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Ideologie als Heimat

Hans Dieter Zimmermann

„Sie hat uns alles gegeben,

Sonne und Wind. Und sie geizte nie.

Wo sie war, war das Leben, Was wir sind, sind wir durch sie!

Sie hat uns niemals verlassen.

Fror auch die Welt, uns war warm.

Uns schützt die Mutter der Massen!

Uns trägt ihr mächtiger Arm.

Die Partei,

Die Partei, die hat immer recht.

Und Genossen, es bleibt dabei. Denn wer kämpft für das Recht, der hat immer recht gegen Lüge und Ausbeuterei. Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht, Wer die Menschheit verteidigt, hat immer recht. So, aus Leninschem Geist, wächst, von Stalin geschweißt, die Partei, die Partei, die Partei!”

Das ist auch ein Werk der berühmten Prager deutschen Literatur, wenn es auch kaum unter diesem Etikett genannt wird. Louis Fürnberg, der dieses Lied zum III. Parteitag der SED 1950 schrieb, ist 1909 in Iglau in Mähren geboren und in Karlsbad und Prag aufgewachsen. 1928 trat er in die Kommunistische Partei ein, mit Mühe entging er der Verfolgung der Nationalsozialisten nach der Besetzung der Tschechoslowakei; er verbrachte den Krieg in Jerusalem und kehrte 1946 nach Prag zurück, von wo er nach Ost-Berlin geschickt wurde, zunächst als Mitglied der tschechoslowakischen Botschaft; von 1954 bis zu seinem frühen Tod 1957 war er stellvertretender Direktor der „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten” in Weimar.

Fürnbergs Gedicht, lange in der DDR von Chören der FDJ (Freie Deutsche Jugend) und der NVA (Nationale Volksarmee) gesungen, war wohl nicht nur ein Auftragswerk, das er im Dienst der Partei schrieb. Es bringt auch etwas von den Gründen zum Ausdruck, die junge Menschen zum Eintritt in die Partei bewegten und sie auch in schrecklichen Zeiten an dieser Partei festhalten ließen: Einsamkeit, Orientierungslosigkeit, Kälte. Fürnberg verlor seine Mutter kurz nach der Geburt, er stammte aus kleinen Verhältnissen und alles, was er war, verdankte er der Partei: Amt und Karriere. Ohne die Partei war er wenig. So dürfte diese Zeile „was wir sind, sind wir durch sie” durchaus ernst gemeint sein. Viele weniger begabte Schriftsteller waren Schriftsteller vor allem dank der Partei, die für sie sorgte, solange sie ihr treu ergeben blieben. Hätten sie auf einem freien Markt ihre Texte anbieten müssen, hätten sie sich nur schwer durchgesetzt.

Dies ist ein sozialer Grund für die Anhänglichkeit an die Partei. Der psychische steckt wohl eher in dem Satz „Uns schützt die Mutter der Massen”: In einer kalten Welt, die von anonymen Mächten regiert wird, gibt die Partei Halt und Orientierung, seelischen Halt, vielleicht sogar metaphysischen Halt. Hier mag für den mutterlosen Fürnberg der tiefere Grund seiner Treue zur Partei gelegen haben. Schließlich war es auch eine KostenNutzen-Rechnung, die sich gerade für etablierte Parteimitglieder lohnte, wenn sie von der Partei Macht und Einfluss erhielten: Die Partei verlangte viel, aber sie gab auch viel. Ohne die Partei hätte Fürnberg nie sein Denkmal im Park von Weimar erhalten, das nun den Anschein erweckt, als gehörte er zu den Großen wie Goethe und Schiller. Hätte er sich von der Partei getrennt, hätte er alles verloren.

Dieser Satz „Die Partei hat immer recht” in Fürnbergs Gedicht, der heute wie eine Parodie klingt, war bitter ernst gemeint: Was auch immer die Partei sagte und machte, sie hatte immer recht und duldete keinen Widerspruch. Auch wenn sie heute das Gegenteil von dem sagte, was sie gestern gesagt hatte, behielt sie recht. Wer das nicht wahrhaben wollte, verstand eben nichts von Dialektik. So war die Partei ohne jede KontrollInstanz, die falsche Maßnahmen hätte korrigieren können. Die Logik widerstand ihr nicht, die Realität war ihr gleichgültig. Wurde die Wirtschaft durch ihre Pläne ruiniert, hungerten Millionen Menschen – wie in der DDR nach der verhängnisvollen Kollektivierung der Landwirtschaft –, kümmerte das die Mächtigen wenig: unbeirrt gingen sie ihren Weg. Abweichende Meinungen wurden weder innerhalb noch außerhalb der Partei geduldet; Meinungs- und Pressefreiheit waren abgeschafft.

Wie konnte man sich zu dieser Partei bekennen, sich ihr freiwillig unterwerfen? Ich rede nicht von denen, die sanftem und weniger sanftem Druck folgten und ihr deshalb beitraten oder die ihr aus Opportunismus beitraten, um ihre Karriere zu befördern. Aber aus Überzeugung? Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der 15 Jahre lang in Leipzig lehrte, 1963 in Westdeutschland blieb und von 1965 bis 1974 in Hannover unterrichtete, hat in seinen Erinnerungen „Ein deutscher auf Widerruf” (1. Band 1982, 2. Band 1984) ausführlich für sich und für uns darüber Rechenschaft gegeben, warum er Kommunist wurde, warum er im Kommunismus die Heimat fand, die ihm verloren gegangen war: eine aufschlussreiche Rechenschaft. Es war ihm 1933 gelungen, den Nationalsozialisten zu entkommen und über Frankreich in die Schweiz zu gelangen, wo er sogar ein Stipendium erhielt. Nach Ausbruch des Krieges wurde er jedoch interniert wie fast alle deutschen Emigranten. Als Internierter lernte er einen anderen Internierten kennen: Michael Tschesno-Hell, einen Baltendeutschen, der russisch wie deutsch sprach, der die besten Verbindungen nach Moskau hatte, ein sattelfester und eifervoller Kommunist, wie Mayer schreibt. Der warb um Hans Mayer, dessen Begabung er erkannte, und er hatte leichtes Spiel. Mayer im 1. Band der Erinnerungen:

„Mich hat er aus der Einsamkeit befreit, die meinen Untergang bedeuten konnte. So kam ich unter die Kommunisten. Was heißen soll, dass die Begegnung mit ihm, ohne dass es sonderlicher Überredung bedurft hätte, einen Entschluss möglich machte. Ziel aber dieses Entschlusses, der wohl auch ganz anders hätte ausfallen können, war mein Versuch, die Einsamkeit zu sprengen: einer Gemeinschaft anzugehören, mit anderen gemeinsam für etwas zu wirken, auf etwas hin zu leben.

Da aber gab es nur Tschesno und die Seinen. Wenn ich damals nicht einen Augenblick an den Zionismus dachte, obwohl es keine Unterhaltung mit jüdischen Emigranten gab, die nicht von Palästina gehandelt hätte und dem Altneuland des Theodor Herzl, so verbarg sich dahinter eine tiefe, in die Kindheit hinabreichende Scheu, fast eine Inhibition, mir eine Leben unter lauter Juden vorzustellen. (Später entdeckte ich in Israel, dass ein Leben unter Juden den extremen Pluralismus bedeuten kann, vom Noch des Gettos bis zur Technologie des Atomzeitalters.)” (I, 293)

Hans Mayer war ein kleiner unbekannter einsamer Jude in der Emigration, der alles verloren hatte, was er besaß, Eltern und Elternhaus, Besitz und Freunde, und der nicht wusste, wie es mit ihm weiterging. In der Schweiz wurde er als feindlicher Ausländer misstrauisch beobachtet, in HitlerDeutschland und den von dessen Truppen besetzten Ländern ringsum war er zur Vernichtung vorgesehen. Und er war homosexuell, was seine Einsamkeit noch verstärkte. Vergessen wir nicht, dass männliche Homosexualität damals und noch lange strafrechtlich verfolgt wurde. Das waren keine zwingenden Gründe, Kommunist zu werden, andere in ähnlicher Situation wurden es nicht, aber es waren doch hinlängliche Gründe, die uns seine Entscheidung verstehen lassen. Tschesno-Hell, der später in der sowjetischen Zone, dann DDR ein höchst einflussreicher Autor und Funktionär war, bot Mayer bereits in der Schweiz: Gemeinschaft, Sicherheit und Zukunftsgewissheit. Dass er Jude war, dass er Homosexueller war, spielte keine Rolle, wenn er nur linientreuer Kommunist blieb. Hans Mayer rechtfertigt seinen Schritt – und offensichtlich musste er ihn rechtfertigen, vor sich und seinen Lesern – durch einen klugen Blick auf die Situation des Bürgertums, dem er entstammte:

„Im bürgerlichen Mittelstand, ob in Frankreich, Deutschland oder in der Eidgenossenschaft, gab es keine Gemeinschaft der Lebensziele, vom Kleinbürgertum nicht zu reden. Die bürgerliche Aufklärung, auch in ihren großen Augenblicken des 18. Jahrhunderts, hat stets nur zum Konsens geführt und zum Dialog, niemals zu einem Ganzen, das mehr gewesen wäre als eine Summe der Einzelnen. Das hatte Rousseau erkannt, als er sich abmühte, eine demokratische Gesellschaft zu ersinnen, die mehr sein könnte als eine Summe der einzelnen Demokraten, sehr viel mehr: eine Volonté Générale. Sie kam nicht zustande, auch nicht durch Robespierre und Saint-Just.” (I, 294)

Immerhin haben Robespierre und Saint-Just die Schreckensherrschaft erfunden, die dann von Lenin und Stalin vervollkommnet wurde. Das sagt Mayer hier nicht. Ein kleiner Teil der Bevölkerung wurde der Vernichtung durch die Guillotine übergeben, damit der größere Teil in Angst und Schrecken zusammengehalten werden konnte. Das hatte Folgen. Und das ist auch ein Erbteil der Aufklärung, der wir die Deklaration der Menschenrechte verdanken. Dass die Aufklärung sich ansonsten durchweg in Negation des Bestehenden und in Kritik am Bestehenden erschöpfte und erschöpft, dass sie keinen positiven Halt bot und bietet bis auf einen blassen Humanismus, der zu nichts verpflichtet und deshalb reines Gerede bleibt, das sieht Mayer deutlich:

„Die bürgerliche Aufklärung, wenn sie überhaupt noch ernst genommen wurde, war stets gefährdet durch die Negativität ihrer Positionen. Weshalb es keine Gemeinschaft unter bürgerlichen Menschen geben konnte und kann. Es gibt Sympathiegefühle, doch keine Solidarität, die mehr wäre als bloße Toleranz. Erst recht dort, wo die christliche Gemeinschaft aufgegeben wurde.” (I, 294) In der Tat bot ja die kirchliche Gemeinschaft in schwierigen Situationen noch Rückhalt und Unterstützung und natürlich auch einen metaphysischen Halt. Gerade in Zeiten der Diktaturen haben das viele erfahren. Aber dass dieser Zusammenhalt nach und nach verloren ging und geht, ist ja auch noch ein Erbteil jener kritischen Aufklärung, die beide Kirchen als veraltet und rückschrittlich brandmarkte. Mayer weiterhin: „Bürgerliche Toleranz, gewiss, doch wie rasch konnte man sich ihrer auch wieder entledigen. Eine Gemeinschaft der Außenseiter war undenkbar, selbst wenn man den Selbsthass auszuschalten vermochte. An die Solidarität der jüdischen Bürger mit unsereinem dachte ich nur im Zorn, fast im Hass. Der nette gesellschaftliche Verkehr durfte nicht belastet werden. Man hatte nicht aufzufallen, nicht arm zu sein, nicht schwierig, nicht unberechenbar.” (I, 294) Das, was Mayer hier nennt, ist seine Erfahrung mit den wohlhabenden jüdischen Bürgern Straßburgs, die durch den Zuzug der deutschen Emigranten in ihrem „netten gesellschaftlichen Verkehr” mit den christlichen Nachbarn gestört wurden. Sie wollten nichts mit diesen armen Schluckern aus Deutschland zu tun haben – so wie zuvor die Berliner Juden geringschätzig auf die armen polnischen Juden sahen, die sie in ihrem Selbstbild störten. Und dieses Selbstbild war eben das des biederen Bürgertums, an dem sie sich orientierten, das sie exemplarisch verkörperten. Mayer: „Aus dieser bürgerlichen Gesellschaft vermochte kein Soziologe eine Gemeinschaft zu destillieren. Das hatte ich erfahren. Blieben die Kommunisten.” (I, 295)

Und nun begann Mayers Karriere. Die Kommunisten waren sehr gut „vernetzt”, wie man heute sagen würde, sie waren eine verschworene Gemeinschaft, die strikt zusammenhielt, die für die Ihrigen sorgte, gestützt durch die Sowjetunion und deren Agenten. Mayer hatte zu tun: Vortragsreisen begannen, Zeitschriften-Beiträge wurden verlangt, ein Buch gab er heraus. Er stand auf einmal mitten im kulturellen Leben. Viele frei schwebenden Intellektuellen sind deshalb zu den politischen Bewegungen übergegangen, die ihnen Arbeit, Einfluss, ja Macht versprachen und eine gesicherte Karriere. Mayer: „Meine Gewissheit blieb, dass ich nicht wieder einsam sein wollte. Ich hatte Aufgaben, und ich fand, dass sie mir zusagten”. (I, 305) Und er zitiert Verse einer Ballade seines Freundes Stephan Hermlin, den er damals kennenlernte. Die Balladen des kommunistischen Dichters sind von einem schwer erträglichen Pathos. Selbst Mayer thematisiert das. Doch in diesem Pathos kann Hermlin sich und seine Lage überhöhen und damit legitimieren: Er steht heroisch auf der richtigen Seite in einem weltgeschichtlichen Kampf. Das hat Hermlin dann auch in der DDR getan, wohin er, ebenso wie Mayer, ging: In einer Villa in Pankow und in einem weißen Volvo stritt er für die Interessen der Arbeiterklasse. Hermlin ist das Beispiel eines Dichters, der ohne die Partei nie zu Ansehen gekommen wäre, weil seine Werke nur mittelmäßig sind; da bin ich ziemlich sicher. Dass er zeitweise berühmt wurde, lag nicht an seiner Lyrik, sondern an der politischen Konstellation, in der er seine Rolle spielen konnte: in seiner schmalen Teilhabe an der Macht.

Hans Mayer kam nach dem Krieg als sowjetisch gestützter Emigrant mit einem amerikanischen Jeep nach Frankfurt a. M., wo er Redakteur bei Radio Frankfurt wurde; sein Vorgesetzter war Golo Mann, Sohn von Thomas Mann. Solange die Allianz zwischen Sowjets und den USA hielt, blieb Mayer Redakteur – also nicht lange. Die sowjetische Zone bot ihm dann die größere Chance. 1947 ging er nach Leipzig. Ossip Flechtheim, auch er Jude und Emigrant, dann Professor für Politologie an der Freien Universität Berlin, ereiferte sich immer, wenn die Rede auf diesen Schritt Mayers kam. Mayer hatte ihn damals aufgefordert, ihm nach Leipzig zu folgen. Flechtheim: „Wie konnte er 1947, als Stalin noch herrschte, freiwillig in dessen Machtbereich ziehen?” Ich erwiderte: „Wo hätte er sonst eine Professur erhalten?”

In den ersten Jahren hat sich Hans Mayer ziemlich parteitreu verhalten, dann hat er sich nach und nach frei gemacht, bis er sich ganz löste, was er wiederum mit Einsamkeit erkaufte. Nicht nur an seinen Aufsätzen, in denen er Werke der Moderne untersuchte, die als formalistisch geächtet waren, nicht nur in seiner kritischen Abwehr des offiziellen „sozialistischen Realismus”, sondern mehr noch in seiner Haltung zu einzelnen verfolgten Menschen zeigte sich sein Anstand und seine Tapferkeit. Am 60 . Geburtstag des verfemten Peter Huchel saßen nicht Hermlin, Mayer und Arendt am Tisch der Familie Huchel und sonst niemand, wie er schreibt. ( II, 264) Hermlin saß nicht am Tisch, das weiß ich zuverlässig von Monica Huchel. Seitdem Huchel von der Chefredaktion der Zeitschrift „Sinn und Form” entfernt worden war, war der Kontakt Huchels zu Hermlin abgebrochen. Nur Hans Mayer und Erich Arendt saßen am Tisch. Nur Hans Mayer lud den geächteten Huchel zu einer Lesung nach Leipzig ein, niemand sonst. So unterstützte er auch die Frau von Erich Loest, als dieser in Waldheim einsaß, und er schrieb einen Brief an Heiner Müller, als der aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Den Dank Müllers zitiert Mayer in seinen Erinnerungen. Demnach habe Mayer ihm gratuliert, dass er aus dem Idiotenverein ausgeschlossen worden sei. Und er habe sich dafür eingesetzt, dass Müller Zuwendungen von der Schiller-Stiftung in Weimar erhielt, da er ja nun Berufsverbot hatte und kein Hund ihm mehr ein Stück Brot geben würde, wie der Sekretär des Schriftstellerverbandes ihm ankündigt hatte. Müller: „Der Hund, der mir Brot gab, hieß Hans Mayer.” (II, 341)

Ich habe – wenn ich das als West-Schüler Hans Mayers dazwischen schieben darf, ich verdanke ihm viel – ich habe ihn immer so erlebt: als einen anständigen Menschen, der andere wahrnahm als die, die sie waren, der andere unterstützte, wenn sie es verdient hatten. Ein Mensch mit einem sicheren Gespür für Qualität, menschliche und künstlerische Qualität. Freilich war er auch empfindlich, er konnte leicht wütend werden, und er war nachtragend, konnte aber schließlich auch verzeihen. Er war eitel, das ist bekannt, er strebte nach Beifall, nach Zuneigung, aber dies eben auch aus seiner Einsamkeit heraus. Und war er auch eitel, so konnte er doch selbstlos sein. Als er Direktor der Abteilung Literatur der West-Berliner Akademie der Künste wurde und ich sein Sekretär, wie es hieß, also sein Assistent war, gab mir Peter Huchel den Ratschlag: „Sie müssen ihm täglich ein Kompliment machen, dann kommen Sie gut mit ihm aus.” „Das ist nicht so einfach”, erwiderte ich. „Neulich hielt er eine brillante Rede in der Akademie. Als er vom Podium herunterstieg, eilte ich auf ihn zu, um zu sagen: Sie waren großartig. Bevor ich meinen Satz herausbringen konnte, sagte er: War ich nicht großartig. Und mir blieb nur, ihm zuzustimmen.” Übrigens war er tatsächlich großartig.

Im Sommer 1963 blieb Hans Mayer, der immer noch in den Westen reisen durfte, in Tübingen. Er sieht das in seinen Erinnerungen als richtige Entscheidung, nimmt aber von dem, was er bis dahin getan und geschrieben hatte, nichts zurück. Auch in späteren Publikationen sieht er die Anfänge der DDR als hoffnungsvoll, also die Zeit, in der er in den Osten ging, seinen Schritt damit rechtfertigend. Es ist für die Intellektuellen offensichtlich sehr schwer, eigene Fehler einzugestehen. Und gerade sie, die doch alles kritisch zu reflektieren hätten, wären dazu ausersehen, Fehler zu thematisieren, damit wir alle daraus lernen könnten. Sollte etwa Hans Magnus Enzensberger eine Liste seiner gesammelten Irrtümer zusammenstellen, hätte er einiges zu tun. Da schreibt er lieber einen neuen Text, dem gerade herrschenden Zeitgeist entlang.

Mayer blieb Marxist. Der Marxismus war in seiner gemilderten Form ein gutes Instrument der Analyse. Er bot ein Schema, innerhalb dessen gesellschaftliche und künstlerische Entwicklungen erklärt werden konnten. Intellektuelle scheinen ein höheres Bedürfnis nach Erklärungsmodellen jenseits der christlichen Kirchen zu haben als die meisten Menschen. Sie wollen die Welt verstehen, durchschauen, sie sich selbst und anderen deuten. Sie streiten um die Deutungshoheit mit anderen Kräften, etwa mit dem Klerus der Kirchen, den sie im Laufe des 19. Jahrhunderts ablösten, nachdem sie ihn lange bekämpft hatten. Sieht man die Folgen der Ideologien des 19. Jahrhunderts (Nationalismus, Rassismus, Marxismus) im 20. Jahrhundert, geschah dies durchaus nicht zum Besten der Menschen.

Die Intellektuellen brauchen also einfache Erklärungsmodelle, die sie leicht fasslich in der Öffentlichkeit vertreten können, damit sie ihre eigene Position stärken. Der Marxismus besitzt beides: ein Instrument der Analyse, aber auch ein mythologisches Konzept, das sehr alt ist – und immer noch attraktiv. Deshalb wurde der Marxismus bei so vielen Intellektuellen populär: wegen des trivialen Mythos. Den kannten schon die alten Griechen und das Alte Testament: das goldene Zeitalter oder das verlorene Paradies. Dieses Goldene Zeitalter ist – wie der Ur-Kommunismus – lange dahin, jetzt leben wir in der Zeit der Zerrissenheit, der antagonistischen Klassenkämpfe. Aber eines Tages wird das Goldene Zeitalter wiederkehren oder der Messias den Kampf zwischen Gut und Böse durch den Sieg des Guten beenden, also durch den Kommunismus. Dieser Mythos steckt im Marxismus, mag das auch wenigen Marxisten bewusst sein. Die Romantiker Novalis und E. Th. A. Hoffmann führten diesen Mythos wieder ein und insofern ist Karl Marx ein Romantiker.

Übrigens, auch die Erwartung der sicheren Katastrophe, mit der wir zu leben von den grünen Ideologen oder Ökologen gezwungen werden, ist Teil desselben Mythos: früher gab es demnach die heile Natur, jetzt zerstören wir Menschen alles und treiben deshalb auf die Katastrophe zu, etwa die Klimakatastrophe, also auf einen Weltuntergang. Der Untergang der alten Welt gehört zur messianischen Erwartung: damit die neue Welt aufgehen kann, muss die alte Welt untergehen. Der Messianismus setzt also die Katastrophe voraus. Man kann offensichtlich dem Glauben nicht entgehen. Tritt man aus der Kirche aus, verfällt man trivialen Mythologien, ohne sich dessen bewusst zu sein. Auch der Marxismus, der sich so erhaben dünkte über die alten Religionen, ist so gesehen eine Religion, eine politische Religion, die Gläubige heranzieht und ihnen ihre Dogmen verkündigt.

Die ideologische Heimat, die der Nationalismus bot, war ebenso beliebt bei den Gelehrten, den Pfarrern und den Lehrern, jedenfalls vor 1914. Mit welchem Enthusiasmus begrüßten die deutschen „Kulturträger” den Ersten Weltkrieg, mit welcher Rückhaltlosigkeit unterstützten sie den preußischen Militarismus. Es war vom Schulterschluss zwischen Weimar und Potsdam die Rede. Von Weimar war nicht viel zu spüren, von Potsdam dann aber schon: von der Knute Friedrichs II. und seiner Menschenverachtung. Späterhin war dieser Nationalismus nicht so attraktiv wie der Marxismus, denn er bot kein bündiges Erklärungsmodell, eher wabernde Gefühle, so dass er die weniger intelligenten Intellektuellen anzog, von Ausnahmen abgesehen. Eine Ausnahme ist der Philosoph Martin Heidegger, weshalb ich auf diesen noch eingehen möchte.

Martin Heidegger, ein großer Denker, daran kann kein Zweifel sein, ist 1933  auf die armselige Theatralik der Nationalsozialisten hereingefallen. Es hat eine Weile gedauert, bis er sich davon frei machen konnte. Zunächst tönte er als Rektor der Universität Freiburg mit, jedenfalls öffentlich, mag er auch insgeheim Vorbehalte gehegt haben. Ein neues Zeitalter schien angebrochen: Führer, Volk, Vaterland. Die unfähigen, entschlusslosen Weimarer Politiker wurden von energischen Männern abgelöst. Endlich gab es nach all den Ungewissheiten Gewissheit. Der Philosoph sah sich schon als geistigen Führer der Nation, er wollte mittun, mitbestimmen, teilhaben an der Macht. Er merkte aber bald, dass Leute seines Formats nicht gebraucht wurden.

Die Entschlossenheit, zu der seine Philosophie hinführte, dürfte ein Grund für seine Faszination durch die Nationalsozialisten gewesen sein: entschlossen waren sie. Hans Jonas, einer der brillanten Schüler Heideggers, charakterisierte ihn in einem Interview einmal so: Bei Heidegger sei „das Verhältnis zum eigenen Tode, das Verhältnis zur eigenen Endlichkeit einer der Antriebe, die das Dasein auf sich selbst zurückwirft, so dass es sich aus der Herrschaft des Man befreien kann: zu seiner Eigentlichkeit. Das Merkmal dieser Eigentlichkeit ist die Entschlossenheit: der Einzelne muss sich zu etwas für sich selbst entschließen. Die Entschlossenheit als solche, nicht wofür man sich entschließt und wogegen, sondern dass man sich entschließt, wird zur eigentlichen Signatur des Daseins.”

In dieser leeren Entschlossenheit liegt nicht nur eine erfreuliche Offenheit, die jeder auf seine Weise zu füllen vermag, es liegt darin auch eine Gefahr: alles, wozu man sich entschlossen genug entschließt, ist dann gewissermaßen gut und richtig. Es gibt aber auch falsche Entschlüsse, die nicht durch den Grad der Entschlossenheit, sondern durch das Ziel markiert sind. Die Nationalsozialisten waren entschlossen, ihre Gegner zu vernichten und einen Krieg zu beginnen. Und sie haben ihre Entschlüsse durchgesetzt. Mangel an Entschlossenheit ist wohl das Letzte, was man ihnen vorhalten kann. Man wünschte sich, sie wären weniger entschlossen gewesen. Wie sehr die Philosophie Heideggers in der Luft hängt, zeigt dieses monströse Beispiel. Er ist deshalb ja auch recht unsanft auf dem Boden gelandet. Als er in die Wirklichkeit drängte, versagte seine Urteilskraft. Natürlich war er auch verlockt von der möglichen Teilhabe an der Macht, die es ihm ermöglicht hätte, eine andere bessere Universität zu bauen als die unzureichende vorhandene.

Dass sogenannte einfache Menschen oft eine bessere Urteilskraft besitzen als die abgehobenen Intellektuellen, lässt sich am Beispiel Martin Heideggers und seines Bruders Fritz studieren. Ich habe es einmal ausgeführt. Fritz Heidegger, der Kassierer der Kreditkasse Meßkirch, der kaum über das kleine Meßkirch hinauskam, war im Jahre 1933 und folgende klüger und mutiger als sein berühmter Bruder. Seine Fastnachtsrede von 1934, die überliefert ist, war klarsichtiger als alles, was sein Bruder 1933 und 1934 sagte. Fritz Heidegger blieb nicht nur in Meßkirch – sein Stottern hatte ihm eine theologische Laufbahn verstellt –, er blieb auch in der katholischen Kirche, die sein Bruder Martin hinter sich gelassen hatte. Wie alle braven Katholiken wählte er immer das Zentrum, die katholische Partei, und dies hielt ihn in einem Kreis, der ihn wie viele Katholiken wenig anfällig machte für die nationalsozialistische Propaganda. Als die Nationalsozialisten in Berlin – in Meßkirch wäre ihnen das nie gelungen – die Macht erhielten, mussten sie in Meßkirch nicht die Kommunisten oder die Sozialdemokraten bekämpfen, die gab es kaum, sondern das Zentrum und die katholische Kirche. Und das taten sie auch.

So können die beiden Brüder auch als Symbole einer alten und einer neuen Welt gesehen werden. Fritz war noch, bei all seiner launigen Kritik, in dieser alten Welt geborgen: in der Gemeinschaft der Kommune und der Kirche. Martin hatte sich davon entfernt und den Unsicherheiten der neuen, der undurchsichtigen industriellen Welt gestellt. Und er versuchte, sich selbst und anderen eine neue Orientierung zu schaffen. Er suchte nach einem Erklärungsmodell, da das traditionelle christliche Modell ihm nicht mehr genügte, den Anforderungen der neuen Welt auch nicht zu genügen schien. Wir dürfen nicht vergessen, was diese Generation durchlebte: den Untergang der alten, anscheinend sicheren Monarchien 1918, die Inflation der materiellen und der ideellen Werte danach und eine Industrialisierung, die damals umstürzend wirkte, uns heute jedoch längst vertraut ist. So griff Martin Heidegger, er ist hier nur ein Beispiel, kurze Zeit nach den falschen Verheißungen der Politik, in denen er Heimat und Halt zu finden hoffte.

Dass der Kassierer der Kreditkasse Meßkirch im Jahre 1933 und danach klüger war als der Philosoph der Universität Freiburg, nimmt mich natürlich für ihn ein. Er steht für die vielen kleinen Leute, die sich nicht um Politik kümmerten, die nicht Ideologien verfielen und doch von den politischen Ereignissen in Mitleidenschaft gezogen, ja sogar dafür verantwortlich gemacht wurden. Und es stellt sich die Frage nach der mangelnden Klugheit der Intellektuellen. Intelligent mögen sie sein, aber klug sind sie nicht immer. Klug in den Dingen des Alltags, im Umgang mit Menschen, in sozialen Beziehungen, in ökonomischen Problemen. Das mag auch daran liegen, dass sie in einer arbeitsteiligen Welt nur ihren kleinen Bereich in Kunst oder Wissenschaft überschauen, Grund genug, sich bescheiden auf sein Ressort zu beschränken.

Ich ende mit einem aktuellen Beispiel. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” vom 10. Mai 2013 berichtete deren Korrespondent Jürg Altwegg aus Paris über die Enttäuschung der französischen Intellektuellen, die Präsident Hollande in seinem Wahlkampf unterstützten. Wieder mal ging es um die Rettung der Republik: ein Sozialist sollte Präsident werden und den angeblich konservativen Sarkozy ablösen und alles sollte besser werden. Wieder einmal gab es feurige Artikel und Resolutionen. Hollande gewann, ob wegen oder trotz dieser Unterstützung sei dahingestellt. Jedenfalls hatten sich die Intellektuellen eine Teilhabe an der Macht erhofft. Sie wollten mitregieren, mitbestimmen, endlich den Worten Taten folgen lassen, nicht ganz uneigennützig. Doch Präsident Hollande konnte keinen von ihnen gebrauchen. So war der Jammer groß. „Seit Mai 2012 habe ich Hollande nicht mehr gesehen”, also seit seiner Wahl, klagte ein berühmter Wirtschaftsprofessor der berühmten Harvard Universität: „Die Außenpolitik ignoriert die Geisteswissenschaften, welche die militärischen Aktionen erhellen könnte”, meinte er. Behüte Gott, meine ich als Geisteswissenschaftler, das machte alles noch schlimmer. Und ein anderer klagte: „Wer nicht mehr an den Sinn der Geschichte glaubt, hat es mit Klempnern zu tun, die mehr oder weniger gut arbeiten.”

Welchen Unsinn als Sinn der Geschichte haben uns Intellektuelle des 20. Jahrhundert schon weisgemacht? Da ist mir jeder Klempner, also jeder solide Handwerker, lieber als die hochfahrenden eitlen Intellektuellen, die mal wieder die Rolle von Geist und Macht beschwören. Die wieder den Klassenkampf entdecken oder den deutschen Erbfeind, wie in Frankreich und Italien in einigen Fällen geschehen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass kritische Intellektuelle mitunter eine wichtige Funktion haben und hatten, vor allem dann, wenn die demokratischen Freiheiten unterdrückt werden und nur sie die Stimme erheben. Denken wir etwa an die Dissidenten der Charta 77 im kommunistischen Prag, wo sie die Bürger- und Menschenrechte aufrecht hielten. Denken wir an die Schriftsteller der Gruppe 47, die im Westen Nachkriegsdeutschlands die freie Rede, die kontroverse Diskussion, die unter den Nazis unmöglich geworden war, wieder hoffähig machten. Intellektuelle müssen eben wie Politiker skeptisch beobachtet und kritisch befragt werden. Sie haben nicht von vorneherein immer recht und sie haben auch nicht im Nachhinein immer recht gehabt.

Sehen wir uns diesen Koloss in Brüssel an: die Behörde der Europäischen Union ist ein riesiger Verwaltungsapparat, der erzeugt wurde von Politikern und Bürokraten, nicht von Intellektuellen, aber nützlicher ist als alle Ideologien, die, auch von Intellektuellen verbreitet, im 20. Jahrhundert Europa verheerten. Das heißt nicht, dass er keine Kritik verdiente.