung. Erstens ist er die Haltung eines Menschen, der an seiner patria tätigen Anteil nimmt, also eines Bürgers, eines citoyen – und darin ausgerichtet auf eine politische Gemeinschaft, die auch viel größer sein kann als die engere Heimat. Zweitens ist Patriotismus, sobald er sich selbst reflektiert und so zur Aufklärung über seine Eigenart gelangt, eine schon im Ansatz pluralistische Haltung. So wie es nämlich im eigenen Vaterland viele Heimaten gibt, so finden sich auf unserer Erde viele Vaterländer; indem jeder zum Besten seines Vaterlandes wirkt und dabei die Vielfalt der Heimaten darin achtet, erreicht man für dieses Land das Bestmögliche; und indem viele zum Besten ihrer Vaterländer wirken und dabei die Vielfalt der Vaterländer aller achten, erreicht man das Bestmögliche für die Menschheit.

Das gesagt, ließen sich nun vielerlei etablierte Diskurse neu inszenieren – jene über die Abschichtungen von Patriotismus, Nationalismus und Chauvinismus oder jene über die Anziehungs- bzw. Abstoßungskräfte zwischen Nationalstolz und Rassismus oder zwischen Vaterlandsliebe und Demokratie. Doch es führt weiter, wenn wir auf einer ungewohnten Route gehen.

II.

Beginnen wir bei Aristoteles. Der hatte völlig recht, als er – wohl knapp 10000  Jahre nach dem Übergang unserer Spezies zur Sesshaftigkeit – den Menschen ein von Natur aus auf Gemeinschaftsbildung angelegtes Wesen nannte und zum Ergebnis kam, dass wir um eines gelingenden, um eines guten Lebens willen des Zusammenwohnens in überschaubaren, nicht allzu großen Ordnungsstrukturen bedürften, in solchen nämlich, wo man einander noch persönlich kennen kann. Indem Aristoteles die Sphäre des oíkos, der häuslichen Wirtschaftsordnung mit Frauen und Gesinde, von jener der polis unterschied, also von der Beutegemeinschaft, der Kultgemeinschaft, der Diskursgemeinschaft der kriegsdienstfähigen Männer, war die mittels der Dunbar-Zahl greifbare „natürliche Sozialität” des Menschen gleichsam „gehebelt”: Im vergleichsweise kleinen Kreis der männlichen Vollbürger wurde all das integriert, was – um die Vollbürger herum – da auch noch an Frauen, Kindern, Sklaven, Metöken und Periöken zur Polis gehörte. Die Hebelwirkung der gesamten Polis wiederum konnte man imperial nutzen – wie Athen in seinem ersten Seebund. Man erlebte freilich, dass Macht allein nicht nachhaltig zu integrieren vermag. Der andere Versuch einer weiter ausgreifenden Ordnungsbildung führte in hellenistischer Zeit zu mancherlei Bundesrepubliken, in denen sich unterschiedliche Poleis entlang von lose gezogenen Stammesgrenzen zusammenschlossen. Doch das einigende Band war eher das gemeinsame Interesse am Kampf gegen aufstrebende Hegemonialmächte und weniger der – uns Heutigen aus der Europäischen Union so wohlvertraute – Wunsch, ein Staatswesen oberhalb der Polis zu schaffen. Die von Aristoteles gut erkannte „natürliche Sozialität” des Menschen trug also auch bei den alten Griechen nicht viel weiter als rund 2000 Jahre vorher bei den Städtebünden der Sumerer.

III.

Knapp 2000 Jahre nach Aristoteles darüber schreibend, was einen Staat „wirklich” zusammenhalte, kritisierte denn auch Thomas Hobbes gleich zu Beginn seines Buches „Vom Bürger” seinen großen Vorgänger:

„Die meisten, welche über den Staat geschrieben haben, setzen voraus oder erbitten oder fordern von uns den Glauben, dass der Mensch von Natur ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen sei. … Auf dieser Grundlage errichten sie ihre Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft. Dieses Axiom ist jedoch trotz seiner weit verbreiteten Geltung falsch; es ist ein Irrtum, der aus einer allzu oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur herrührt. Denn untersucht man genauer die Gründe, warum die Menschen zusammenkommen und sich gegenseitig an ihrer Gesellschaft erfreuen, so findet man leicht, dass dies nicht naturnotwendig, sondern nur zufälligerweise geschieht” –

was wir nun, Hobbes ins Wort fallend, mit einer einzigen Beispielkette gut konkretisieren können. Da gibt es im 3. nachchristlichen Jahrhundert den überhaupt nicht der Natur, sondern sich allein kontingenter Pfadabhängigkeit verdankenden Druck der – damals wohl zwischen Don und Wolga ansässigen – Hunnen auf die westlich von ihnen siedelnden Germanenstämme. Diese setzen sich nun ihrerseits in Bewegung, erobern das Weströmische Reich und die nördliche Mittelmeerküste. Ihnen folgen dann slawische Völkerschaften bis weit ins heutige deutsche „Altbundesgebiet”, ja bis hinein in die Alpentäler Tirols – und obendrein, dort auf das Oströmische Reich treffend, bis tief hinein in den Balkan. Und da entstehen und vergehen, stabilisieren sich aber auch in einigen Fällen über Jahrhunderte ganz neue politische Gebilde, in denen dank geschichtlichen Zufalls Romanen und Germanen, Slawen und Griechen, Germanen und Slawen miteinander ein Auskommen finden müssen – und es zu manchen Zeiten auch fanden, zu manch anderen aber eher schlecht als recht.

Was hält dann Ordnung aufrecht? Was hält solch kulturverschiedene Bevölkerungsgruppen zusammen – oder wenigstens im friedlichen Nebeneinander? Was integriert gerade dann, wenn man sich über die Tiefenschichten dessen entzweit, was untereinander verbindet – zumal über die akzeptable Art einer öffentlich praktizierten Religion und über deren konkrete Inhalte? Im Grunde sind wir damit schon in der Gegenwart angelangt, nämlich beim Fremdeln muslimischer Zuwanderer mit der areligiösen Kultur Europas, beim Fremdeln säkularisierter Bildungsbürger mit der redlichen Religiosität vieler Muslime, und bei den politischen Ordnungsproblemen, die aus alledem resultieren. Und ganz gewiss sind wir angelangt bei den Zeitumständen des Thomas Hobbes, nämlich bei den damals schon ins zweite Jahrhundert gehenden europäischen Religionskriegen. Natürlich entluden sich in ihnen auch vielerlei weitere Spannungen: zwischen Bauern und Feudalherren, Baronen und König, Ständen und Kaiser, Nationen und katholischer Kirche. Wie sind unter solchen Zerrkräften dauerhafte Sicherheit, Ordnung und Zusammenhalt möglich – mitsamt alledem, was nur unter solchen Umständen gedeihen kann: aufblühende Wirtschaft, Pflege von Wissenschaften und Künsten, gutes Leben?

Die Antwort von Thomas Hobbes lautete so: Es muss eine stabile Herrschaft aufgebaut und gesichert werden – und zwar mit Bürgern, die auf eine andere als eine rein dienende Mitwirkung am Staat verzichten, mit Menschen, die zwar im Stillen gerne denken mögen, was immer sie wollen, die sich in der Öffentlichkeit aber stets konform mit dem äußern und verhalten, was die Obrigkeit ihnen vorgibt. Wem das nicht passt, der muss eben auswandern und sehen, ob es ihm anderswo besser ergeht – gleich ob, so die sozialistische Blickrichtung, als „Republikflüchtling” im Westen, oder in Erfüllung des inzwischen verklungenen westdeutschen Spießerimperativs: „Wenn es Dir hier nicht passt, dann geh doch ’rüber in die DDR!” Nicht aus der menschlichen Natur ergibt sich also eine stabile politische Ordnung, sondern aus akzeptierter Autorität, die ihrerseits aber erst aus einem fairen Verhältnis zwischen erlangtem Schutz und geleistetem Gehorsam entsteht, und obendrein aus einem Rechtsrahmen, den man auf der Grundlage vernünftiger Einsichten in die Folgen alternativer Handlungen setzt bzw. respektiert.

Nun ist das alles gar kein Widerspruch zur Einsicht des Aristoteles in die soziale Natur des Menschen, die ja auch von der modernen Soziobiologie bestätigt wurde. Diese „natürliche Sozialität” ist und bleibt jenes grundlegende Bindemittel menschlichen Zusammenhalts, auf das man sich eigentlich immer verlassen kann – in kleineren Gemeinschaften und in der Heimat freilich mehr als in größeren Gesellschaften und im Vaterland. Jedenfalls reicht die „natürliche Sozialität” nicht aus, um weiter ausgreifende Ordnungsstrukturen zu schaffen und zu stabilisieren. Deren stets prekärer Zustand heißt auf Italienisch „lo stato”, und ein besonders gefestigter Zustand aus alledem ist der Staat – in Georg Jellineks berühmter Formel: der Dreiklang aus Gebiet, Volk und verlässlich über beides ausgeübter Macht. Beim Aufrechterhalten eines solchen Zustands, des Staates also, kommt ins Spiel, was Thomas Hobbes, wie viele andere auch, auf die Denkfigur eines „Herrschaftsvertrages” bzw. – diesem vorausgehend – eines „Gesellschaftsvertrages” gebracht haben. Ins Spiel kommen also vereinbarte und dann wechselseitig verbindliche Regeln des Miteinanders sowohl zwischen den Bürgern als auch zwischen ihnen und dem Staat.

Aus solchen systemkonstruktiven Leitgedanken entstand jener moderne Territorialstaat, den so viele für eine schier natürlich sich einstellende Ordnungsform gehalten haben, bis die Gegenwart mit ihren um sich greifenden Prozessen des Staatsverfalls uns eines anderen zu belehren begonnen hat. Die – oft „Absolutismus” genannte – Vormacht des Fürsten vor den Ständen, landesherrlicher Zugriff auf verlässliche Verwaltungsbehörden, das Recht auf Kriegsführung und Eroberung in der Hand von souveränen Monarchen: Das alles stabilisierte auch sehr komplexe politische Strukturen. Preußens König – um nur ein Beispiel unter vielen zu geben – brauchte das böhmische Nebenland Schlesien im Jahr 1740/41 sozusagen „nur” zu erobern und in Breslau die Huldigung der schlesischen Stände entgegenzunehmen, um im Binnenverhältnis der legitime Landesherr zu werden und Loyalität beanspruchen zu können. Freilich verlangte es schon viel größere Anstrengungen, um derlei Machtstrukturen dann auch im Außenverhältnis zu sichern – im Fall Schlesiens nicht weniger als drei Kriege. Und noch länger dauerte es, bis sich auch inneres Zusammengehörigkeitsgefühl einstellte – sich also viele Schlesier ebenso Preußen zugehörig fühlten wie, sozusagen „immer schon”, die Brandenburger. Bei den Polen hingegen, die aufgrund der Teilungen ihres Landes unter die Preußen, die Österreicher und die Russen fielen, misslang derlei – nicht nur wegen religiöser Unterschiede, sondern vor allem wegen der klaren sprachlichen Differenz und den sprachlich fixierten Kulturdistinktionen. Man erkennt: Anders als Hobbes das hoffte, bewirkt allein ein gemeinsamer Oberherr (oder ein gemeinsamer Verfassungsrahmen) durchaus noch kein verlässliches Miteinander dessen, was kulturell erst noch zusammenwachsen mag – vielleicht aber gar nicht zusammenwachsen kann.

IV.

Das bringt uns zum dritten Mittel, mit dem man Menschen zu nachhaltig stabiler Ordnung zu einen vermag. Hier geht es um das, was die Bürger innerlich zusammenhält, also von ihren Emotionen und Überzeugungen her. Im kleinen Rahmen der Polis finden wir das Gemeinte in jenen bürgerstolzen Worten, die Thukydides dem Volksführer Perikles bei dessen Rede auf die Gefallenen des gerade begonnenen Peloponnesischen Krieges in den Mund legt. Im größeren Rahmen der USA finden wir das Gemeinte in der Rede des Präsidenten Lincoln zur Einweihung des Soldatenfriedhofs auf dem Schlachtfeld von Gettysburg. Und in der europäischen Tradition finden wir das Gemeinte am Ende des letzten Buchs von Rousseaus Schrift über den „Gesellschaftsvertrag”.

Dort entwickelt er seine Vorstellung von jener „Bürgerreligion”, die – frei von den konkreten Dogmen einer je besonderen Religion – den Bürger seine gesellschaftlichen und staatlichen Pflichten lieben lassen soll, die ihm jene „Gemeinschaftsgefühle” vermitteln soll, „ohne die es unmöglich ist, ein guter Staatsbürger oder ein treuer Untertan zu sein”. Und Folgendes wären die Dogmen jener „Bürgerreligion” oder „Zivilreligion”: Intoleranz ist verboten; sowohl der Gesellschaftsvertrag als auch die auf ihn gegründeten Gesetze sind heilig; es gibt eine mächtige, vernünftige, wohltätige, vorsehende und vorsorgende Gottheit; es gibt ein Leben nach dem Tode; und es gibt nach dem Tod ein persönliches Gericht, das die Gesetzesbrecher straft und die guten Bürger zur Glückseligkeit bringt. Gewiss – so ebenfalls Rousseau – kann man niemanden zwingen, diese Dogmen zu glauben. Doch das Gesetz kann sehr wohl …

„jeden, der sie nicht glaubt, aus dem Staat verbannen. Es kann ihn nicht wegen Gottlosigkeit verbannen, aber als gesellschaftsfeindlich, als unfähig, die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und im Notfall sein Leben seiner Pflicht zu opfern”.

Was Rousseau da im Sinn hat, ist durchaus kein intellektueller Firlefanz. Vielmehr nutzt er eine uralte, mindestens auf die ägyptische Religion zurückgehende und in der Praxis bestens bewährte Denkfigur. Tatsächlich stabilisiert Gesellschaften wenig besser als das bereitwillig regelkonforme Verhalten ihrer Mitglieder. Dieses aber wird durch Überwachung und durch zu befürchtende Bestrafung besonders verlässlich herbeigeführt – und für diesen Zweck ist nichts kostengünstiger als der Glaube an einen Gott, der überwacht und auch außerhalb der Reichweite irdischer Justiz bestraft. Alle Befunde zur Evolution von Religiosität sprechen dafür, dass unserer Spezies die Bereitschaft, entsprechende „übernatürliche” Kontrollerwartungen aufzubauen und auf sie zu reagieren, seit Jahrhunderttausenden angeboren ist. Und der Blick in die Geschichte zeigt, dass es Hochkulturen in der Regel nicht versäumt haben, solche angeborenen Erwartungen auch durch religiöse Sozialisation samt passenden religiösen Praxen zu erfüllen.

V.

Wenn nun aber, wie in Europa, die Bereitschaft geschwunden ist, an ein „höheres Wesen” zu glauben, das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die politische Ordnung eine Rolle spielen kann: Wie lässt sich dann auf die innere Bereitschaft hinwirken, auch unter Inkaufnahme konkret fühlbarer Nachteile zum gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhalt beizutragen?

Blicken wir zunächst auf die religiöseste unter den modernen westlichen Gesellschaften, nämlich auf die USA. Dort untersuchte Robert Bellah in den 1960er Jahren, wie religiöse Denk- und Redeformen sowohl das öffentliche politische Reden als auch jene Symbole prägen, in denen der amerikanische Staat seine Geltungsansprüche und Ordnungsprinzipien zum Ausdruck bringt und in die emotionalen Tiefenschichten der amerikanischen Bürgerschaft einträgt. Er fand Phänomene wie die Folgenden: US-Präsidenten pflegen ihre Reden ans Volk mit der Formel „God bless you, God bless America” zu beenden. Das Land selbst nennt sich im pledge of allegiance, der bei öffentlichen Anlässen und vielerorts an den Schulen allmorgendlich wie das christliche Credo gebetet wird, ,‚a nation under God, indivisible, with liberty and justice for all”. Und auf der National Mall in Washington wird in den National Archives die Verfassungsurkunde wie ein Heiligenbild auf einer Art Altar nachgerade zur Verehrung präsentiert. Aufrichtiger Glaube an die Richtigkeit der eigenen politischen Ordnung verbindet sich bei der Nutzung dieser Symbolformen mit redlich empfundener Dankbarkeit dafür, einer so guten politischen Gemeinschaft anzugehören, desgleichen mit der Bereitschaft, zu ihrem Wohlergehen und Fortbestand Eigenes beizutragen. „Stolz” nennt man so ein Gefühl – und findet es auch ausgedrückt auf Tausenden von T-Shirts und Plakaten: „Proud to be an American girl” liest man dort, oder „Take pride in America!” Stolzer Patriotismus ist das, gelagert um eine mit vielen Insignien der Heiligkeit ausgestattete Verfassungsordnung. Und seine Vitalität erneuert der amerikanische Patriotismus aus durchaus authentischen religiösen Empfindungen eines großen Teils der politischen Klasse und der Bevölkerung.

In Europa, dessen intellektuellen Eliten – in der Nachfolge Voltaires – Religiosität ganz und gar unschicklich finden, inspiriert und motiviert man sich freilich aus den gleichen Verfassungsprinzipien: Freiheit, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Demokratie. Um sie herum entwickelte sich inzwischen eine Art „Vernunftreligion”, in der Leibniz und Kant wichtige ihrer Anliegen wiedererkennen würden. In Deutschland kennen wir die Zivilreligion des Verfassungspatriotismus, die in anderen europäischen Staaten bloß andere Namen trägt. Mit säkularen Kirchenvätern wie Dolf Sternberger und Jürgen Habermas sowie mit Staats- und Parlamentspräsidenten als den zentralen Liturgen ihrer Feiern brachte sie auch ansehnliche zivilreligiöse Praxen hervor. Für Deutschland sei verwiesen auf die so oft verwendete Glaubensformel von der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung”, für Frankreich auf den verfassungspatriotischen Festtag des 14 . Juli, europaweit auf Ketzerverfolgungen wie den „Kampf gegen rechts” – gleich ob er sich innerstaatlich gegen Parteien rechts der Mitte richtet oder außenpolitisch gegen Staaten, die, wie weiland Österreich und jetzt Ungarn, in die Hand der Rechten gefallen sein sollen. Auf Abweichler und deren Bestrafung achtet in Europa allerdings nicht Gott, sondern – anhand der Gebots- und Verbotsliste politischer Korrektheit – die öffentliche Meinung. Deren Mühlen mahlen zwar nicht so langsam wie die Mühlen Gottes, mahlen aber ebenfalls trefflich klein.

VI.

Höchst folgenreich wurden diese und viele weitere Erscheinungsformen von Zivilreligion, ihrerseits ausgerichtet auf die Integration von Gesellschaft und Staat, seit nicht mehr – wie zur Zeit von Thomas Hobbes – Untertanen von einer Obrigkeit regiert werden, sondern Bürger von solchen Politikern, die auf die Unterstützung oder wenigstens Duldung ihrer Person und Politik durch die Bevölkerung angewiesen sind. Unter solchen, im 19. Jahrhundert entstehenden und im 20. Jahrhundert sich durchsetzenden Handlungsbedingungen gediehen auch ganz unerwartete Früchte der Aufklärung und jenes Liberalismus, der ihre Leitgedanken in gesellschaftliche und politische Ordnungsformen umsetzte. Nur auf drei dieser Früchte sei verwiesen.

Erstens zwangen Alphabetisierung und Breitenbildung zu Entscheidungen darüber, welche Sprachen in den Schulen in welcher Gewichtung gelehrt werden sollten. Unter solchen Umständen konnte es nicht ausbleiben, dass Sprache zum Kristallisationspunkt zunächst kultureller, dann auch politischer Identität wurde – und alsbald zum Sprengsatz politischer Ordnungsstrukturen. Am böhmischen und später tschechoslowakischen Fall ließe sich das gut zeigen.

Zweitens führte die Ersetzung des Obrigkeitsstaates durch ein Gemeinwesen, das auf bürgergesellschaftlicher Partizipation beruht, über kurz oder lang zur Frage: Wer gehört denn wirklich zu uns? Zu wie schauderhaften Antworten diese Frage führen kann, weiß jeder am besonders bestürzenden Fall der jüdischen Deutschen aufzuzeigen. Doch leicht erkennt man das hier Wichtige auch am Fall der in Preußen lebenden Polen. Zu Preußen hätten sie vielleicht werden können, lag doch ein großer Teil dieses Staates ohnehin auf ehedem polnischen Gebiet; doch „normale Bürger” eines deutschen Nationalstaates, wie ihn Preußens „deutscher Beruf” herbeiführte? Das glaubte man redlich auf keiner Seite.

Drittens konnte der Liberalismus wirklich die Kräfte einer Nation entfesseln, ja sollte das auch, um so den größtmöglichen Nutzen für eine größtmögliche Zahl von Nutznießern zu stiften. Dann aber waren im Wettbewerb der Nationen bald auch Aufsteiger und Absteiger zu erwarten. War nun eine Aufsteigernation nicht irgendwie besser als eine zurückbleibende Nation? War dann begründeter Nationalstolz nicht notwendigerweise einer, der sich auf dem – wie es scheinen mochte: ganz objektiven – Bessersein der eigenen Nation gründete?

Durch die machtvoll werdende öffentliche Meinung befeuert und durch die schrittweise Durchsetzung des Demokratieprinzips in den entstandenen Nationalstaaten millionenfach vervielfältigt, kam es also zu drei höchst folgenreichen Wirkungen. Erstens machte die so wichtig werdende Rolle gerade der sprachlich gebundenen Kultur alle Minderheiten mit anderer Sprache zu sowohl fremd- als auch selbstdefinierten Außenseitern und bestenfalls zu Rivalen im eigenen Land. Zweitens schlug die nationalistische, in etlichen Ländern auch rassistische Abgrenzung zwischen „Wir” und „die anderen” tiefe Wunden gerade dort, wo zunächst einmal guter Wille war – und ließ jenen freie Bahn, die am liebsten in Freund/FeindKategorien dachten. Drittens verkettete die konkurrierende Selbsterhöhung der Nationen – gleich ob als Sieger oder als besonders leidendes Opfer – solche Bevölkerungen in wechselseitiger Missgunst, Abneigung und Demütigungssucht, die sich nunmehr als geschlossene Volks- und Schicksalsgemeinschaften verstanden. Zu den Folgen gehörten nach dem Ersten Weltkrieg Nationalstaatsbildungen, die aufgrund des historisch gewachsenen Durcheinanders mittel-, ost- und südosteuropäischer Siedlungsstrukturen die eigentlich zu mildernden Spannungen erst recht anheizten, sowie Grenzrevisionismus und Revanchismus. Und zu den Folgen gehören ebenfalls die schrecklichen Umsiedlungsaktionen, Fluchten und Vertreibungen im Verlauf und Nachgang des Zweiten Weltkriegs, desgleichen der zeitweise Ruin Deutschlands sowie die sowjetische Herrschaft über die Osthälfte Europas. Ferner gehörte zu den Folgen der Wunsch vieler Deutscher, fortan ohne die eigene unglücksstiftende, auch unglücksanziehende Nation auszukommen und möglichst kein anderes inneres Verhältnis zu ihr zu pflegen als eines der Sorge, der Wachsamkeit und der Abwehr umstandsloser Identifikation mit ihr.

VII.

Damit haben wir jene Diskurslage erreicht, an der hierzulande das Nachdenken über den Patriotismus bereits einzusetzen pflegt. Vestigia terrent steht dann über allem, oder – in Brechts Worten – „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch”. Es gibt schon gute Gründe, mit der Frage nach einem sinnvollen Patriotismus gerade hier einzusetzen. Doch allzu leicht endet man dann mit der Vermutung, dass Patriotismus – da selbst schon auf der schiefen Bahn hin zum Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus – sich gar nicht zähmen lasse, sondern es ganz einfach so sei, dass ein wirklich aufgeklärter Mensch eben keinen Patriotismus braucht. Weltbürger wäre er nämlich, dem Humanen schlechterdings verpflichtet, multikulturell offen für alles Gute, Wahre und Schöne, doch klug genug, diese Dinge nicht gerade in der eigenen Tradition zu suchen – und schon gar nicht in der deutschen.

Wer diesen Denkweg geht, gleicht allerdings einem Bergsteiger, der vom Hochgebirge, in dem er sich bewegt, nur den gerade unter Lebensgefahr verlassenen Gipfel im Sinn hat und bloß noch von ihm weg will.

Verstehen kann man diesen traumatisierten Wanderer schon. Man wird ihm aber nach einiger Zeit sagen sollen, dass jener schmale Horizont, den er nun für das Ganze nimmt, gewiss nicht ausreicht, um die Gestalt des durchwanderten Gebirges zu begreifen, und dass sein enger Blickwinkel ihm bestimmt nicht helfen wird, jene anderen Gefahren zu meiden, die im Gebirge auch noch drohen. Besser wäre es, zunächst einmal die geologische Struktur des ganzen Gebirges und dessen meteorologische Umstände zu begreifen und von alledem her klaren Blicks abzuschätzen, mit welcher Gefahr unter welchen Umständen zu rechnen ist. Tatsächlich sind Sozialwissenschaftler gleichsam die Geologen gesellschaftlicher und politischer Ordnungsgebilde und die Meteorologen politischer Klimazonen. Deshalb kommt es ihnen zu, nicht zunächst einmal die Abgründe um die schrecklichen Gipfel des Nationalismus herum zu schildern, sondern zuvor das ganze Gebirgsmassiv des Patriotismus vor Augen zu führen. Was aber lernen wir aus dessen Betrachtung?

VIII.

Erstens lernen wir aus wichtigen Einsichten des Aristoteles und aus den Befunden der Evolutionsforschung: Politische Stabilität und Integration haben ihr Fundament in der Pflege und im Fortbestand kleiner Strukturen, die man anschließend vernetzen kann. Es sind gerade nicht jene Weltbürger, die überall auf dem Globus agieren und nirgendwo Loyalitätsbindungen eingehen, auf die sich eine stabile politische Ordnung gründen lässt. Tatsächlich hat gerade die neue internationale Adelsklasse der weltweit agierenden Finanzmakler, Investmentbanker und Manager nicht nur der globalisierten Wirtschaft großen Schaden zugefügt, sondern noch viel größeren  so vielen Regionen, Städten, Dörfern und Familien. Weil wir im Deutschen für jene kleinen Strukturen, die unsere besondere Zuneigung und Fürsorge verdienen, die schöne Bezeichnung „Heimat” besitzen, können wir formulieren: Gerade mit schlicht empfundener und redlich praktizierter Heimatliebe fängt alle Stabilisierung sozialer und politischer Ordnung an. Zu bedenken ist dabei freilich, dass sich jede konkrete Heimat nicht endlos weit erstreckt und anderswo andere ihre Heimat haben. Also gibt es keinen guten Grund, die Liebe zur eigenen Heimat mit einer Verachtung der Heimaten anderer zu verbinden. Umgekehrt gibt es aber auch keinen guten Grund, sich wider eigene Wünsche die eigene Heimat von den Heimaten anderer her verändern zu lassen.

Zweitens lernen wir aus den Einsichten von Thomas Hobbes und anderen, dass sich stabile Ordnung weder auf aneinander vorbeilebende Individuen gründen kann noch auf die Selbstorganisationskräfte kleiner Gruppen, die ihre oft recht engen Heimaten bewohnen. Da es zu Konflikten auch zwischen kleinen Gruppen kommen wird, braucht es einfach einen überwölbenden Ordnungsrahmen, konkret: eine verlässlich über ein bestimmtes Gebiet und über die dort lebende Bevölkerung ausgeübte Staatsgewalt. Heimatliebe muss also stets in die bereitwillige Akzeptanz eines die eigene Heimat übergreifenden Ordnungsrahmens eingefügt sein. Alle Beispiele zerfallender Staaten zeigen denn auch, dass selbst der eigenen Heimat nicht gedient ist, wenn die überwölbende Ordnung zerbricht. Deshalb wäre es im Fall Deutschlands gewiss ein Irrweg, auf unser Staatsgebiet bezogenen Patriotismus durch landes- oder gar regionsbezogene Heimatliebe ersetzen zu wollen – oder gleich auf allein europäischen Patriotismus auszugehen. Die Europäische Union wird nämlich noch lange nicht das leisten können, was Nationalstaaten sehr wohl schaffen: Schutz nach außen, Sicherheit im Inneren, Wohlfahrt des Staatsvolkes – und das alles unter Bedingungen, die im Wesentlichen als gerecht empfunden werden.

Letzteres bringt uns zur Einsicht, dass ein Staatswesen sich die Akzeptanz seiner Bürger auch verdienen muss. Herrschaftsmacht alleine reicht nicht; hinzukommen muss Legitimität, also die Geltung von Herrschaft als rechtens. Nach heutigem Konsens kann in der westlichen Welt ein Staat nur dann legitim sein, wenn er Menschenrechte, Freiheit und Demokratie sichert sowie plausibel auf Gerechtigkeit hinwirkt. Es hängt somit ganz von der gelebten Verfassungsordnung ab, wie weit die Identifikation mit einem Land gehen kann. Thomas Mann etwa lebte ganz aus der von ihm tief durchdrungenen deutschen Kultur; doch nichts anderes als Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime kam für ihn in Frage. Gewiss kennt jeder die Formel: Right or wrong – my country. Doch sie zeugt gerade nicht von einem aufgeklärten Patriotismus, sondern nur von einem völlig naiven Patriotismus. Der aber führt auf die schiefe Ebene.

Als deren Wasserwaage dienen zwei Kriterien. Erstens hat eine Verfassung heute Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit zu sichern. Deshalb kann eine akzeptable Verfassung nicht mehr rassistisch oder völkisch sein. Zweitens ist eine Verfassung für die Menschen da, sind aber nicht die Menschen für die Verfassung da. Also kann eine akzeptable Verfassung keine grundsätzlichen Barrieren gegen die Zuwanderung und Einbürgerung solcher Menschen aufrichten, die unter einer guten politischen und gesellschaftlichen Ordnung leben und in ihr Bürger werden wollen. Folglich meint aufgeklärter Patriotismus praktischen Einsatz für eine in allen diesen Hinsichten gute Verfassung: Einsatz dafür, dass sie entsteht – und Einsatz dafür, dass sie bleibt. Unglücklich sind die Zeiten, zu denen das am Herzen liegende Vaterland eine schlechte politische Ordnung hat und man an ihr nichts ändern kann. Bleiben mag dann nur die Liebe zum so schlecht und falsch regierten Land; doch unmöglich wird einem dann jenes politische Mittun, in dem sich zu glücklichen Zeiten der Patriotismus entfaltet. Je nach Temperament und den Umständen kümmert dann Patriotismus in innerer oder äußerer Emigration dahin – oder blüht, von vielen Zeitgenossen freilich unverstanden, gerade im Widerstand auf.

Drittens lernen wir aus dem zivilreligiösen Anliegen von Rousseau und der zivilreligiösen Praxis zumal der USA, dass es nicht reicht, die Ordnungsprinzipien und Geltungsansprüche eines Staates nur zu formulieren, sondern dass sie auch symbolisch zum Ausdruck gebracht, immer wieder über geeigneten Medien und Praxen in die emotionalen Tiefenschichten eines Staatsvolks eingebracht werden müssen. Vernunftrepublikanertum allein ist zu schwach, um eine bejahte Verfassungsordnung auch in Krisenzeiten zu sichern. Es braucht schon obendrein viele Herzensrepublikaner, also Bürger, welche die für eine res publica erforderlichen Tugenden selbst dann noch pflegen und verteidigen, wenn andere an ihrem Sinn zweifeln. Außerdem kann nur solches Staatsethos eine integrierende (also eine „inklusive”) Bürgernation schaffen und sie an die Stelle einer ausschließenden (d.h. „exklusiven”) Abstammungsnation setzen. Derlei republikanischer Gemeinsinn aber entsteht nicht von selbst, sondern bedarf der steten Pflege. Hüten muss man sich dabei gewiss vor allem, was zum Nationalismus, Chauvinismus oder Rassismus verführt. Doch das beste Gegenmittel zu Diskursen und Gefühlen, die in Schlechtes locken, sind nun einmal Diskurse und Gefühle, die sich in den Dienst einer guten Sache stellen – und die ist klar eine solche, die freiheitliches Staatsdenken mit nicht ausgrenzender, mit integrierender Heimatliebe verbindet. Also sollten wir die für solche Diskurse und Gefühle geeigneten politisch-kulturellen Formen und Foren schaffen bzw. pflegen.

IX.

Und was für einen Patriotismus brauchen wir dann konkret? Das lässt sich gut am besonders komplizierten deutschen Fall zeigen.

Erstens muss ein recht verstandener, unproblematischer und immer weiter zu kultivierender deutscher Patriotismus ein auf unsere freiheitliche demokratische Grundordnung bezogener Verfassungspatriotismus sein: eine offen bekundete und allem politischen Handeln zugrunde gelegte Zuneigung zu jener politischen Ordnungsform, die Deutschland unter allen Staatsformen, mit denen es unser Land je versucht hat, nun wirklich am besten bekommen ist. Verfassungspatriotismus ist also kein „linkes Gegengift” zu einem gleichsam rechten nationalen Patriotismus; er ist vielmehr des Letzteren wesentlicher Mitbestandteil.

Zweitens äußert sich deutscher Patriotismus im politischen Handeln und Sprechen aus einem Gesamtverständnis der deutschen Geschichte und Kultur heraus. Es wird fruchtbar sein, unser Geschichtsdenken – seinerseits unmittelbarer Kontext deutscher Zivilreligion – aus der Fixierung auf den Nationalsozialismus zu lösen. Deutschlands Geschichte und deren Lehren umfassen nämlich weit mehr als die zwölf Jahre des deutschen Faschismus. Sie umfassen ebenfalls mehr als die 40 Jahre der SED-Diktatur. Also ist es Zeit, wieder das Ganze in den Blick zu nehmen: das sächsisch-salisch-staufische Deutschland ebenso wie das auf eine friedliche Streitbeilegung ausgerichtete System des nachwestfälischen Reiches, den Kosmopolitismus der deutschen Klassik nicht minder als die Leistungskraft deutscher Wissenschaft und Technik. Und natürlich dürfen Deutsche auf das alles ebenso stolz sein wie die Nachkommen tüchtiger Eltern und Großeltern auf deren Lebensleistung. Wer es hingegen ausschlägt, sich mit freudigem Respekt in solche Traditionen zu stellen, um aus ihnen Ansporn und Maßstäbe für eigenes Handeln zu gewinnen, der wirkt so sonderbar wie ein Kind aus gutem Hause, das keine Gelegenheit auslässt, sich von seinen Eltern zu distanzieren und für wenig schätzenswert zu erklären, was diesen einst wichtig war.

Drittens gehört zum Patriotismus der Deutschen die Verbundenheit mit ihrer jeweiligen Heimatregion, die innere Bindung an deren Mundart, Landschaft und Bräuche. Unter den Zuwanderern wird das auf lange Zeit die innere Bindung an ihre Herkunftsländer einschließen. Vor allem in solcher Heimatliebe, die unter Zuwanderern hoffentlich mehr und mehr auch die neue Heimat einschließt, wurzelt jener alltagspraktische Patriotismus der einfachen Leute, denen der intellektuelle Zugang zum Patriotismus über Verfassungsprinzipien oder über Lehren aus der Geschichte fremd und gesucht erscheint. Diesen regionalen Patriotismus sollte man sich aber nie von dem Patriotismus abkoppeln lassen, der auf das ganze Land bezogen ist. Ohnehin werden Zuwanderer ja nicht zunächst einmal Rheinländer oder Sachsen, sondern eben Deutsche – mit meist starkem Heimatgefühl für jenen Teil der Welt, aus dem sie oder ihre Eltern kommen. So komplexe Gefühlslagen verlangen dann aber eine besonders klare Vorstellung von dem, was es über den Besitz eines deutschen Passes hinaus bedeuten mag, ein Deutscher zu sein: Zugehörigkeit zu einer auch in kulturellen Gemeinsamkeiten lebenden Bevölkerung – oder nur Teilhabe am gemeinsamen Siedlungsrecht von einander fremd bleibenden ethnischen Gruppen auf einem gemeinsamen Staatsgebiet.

Viertens gehört zum deutschen Patriotismus eine nicht nur tatkräftig ins Werk gesetzte, sondern auch immer wieder in ganz selbstverständlicher und einladender Weise bekundete Zuneigung zum eigenen Land und zu dessen Leuten, zu Deutschlands Kultur und zu den Geltungsansprüchen dieses Landes als einer freiheitlichen, demokratischen und friedliebenden Nation. Dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft wäre in der Tat viel geholfen, würde Vaterlandsliebe dieser Art nicht nur empfunden, sondern auch immer wieder zum Ausdruck gebracht – nämlich in den Symbolen unseres Landes. Und diese kann man ja auch voller Stolz verwenden. Die Fahne, schwarz-rot-gold, steht für jene freiheitlichen Traditionen, um welche – mit heute sichtbarem Erfolg – in den Revolutionen von 1848, 1918 und 1989 gekämpft wurde. Der Adler steht für das ins Mittelalter zurückreichende, gar an die römische Geschichte anknüpfende große Reich. Und die Hymne gibt an, worin eigentlich jedes Land seine Erfüllung finden kann: Einigkeit und Recht und Freiheit als des Glückes Unterpfand – verbunden mit der Aufforderung, auch Eigenes beizutragen, damit dieses alte Land weiterblühen kann im Glanz des endlich gefundenen Glücks von Einigkeit und Recht und Freiheit.

Natürlich wird deutscher Patriotismus nie wieder so flach sein dürfen, wie er früher einmal war, oder wie der Patriotismus in anderen, selbst unzweifelhaft freiheitlichen Staaten heute noch zu sein pflegt. Er muss vielschichtig sein und Dinge umschließen, die sich nicht von allein zusammenfügen. Das verlangt den einen im von ihnen aufrichtig empfundenen Patriotismus die Füllung intellektueller Leerstellen ab, während es bei anderen überhaupt erst wieder so etwas wie die Ahnung möglicher Liebe zum eigenen Land zu erwecken gilt. Doch glücklicherweise hat, wie etliche Beispiele zeigen könnten, die Rückgewinnung deutscher Zuneigung zum eigenen Land bereits begonnen. Die Härte so vieler Deutscher gegen die eigene Nation beginnt sich zu mildern, vielleicht auch die Selbstgerechtigkeit und Fühllosigkeit der Nachgeborenen. Selbst Trauer über die Wunden des eigene Landes und Volks kann man allmählich zeigen, ohne gleich den Vorwurf zu ernten, man wolle die Geschichte revidieren oder das Leid derer relativieren, die deutschen Verbrechen zum Opfer fielen. Und Stolz auf Deutschlands Glanzzeiten kann man inzwischen äußern, ohne in den Verruf des Nationalismus zu geraten.

Das alles sind gute Zeichen einer guten Entwicklung – nämlicher einer, die aufgeklärten Patriotismus praktiziert. Den gibt es gewiss noch nicht überall in der Welt. Wünschen wir uns deshalb, dass auch andere Nationen – und möglichst ohne Deutschlands schlimme Erfahrungen – zu einem solchen aufgeklärten Patriotismus finden. Und helfen wir dabei, indem wir beim Reden über unsere Erfahrungen nicht jenes Ganze vergessen, um das es beim Patriotismus doch geht: nicht um Gefühligkeit, sondern um die nachhaltige Stabilisierung einer möglichst guten politischen Ordnung – und das nicht in einem einzigen Land allein, sondern eines Tages in allen Staaten unserer Erde.