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Verlorene Heimat – Zum Heimatverlust durch Vertreibung

Gerhard Barkleit

1. EINLEITUNG

Vertreibungen im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen haben in der Menschheitsgeschichte schon oft stattgefunden. Manfred Kittel, Direktor der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung” zitiert Beate Sibylle Pfeil, wenn er vom „größten Vertreibungsgeschehen der Weltgeschichte” spricht.Aber nicht nur die enorme Anzahl von Betroffenen – die Angaben schwanken zwischen 12 und 14 Millionen – lässt den Superlativ gerechtfertigt erscheinen. Einmalig und beispiellos ist die Vertreibung der Deutschen aus dem historischen Osten nach dem Zweiten Weltkrieg auch in anderer Hinsicht. Im sogenannten „deutschen Osten” wurde die Aussiedlung nicht nur mit äußerster Brutalität durchgeführt, sondern auch mit einer solchen Rigorosität, dass es zu dem vom Sieger betriebenen kompletten Austausch der Bevölkerung tatsächlich kam. Darüber hinaus erfolgte, zumindest in den von der Sowjetunion besetzten Gebieten, eine Ablösung der totalitären nationalsozialistischen Herrschaft durch die nicht minder totalitäre Diktatur Stalins.

Die drei genannten Eigenschaften – Anzahl der Betroffenen, kompletter Austausch der Bevölkerung, Wechsel von Totalitarismen – erlauben es, von einer Singularität in der Geschichtlichkeit zu sprechen. Dieser Begriff ist in der deutschen Historiografie eigentlich dem Holocaust vorbehalten. Zumindest für den gelernten Physiker erweist er sich aber auch im Fall von Flucht und Vertreibung der Deutschen sowie der Neubesiedlung des Gebietes durch Bürger der Sowjetunion als ein für die Forschung nützlicher Begriff. Auf diese Forschung will ich aber hier nicht näher eingehen. Das „Faktische” dieses singulären historischen Ereignisses ist in den letzten Jahren durch wissenschaftliche Studien sowie Berichte von Zeitzeugen meiner Meinung nach so weit aufgearbeitet, dass es als hinreichend bekannt vorausgesetzt werden kann. Deshalb will ich meinen Beitrag sehr persönlich anlegen.

Mit diesem Vorsatz gerate ich aber sofort in ein Dilemma. Denn streng genommen kann nur derjenige über einen Verlust glaubwürdig reden, der das Verlorene entweder besessen hat oder dem es zumindest für begrenzte Zeit anvertraut war. Wer, wie ich, im Alter von 13 Monaten „geflüchtet wurde”, konnte seine Umgebung noch gar nicht bewusst wahrgenommen haben, hat seine „Heimat” nicht als solche erlebt. Es gibt viele Vertriebene, die den Verlust von Heimat authentischer reflektieren könnten. Dazu gehörte bis zu ihrem Tode im Dezember 1975, das sei am Rande vermerkt, auch Hannah Arendt, die ihre Kindheit und Jugend in Königsberg verbrachte. Jahrzehnte später sagte sie einmal: „In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich noch immer aus Königsberg” – ein deutliches Plädoyer für die Langzeitwirkungen prägender Einflüsse in der Kindheit. Das alles trifft auf mich nicht zu.

Ich könnte allerdings auch anders argumentieren: Bevor die Heimat meiner Vorfahren zu der meinen werden konnte, hat man sie mir weggenommen. Und das mit Recht, wurde mir im Osten beigebracht. Denn schließlich habe Deutschland den (bislang) grausamsten aller Kriege begonnen und habe den Holocaust zu sühnen. Aber auch im Westen „wurde die Thematisierung von Leid und Elend im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung der Deutschen 1944/45 als anstößig und rückwärtsgewandt, fast revanchistisch, angesehen und auf nüchterne historische Fakten reduziert”, sagt die Göttinger Juristin Karin Vehrenkamp.Ohne die Verbrechen Hitlerdeutschlands auch nur ansatzweise relativieren zu wollen, sei darauf hingewiesen, dass sich zurzeit die Aufmerksamkeit der historischen Forschung verstärkt „der Verantwortung der Alliierten am Zustandekommen des Gesamtereignisses Zweiter Weltkrieg” zuwendet.

Seit Jahrzehnten frage ich mich aber, warum die Deutschen in Ost und West keine Probleme damit hatten (und haben), dass Bayern und Sachsen, um nur zwei Bundesländer zu nennen, den Krieg ganz anders verloren haben als die Ostpreußen und die Schlesier – aus Gründen des Proporzes nenne ich auch bei den Vertriebenen nur zwei Gruppen. Die Bayern und die Sachsen konnten nach dem Ende des Krieges daran gehen, ihre zerstörte Heimat wieder aufzubauen. Das konnten die Ostpreußen und die Schlesier nicht. Ihnen blieb nur, den Bayern und den Sachsen beim Wiederaufbau zur Hand zu gehen und dabei eine neue Heimat zu finden. Viele fanden das, was heute und hier verhandelt wird, eine „Heimat in der Diktatur” – von den Einheimischen, wenn schon nicht unterstützt, so jedoch zumindest geduldet. Einen wesentlichen Unterschied für die Vertriebenen in der demokratisch verfassten Bundesrepublik und in der SED-Diktatur gab es aber dennoch. Der Lastenausgleich im Westen fand leider keine Entsprechung im Osten. Die Abwertung der Sparguthaben nach dem Schlüssel „1 DM für 10 RM” erfolgte hingegen auch hier.

Ohne mir anfangs dessen bewusst zu sein, bin ich darangegangen, mir die Heimat meiner Vorfahren portionsweise zurück zu holen – nicht realiter, gegenständlich, als sogenannter Revanchist, sondern fiktiv, indem ich mich bemühe, vor Ort und für die heute dort Lebenden etwas zu tun, dort etwas „zu bewegen”. Selbst auf die Gefahr hin, ins Pathetische abzugleiten, nenne ich es den Versuch, Versöhnung anzubieten.

Bevor ich genau darüber sprechen werde, möchte ich eine Erfahrung in den Raum stellen, die sich einer rationalen Erklärung entzieht. Nach einer ersten Reise ins heute russische „nördliche Ostpreußen” im Jahre 1999 suchte und fand ich immer wieder einen Vorwand für weitere Besuche in der Heimat meiner Vorfahren. Ich weiß inzwischen, dass es vielen so geht, die immer wieder dorthin fahren und keinen „vernünftigen” Grund für diese Sucht angeben können. Die schon zitierte Karin Vehrenkamp, eine Bläserkollegin, selbst einer Generation angehörend, die überhaupt nicht direkt von Krieg, Vertreibung und Flucht betroffen war, nahm im Sommer 2012 an meiner bislang letzten Reise teil. Sie versuchte „eine Vorstellung von dem zu bekommen, was mein Vater und meine Großeltern verloren hatten und mit welcher Sehnsucht im Herzen sie bis zu ihrem Tod gelebt haben”. „Gelegentlich”, so sagt sie, wundere sie sich darüber, dass sie offenbar „dennoch irgendwie involviert und betroffen” sei.

Während der Arbeit an meinem im Anthea Verlag Berlin erschienenen Buch „Das nördliche Ostpreußen heute. Eine Region im Fokus der Söhne und Töchter” sah ich mich auch mit den historischen Phänomenen von „Flucht und Vertreibung der Deutschen” sowie der „Neubesiedlung” durch Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen der Sowjetunion konfrontiert. Als dort Geborenem will mir kein emotionsloser „Blick zurück” gelingen. Darüber hinaus jedoch fesselte mich zunehmend die mühsame Suche der Kaliningrader nach einer eigenen Identität in den bewegten Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und eines langsam in Gang kommenden Aufschwungs. Im Folgenden möchte ich mich kurz den drei genannten Problemfeldern zuwenden, bevor ich mich ausführlicher den eigenen Bemühungen widme, die ich eingangs ein „Angebot zur Versöhnung” nannte.

2. HEIMATVERLUST DER DEUTSCHEN,

NEUBESIEDLUNG UND IDENTITÄTSSUCHE

Am Rande einer Jubelkonfirmation in der Kirche von Rüsseina, einem Dorf unweit des berühmten Klosters Altzella, sah ich nach 50 Jahren erstmals die ehemalige Mitschülerin Ursula wieder. Wir kamen auf unsere Eltern zu sprechen und stellten fest, dass wir beide aus Ostpreußen stammen. Ursula vertraute mir später ein Tagebuch ihres Vaters an. Es handelte sich um eine Kladde aus Büttenpapier, in die Paul Sprint in Sütterlin und mit Bleistift die Wirrnisse seiner vom 28. Januar bis zum 26. Februar 1945 währenden Odyssee von Königsberg nach Sachsen hineinschrieb.

Der gelernte Buchdrucker war als Kind streng katholisch erzogen worden, trat relativ spät in die NSDAP ein und wurde im Frühjahr 1944 als 56Jähriger zum Volkssturm einberufen. An einer schweren Lungenentzündung erkrankt, wurde er in ein Reservelazarett eingeliefert, das in seiner letzten Arbeitsstelle, dem Geheimen Preußischen Staatsarchiv in Königsberg, eingerichtet worden war. Seine Frau lebte mit den beiden Kindern bereits seit dem September 1944 in einem Dorf in der Lommatzscher Pflege, einer der wenigen Schwarzerde-Regionen im Osten Deutschlands. Heute, mehr als 60 Jahre später, ist die Schrift verblasst und nicht immer leicht zu entziffern. Dieses Tagebuch ist eine ebenso einfache wie berührende Schilderung von existenziellen Nöten, Selbstzweifeln, Anklagen und Ängsten.

Dem mitunter an Barbarei grenzenden Umgang der Sieger mit ihrer Beute möchte ich etwas mehr Raum geben. Im Jahre 1990 begannen Wissenschaftler der Historischen Fakultät der Kaliningrader Staatlichen Universität mit der Befragung von Einwohnern, die zwischen 1945 und 1948 in der Region angesiedelt wurden. Aleksandr I. Furmanow, Angehöriger der Roten Armee, war 1946 gekommen. Er bewunderte die Solidarität der Deutschen untereinander, die sich selbst in extremer Notlage nicht gegenseitig bestahlen. „Das”, so sagte er, „unterschied sie von uns Russen.”Mit folgenden Worten brachte er den Wandel seiner Haltung zur Aussiedlung der Deutschen und den Umgang mit dem Erbe, das diese hinterließen, auf den Punkt: „Heute habe ich ein anderes Verhältnis zur Aussiedlung der Deutschen, im Vergleich zu der Zeit, als sie ausgesiedelt wurden. Damals hielt ich ihre Aussiedlung für richtig. Sie hätten das Land zurückerobern können, aber es war unser Land nach dem Gesetz. Jetzt beginne ich zu verstehen, dass wir einfach gewissenlos alles vernichteten, was von den Deutschen zurückblieb, auch das Gute. Das war natürlich Barbarei. Es ist nötig, auch uns zu verstehen. In jenen Jahren war hier alles fremd für uns, deutsch. Und wir wollten den Faschismus und das Preußentum für immer ausrotten.”

Der gelernte Schlosser Nikolai Iwanowitsch Tschudinow, 1921 im Saratower Gebiet geboren, kam 1945 als Soldat ins nördliche Ostpreußen. Bei der Überquerung der Memel verwundet, erlebte er das Ende des Krieges in Gumbinnen. Er wurde als Ansiedlungsbeauftragter im Rajon Krasnosnamensk (Haselberg) eingesetzt. Später arbeitete er als hauptamtlicher Parteifunktionär auf lokaler Ebene. In seiner Haltung zur Vertreibung der Deutschen und zu ihrer Kultur unterscheidet er sich deutlich von Furmanow. Er rechtfertigt nicht nur die Vertreibung, sondern auch den respektlosen und zerstörerischen Umgang mit den Hinterlassenschaften der Deutschen. Beide verkörpern geradezu die beiden Extreme im breiten Spektrum unterschiedlicher Positionen.

Bis heute gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Wirkung der deutschen Vorgeschichte dieser Region. Die langsame, teils widerwillige Annäherung an die Vergangenheit wird in öffentlichen Debatten sichtbar, in denen Menschen zu Wort kommen, für die auch Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion die Geschichte des Kaliningrader Gebiets im Jahre 1946 , der so genannten „Stunde Null” begann. „Die Zeit von Adam und Eva bis zum Potsdamer Abkommen wurde zu Sowjetzeiten konsequent totgeschwiegen”, bringt es eine Deutschlehrerin auf den Punkt.Auf der anderen Seite wächst die Anzahl derjenigen, die sich für die deutsche Vorgeschichte nicht nur interessieren, sondern sich diese zu eigen machen. „Wer sind wir, deutsch geprägte Russen oder russisch geprägte Deutsche”, fragt der Schriftsteller Aleksandr Popadin. Für ihn ist der Kaliningrader geradezu ein „Vorbild für Unbestimmtheit”.

Die in der Tat widerwillige Annäherung an die Geschichte erlebte ich während der Reisen zwischen 1999 und 2012 besonders intensiv in den Begegnungen mit einer ehemaligen Studienkollegin meiner Frau, die seit den 1970er Jahren im heutigen Kaliningrad lebt. Sie, die Tochter eines so genannten Nomenklaturkaders der Sowjets, des Chefs der südrussischen Eisenbahngesellschaft, konnte den Zusammenbruch der Sowjetunion lange nicht verwinden. Für sie war noch vor wenigen Jahren Gorbatschow eine Unperson und Schuld am politischen Desaster, wie sie es empfand, das auch zum wirtschaftlichen Niedergang der Region Ende der 1990er Jahre geführt habe. Noch 2005 interessierte es sie überhaupt nicht, dass ein Schiff namens „Witjas” (auf Deutsch „Ritter”), in dem das Weltozeanologische Museum von Kaliningrad beheimatet ist, vor dem Krieg als Bananendampfer „Mars” gebaut worden war. Die Mars transportierte ein einziges Mal Bananen und rettete dann in den Jahren 1944 und 1945 etwa 20  000 Königsberger aus der zur Festung erklärten Stadt. Zu unserer Überraschung erklärte uns die Freundin dann 2010, dass es eine wunderbare Ausstellung im Museum „Friedländer Tor” gebe – mit einer virtuellen Rundfahrt durch das Königsberg der 1930er Jahre. „Ich wusste ja gar nicht, wie schön die Stadt früher war”, erklärte sie uns begeistert. Inzwischen wohnt sie mit ihrer Familie auch in einem deutschen Haus, denn im Gegensatz zu den Bauten aus der Sowjetzeit seien die Häuser der Deutschen mit verschließbaren Haustüren ausgestattet, begründet sie ihren Wohnungswechsel.

Um diesen Punkt abzuschließen, will ich auf einen wissenschaftlichen Aufsatz verweisen, den ich in den Anhang meines Buches gestellt habe. Unter dem Titel „Kaliningrader Identitäten oder die Schizophrenie der Geschichtslosigkeit” habe ich mich mit den geschilderten Debatten auseinandergesetzt. Damit bin ich bei manchem deutschen Historiker auf ziemliches Unverständnis gestoßen. Den heutigen Bewohnern von Kaliningrad Schizophrenie zu attestieren sei unfair, schrieb mir einer. Er selbst warf in seiner Dissertation jenen deutschen Vertriebenen einen „schizophrenen Umgang mit der Stadt und die Verweigerung, die Gegenwart anzuerkennen” vor, die 1955 die 700-Jahr-Feier Königsbergs in Duisburg begangen hatten.

3. MEINE „RÜCKEROBERUNG OSTPREUSSENS”

In einer Mischung aus Provokation und Selbstironie, mit „meine Rückeroberung Ostpreußens” zutreffend charakterisiert, will ich nun auf die für unser Thema wichtigsten Erlebnisse von fünf Reisen zwischen 1999 und 2012  etwas ausführlicher eingehen. Statt von „Rückeroberung” könnte ich ebenso gut von der Annäherung an die Heimat meiner Eltern sprechen. Den ambivalent benutzten Begriff „Heimweh-Tourist” halte ich allerdings ebenfalls für eine zutreffende Charakterisierung der noch dort Geborenen. Auch die Cousins und Cousinen aus dem Westen gehören dazu, die mich auf meiner zweiten Reise begleiteten. Später dann verfolgte ich wissenschaftliche Interessen (Hannah Arendt, Kaliningrader Identitäten) und bediente kulturelle Ambitionen (musikalischer Brückenschlag).

3.1  SUCHE NACH DEM GEBURTSHAUS

Bei der ersten Reise im Sommer 1999 wohnten wir, meine Frau, meine Tochter und ich, bei der Freundin Olga, die mit ihrem Mann Kolja und der kleinen Tochter Alexandra in einer Wohnung im 8. Stockwerk eines Plattenbaus lebte. Diese bestand aus einer Küche, nachts Schlafstätte der Tochter, sowie einem kombinierten Wohn/Schlafzimmer. Ein Minibad mit Sitzbadewanne und ein ebenso kleines WC komplettieren die gemütliche, mit großem handwerklichem Geschick gestaltete Behausung. Wichtigstes Möbelstück in dem etwa 18 Quadratmeter großen Wohn/Schlafzimmer war neben der Doppelliege ein Markenklavier, auf dem Olga abends Beethoven und Chopin für uns spielte.

Lassen Sie mich Ihnen jetzt die erste Begegnung mit meinem Geburtsort schildern. Dazu greife ich einige Passagen aus meinem Buch heraus. Mit einem kräftigen Ruck schließen wir die Türen des betagten Opel-Kadett. „Ein altes Auto ist wie ein alter Mensch”, sagt Kolja lächelnd. „Immer ist etwas kaputt”. Behutsam führt er den Zündschlüssel ein und startet den Motor. Mehr als 167 000 Kilometer zeigt der Tachometer an. Vorsichtig rangiert er den Wagen zwischen der Böschung zur Linken und den Pfählen des Wäscheplatzes, auf dem niemals Wäsche getrocknet wird, zur Rechten aus dem Innenhof des Häuserblocks hinaus. Jedes Mal wenn Kolja einen Gehweg kreuzt, knallt das Chassis hörbar auf die Bordsteinkante. Viel weniger bedrohlich ist das Schaukeln von einem gewaltigen Schlagloch in das andere. Wir erreichen die Straße und die Fahrt wird etwas ruhiger.

Ostpreußen, ein in Jahrhunderten mühevoll dem Wasser, dem Sumpf und dem Wald abgerungenes Kulturland, in dem mehr als ein Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig war, ist heute im russischen Teil nicht nur eine industrielle, sondern auch eine landwirtschaftliche Brache. Nur ganz vereinzelt sind gelegentlich Menschen und auch einige Maschinen in Aktion. Eine Seltenheit in der deprimierenden Tristesse versteppter Flächen Kilometer um Kilometer, die in manchem Reiseführer als „multikulturelle Vielfalt der Gräser” auf „bunten, ungestüm wuchernden Wiesen” verkauft wird.

Juri, ein pensionierter Oberst, der in seiner aktiven Zeit auch einige Jahre bei den sowjetischen Raketentruppen in der DDR diente, gibt den Deutschen die Schuld, dass durch zu tiefes Pflügen die Entwässerungssysteme vollständig zerstört worden sind. Die Deutschen hätten beim Rückzug sämtliche Unterlagen über das Entwässerungssystem mitgenommen, sodass die sowjetischen Behörden gar nicht in der Lage gewesen sein konnten, diese Anlagen zu warten und zu pflegen. Nur deshalb sei aus fruchtbarem Ackerland die heute von allen so beklagte Steppe geworden. Ob mein Argument ihn überzeugt hat, dass man ja in der Landwirtschaft genau wie in strategisch bedeutsamen Bereichen deutsche Spezialisten hätte zwangsverpflichten können, weiß ich nicht. Jedenfalls widersprach er nicht, als ich auf den skrupellosen Know-how Transfer durch Internierung deutscher Spezialisten für Flugzeugbau und Raketentechnik hinwies und auch die Mitwirkung deutscher Physiker und Ingenieure bei der Entwicklung der sowjetischen Atombombe betonte. Warum verzichtete man darauf, Deutsche in die militärische Sperrzone zu holen, die das in Jahrhunderten aufgebaute Entwässerungssystem beherrschten und in der Lage gewesen wären, es auch funktionsfähig zu erhalten? Die militärstrategischen Interessen besaßen offensichtlich absolute Priorität und der Verfall der landwirtschaftlichen Infrastruktur wurde ganz bewusst in Kauf genommen.

„Wir hoffen, dass Deutschland uns eines Tages übernimmt”, sagt Kolja plötzlich. Das klingt so unglaublich, dass ich meine, ihn falsch verstanden zu haben. „80 Prozent der Menschen in Königsberg denken so.” Auf meine Frage, wie eine solche Lösung dem Rest der Welt vermittelt werden könnte, gibt er keine Antwort. Er lächelt nur bitter. „Deshalb haben wir ja auch keine Hoffnung.” Immerhin 80 Prozent der „Sowjetbürger” seien demnach bereit, für die D-Mark Bürger der Bundesrepublik zu werden. In der DDR waren es 100 Prozent. Es gibt keine verlässlichen Angaben darüber, wie groß die Zahl überzeugter SED-Genossen ist, die aufgrund dieser Demütigung ausgewandert sind.

„Gerhard, was fühlst du, so kurz vor der Heimat?”, fragt Kolja. Es sind nur noch wenige Kilometer bis Schillfelde. Herzklopfen verspüre ich nicht. Ich bin nur gespannt, wie es sein wird, mein Dorf, wie sie aussieht, die Szeszuppe, von den Nazis in Ostfluss umbenannt, als sie alles litauisch Klingende ausmerzten. Aus Schillehnen wurde Schillfelde, aus Pillkallen Schloßberg. Nur wenige Ortsnamen waren ihnen deutsch genug. Wir erreichen das Zentrum des Ortes und beginnen, uns zu orientieren. Ich fotografiere das große Haus vor uns, mit dem unverkennbar deutschen Charakter. Als ich den Auslöser zum zweiten Mal betätige, treten ein Offizier und ein Soldat heraus und verlangen die Ausweise zur Kontrolle.

Wir zeigen unsere Pässe. Die Frage nach der Erlaubnis zum Aufenthalt in diesem besonderen militärischen Bereich kommt für uns alle völlig unerwartet. Auch Olga und Kolja wissen nicht, dass Schillfelde in einem „besonderen Bereich” liegt. Der Offizier nimmt uns die Pässe ab und erklärt, uns festhalten zu müssen. Ein Soldat führt uns in das Zimmer des diensthabenden Offiziers. Obwohl Schillfelde als Geburtsort in meinem Pass eingetragen ist, müssen wir viele Fragen beantworten und umständliche Antworten anhören. Wir erklären, dass weder wir noch unsere russischen Freunde beim Einfahren in das Dorf Hinweise auf den besonderen Charakter des Ortes gefunden hätten. „Dann waren Sie unaufmerksam”, belehrt uns der Offizier. Es gebe sowohl Hinweisschilder als auch einen Schlagbaum. Weder das eine, noch das andere war uns aufgefallen. Mit dem Füllfederhalter und in Schönschrift beginnt er, eine Reihe von Protokollen abzufassen.

Meine Frau erklärt, dass unsere Tochter, die nicht russisch spricht, draußen weint und von unseren Freunden, die nicht deutsch sprechen, auch nicht getröstet werden kann. Sie darf das Haus verlassen. Nach reichlich zwei Stunden, in denen ich korrekt, zum Schluss sogar freundlich behandelt werde, wird sie zur Unterzeichnung der Protokolle noch einmal herein gerufen.

Der Offizier und zwei Soldaten als Zeugen unterschreiben, wir auch – für jeden von uns zwei Protokolle in doppelter Ausfertigung. Ein Protokoll hält den Sachverhalt des unerlaubten Aufenthaltes im militärischen Sperrbereich fest, das zweite enthält die Auflage, uns am nächsten Tag um 15 Uhr in Tschernjachowsk (Insterburg) zu melden und eine Strafe zu bezahlen. Andernfalls würden wir Unannehmlichkeiten bei der Ausreise haben. Damit ist die Amtshandlung beendet.

Nun wird der junge Offizier gesprächig. Er erklärt, dass auch er sich für die deutsche Geschichte dieser Region interessiere. Er holt ein Messtischblatt und Fotografien mit den Ansichten deutscher Dorfkirchen aus seinem Schreibtisch und fragt, wo denn mein Geburtshaus gestanden habe. „Kommen Sie!” Draußen erklärt er Olga, dass sie hier warten solle. Auf dem Beifahrersitz Platz nehmend, weist er Kolja an, die Dorfstraße in Richtung Schirwindt zu fahren. An der Ruine der ehemaligen katholischen Kirche halten wir an und ich suche, allerdings vergeblich, das Haus meines Großvaters.

3.2 HANNAH ARENDT UND DAS DEUTSCH-RUSSISCHE HAUS

Hannah Arendt und die Verbindung dieser bemerkenswerten Frau mit der Stadt Königsberg habe ich schon genannt. Wenn ich eingangs davon sprach, immer wieder einen Vorwand gefunden zu haben, ins nördliche Ostpreußen zu fahren, so gehört dazu auch die Idee, vor Ort an eine Philosophin zu erinnern, die dort weitgehend unbekannt sei und im geistigkulturellen Leben der Stadt überhaupt keine Rolle spiele, wie der Leiter des Deutsch-Russischen Hauses betonte, einer von der Bundesrepublik getragenen Begegnungsstätte. Für die Philosophen an der Universität war es leichter, einen Kant-Kult aufzubauen, als eine Frau zu würdigen, die so ein Buch wie „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft” geschrieben hatte – eine Frau, für die der Nationalsozialismus in Deutschland und die Diktatur Stalins die Prototypen totalitärer Herrschaft waren. Als Mitarbeiter des gleichnamigen Instituts wollte ich das ändern und auch dazu beitragen, dass Hannah Arendt in Lehre und Forschung der Universität künftig angemessen berücksichtigt würde. Meine Vorträge im September 2005, unmittelbar nach der 750-Jahr-Feier der Stadt, im Deutsch-Russischen Haus und in der Zentralbibliothek waren gut besucht. Vor allem junge Leute interessierten sich für Hannah Arendt und das gleichnamige Institut in Dresden.

Boris Adamow, Publizist und Mitglied im Kaliningrader Klub der Heimatforscher, berichtete in einer regionalen Wochenzeitung ausführlich über diese Vorträge. Einleitend beklagte er, dass er sowohl in der 30-bändigen „Großen sowjetischen Enzyklopädie”, als auch im „Großen enzyklopädischen Wörterbuch” den Namen Hannah Arendt vergeblich gesucht habe. Einzig in der vor fünf Jahren erschienenen „Neuen philosophischen Enzyklopädie” habe er einen Aufsatz über die „deutsch-amerikanische politische Philosophin” finden können. Es sei „wunderbar”, schrieb er, dass nun gleich an zwei Tagen und zwei Orten durch einen Wissenschaftler aus dem „Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung” etwas über diese Frau und ihre innere Verbundenheit mit Königsberg zu erfahren war.

Wenn es mir auch nicht gelang, eine offizielle Zusammenarbeit mit der philosophischen Fakultät zu begründen – die altstalinistischen Funktionsträger ignorierten alle Offerten des Hannah-Arendt-Instituts –, so konnte ich doch mehrfach Nachwuchswissenschaftler nach Dresden einladen und letzten Endes das Ziel erreichen: Zu Hannah Arendt wird geforscht, einige ihrer wichtigsten Schriften wurden ins Russische übersetzt und es gibt beiderseits seriöse Bemühungen, anlässlich ihres 40. Todestages im Dezember 2015 in Kaliningrad eine Gedenktafel zu errichten.

3.3 EIN MUSIKALISCHER BRÜCKENSCHLAG

Zum Schluss möchte ich noch einige Worte über meine bislang letzte Reise im Sommer 2012 verlieren, die einen ganz anderen Hintergrund (Vorwand) hatte. Wenn auch mit Unterbrechungen, der absoluten Priorität von Studium und Beruf geschuldet, so musizierte ich doch über Jahrzehnte hinweg in Blechbläserensembles der Sächsischen Posaunenmission. Von dieser unterstützt, organisierte ich eine Konzertreise durch das nördliche Ostpreußen und das Memelland, mit dem Höhepunkt eines von etwa 250 bis 300 Besuchern begeistert aufgenommenen Konzerts im Königsberger Dom. In diesem Konzert wirkte auch der junge Domorganist Artjom Chatschaturow mit, Absolvent des berühmten Moskauer Tschaikowski-Konservatoriums und Preisträger mehrerer internationaler Wettbewerbe. Unter dem Motto „Ein musikalischer Brückenschlag von Dresden nach Kaliningrad” enthielt das Programm ein breites musikalisches Angebot – vom Madrigal über die Musik des Barock und der Romantik bis hin zu Swing und Pop. Es fügte sich gut in die regionalen Veranstaltungen im Rahmen des „Deutschlandjahres 2012/13” in Russland ein.

Bei dieser Reise spielten wir an zehn Tagen zwölf Konzerte in Kirchen und auf öffentlichen Plätzen, aber auch auf dem Soldatenfriedhof in der Hafenstadt Baltijsk (Pillau), dem 1945 einzig verbliebenen Schlupfloch für die Königsberger. Nicht nur viele Erwachsene und Kinder hatten sich auf dem zentralen Platz eingangs der Fußgängermagistrale in Sowjetsk (Tilsit) versammelt, um ein Open-Air-Konzert zu genießen, sondern auch ein bronzener Lenin und ein bronzener Elch sahen und hörten zu. Die Preußische Allgemeine Zeitung vom 11. August 2012 sprach davon, dass „mit dem Platzkonzert unter freiem Himmel eine gute alte Tilsiter Tradition zu neuem Leben erweckt” worden sei.Die Erwachsenen, anfangs nur erstaunt, applaudierten von freundlich bis zu begeistert und die Kinder tanzten zunehmend unbeschwerter. Mit einem Küsschen verabschiedeten sich die Musiker vom Elch – wer küsst schon Lenin!