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Verlassene Heimat – Zur Flucht aus der DDR und deren Folgen

Werner Gumpel

DIE FLUCHTBEWEGUNG

Ich bin im Erzgebirge geboren und aufgewachsen, einer Region, in der die Menschen besonders heimatverbunden sind.

Heimatliebe und Heimatverbundenheit sind nicht nur ein Charakteristikum der Erzgebirgler. Wo die Menschen geboren und aufgewachsen sind, wo sie zur Schule gegangen sind und ihre ersten sozialen Kontakte gefunden haben, wo ihnen die Mimik und Gestik der Menschen und deren Verhaltensweisen vertraut sind, dort ist die Heimat. Dort kennen sie die Sprache und sprechen den Dialekt. Dort fühlen sie sich nicht nur zu Hause – dies alles gibt ihnen auch ein Gefühl der Sicherheit und der inneren Stärke.

Wenn dies so ist, so müssen wir uns fragen, warum wohl nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR so viele Menschen ihre Heimat verlassen haben, und warum sie – zwar nicht in einem fremden Land, aber doch fern der Heimat – eine neue Existenz gesucht und zumeist auch gefunden haben. Sie begaben sich zum größten Teil in ihnen unbekannte Regionen und in ein ungewisses Leben.

Seriöse Quellen melden, dass vom Zeitpunkt der Gründung der DDR bis zu deren Zusammenbruch rund 3,5 Millionen Menschen die DDR verlassen haben, davon in der Zeit vom August 1961 bis zum Zusammenbruch der DDR 1989 95 000 Personen. Sie haben zum Teil auf sehr abenteuerliche und gefährliche Weise der DDR den Rücken gekehrt. Im Westen sprach man von einer „Abstimmung mit den Füßen”Dabei riskierten die Flüchtlinge besonders nach dem Mauerbau ihr Leben. Bis zum Ende des SEDStaates wurden 1065 Menschen bei der Flucht an der Berliner Mauer oder an der innerdeutschen Grenze bzw. bei der Flucht über die Ostsee durch Schusswaffen, Erd- und Splitterminen oder andere Gewaltakte getötet.

Was die Zahl der Flüchtlinge betrifft, so ist sie in der Realität höher als hier ausgewiesen, da bis zur Gründung der DDR Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone und dem sowjetischen Sektor von Berlin nicht registriert wurden. Ihre Zahl wurde später mit 438 700 errechnet. Es dürften jedoch erheblich mehr gewesen sein. Eine Registrierung erfolgte in Berlin erst ab Januar 1949, im Bundesgebiet ab dem 22. August 1950 in den Notaufnahmelagern. In den genannten Zahlen sind Personen, die auf legalem Weg, also mit behördlicher Genehmigung, die DDR verlassen haben, nicht eingeschlossen.

FLUCHTMOTIVE

Warum also nahmen Millionen Menschen die Gefahr auf sich, getötet oder verletzt oder auf Jahre in ein Gefängnis eingesperrt zu werden, wohl wissend, was mit ihnen geschehen konnte und ohne Wissen darüber, was sie im fremden Land erwartet, wie ihr Leben dort verlaufen würde? Vor welchen Schwierigkeiten standen sie, als sie den Neuanfang wagten? Was bedeutete aber auch dieser Zustrom von Menschen für Westdeutschland?

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Flucht sich wellenförmig vollzog. Dies gibt uns eine erste Auskunft über die Fluchtmotive. Die stärkste Fluchtwelle, so das „DDR-Handbuch” in seiner 3. Auflage, wurde durch den auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 gefassten Beschluss, den Aufbau des Sozialismus beschleunigt durchzuführen, hervorgerufen. Mit den Maßnahmen zur Verstaatlichung der Privatwirtschaft ging die Fluchtwelle noch einmal in die Höhe und erreichte im März 1953 mit 58600 Ankünften den absoluten Höhepunkt. Eine weitere Spitze erreichte die Fluchtwelle dann mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft im Frühjahr 1960 . Etwa gleichzeitig wurde die Sozialisierung der privaten Industrie-, Handels- und Handwerksbetriebe durchgeführt. Als dann im Juli/August Gerüchte über zu erwartende Sperrmaßnahmen die Runde machten, erreichte die Fluchtbewegung mit der Zahl 47 433 im August 1961 ihren zweiten Höhepunkt.Es war also die DDR-Regierung selbst, die zeitweise mit unpopulären Maßnahmen Furcht vor einer weiteren Verschärfung des politischen Drucks auf die Gesamtbevölkerung oder bestimmte Bevölkerungsgruppen erzeugte und damit die Fluchtbewegung anheizte. Es waren vor allem junge Menschen, die nach all dem, was geschah, in der DDR für sich keine Zukunft mehr sahen. 60 Prozent der Flüchtlinge waren jünger als 25 Jahre, nur zehn Prozent waren älter als 60 Jahre.

Zur Frage der Fluchtmotive wurde eine Reihe von Untersuchungen angestellt, beruhend auf Befragungen von Flüchtlingen in den Notaufnahmelagern. Hier wurde besonders häufig die Ablehnung der kommunistischen Ideologie genannt, aber auch die Nichtzulassung von Kindern bestimmter Bevölkerungsgruppen zur Oberschule und zum Studium. Viele Menschen sahen in der Flucht den einzigen Ausweg, um einer Verpflichtung als Spitzel für den Staatssicherheitsdienst (SSD) zu entgehen, oder aber sie wollten der Einberufung in die Nationale Volksarmee (NVA) entkommen. Aber auch die Verstaatlichung der Wirtschaft und die Kollektivierung der Landwirtschaft waren Fluchtgründe, und natürlich versuchten ehemalige politische Häftlinge in die Bundesrepublik zu entkommen. Sehr häufig war es aber auch der soziale Druck, dem „Nonkonformisten” in Beruf und Privatleben ausgesetzt waren, der zur Flucht führte.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der „Bericht einer Brigade für Sicherheitsfragen des Zentralkomitees der SED über die Ursachen der Abwanderung” vom 24. Mai 1961:  Denn hier wird relativ objektiv von DDR-Seite eine Erklärung für die Ursachen der Abwanderung gegeben. In dem Bericht werden als Ursachen nicht nur „Verbindungen zu Verwandten, Bekannten und Republikflüchtlingen” und deren Einfluss genannt. Wörtlich heißt es: „Bei vielen republikflüchtig gewordenen Personen wirkten sich begünstigend Zweifel, Unklarheiten über die Perspektive der Entwicklung in Deutschland, verbunden mit einem Unglauben an die Richtigkeit der Politik der Partei und Regierung, auf das Verlassen der Republik aus.” Und weiter: Bei den verschiedensten Schichten der Bevölkerung ergäben sich Idealvorstellungen über die Lage in Westdeutschland, und sie glaubten, dass es sich dort „besser, leichter, freier leben lässt.” Begünstigend auf die Republikfluchten, so heißt es, „wirken sich vorhandene Mängel und Unzulänglichkeiten in der Produktion und in den gesellschaftlichmenschlichen Beziehungen aus.” Mit diesen Äußerungen ist eigentlich alles gesagt.

POLITISCHER WIDERSTAND UND SEINE FOLGEN

Einer besonderen Betrachtung bedarf die Abwanderung aus der DDR aus politischen Gründen. Viele Menschen glaubten, den politischen Druck des SED-Regimes nicht mehr ertragen zu können. Die Politisierung aller Bereiche des täglichen Lebens machte das Leben nicht mehr lebenswert. Die Alternativen lauteten: Passe dich an und begebe dich in die innere Emigration, oder versuche in den Westen zu gelangen. Dies war schon vor

1961  nicht ungefährlich, jedoch möglich, wie die Flüchtlingszahlen belegen.

Eine weitere Alternative war: Widersetze dich diesem System und leiste aktiven oder passiven Widerstand. Der letztere Weg wurde von mehr Menschen beschritten, als allgemein bekannt ist. Aus welchen Gründen auch immer, wird dieses Kapitel der DDR-Geschichte heute von Historikern und Politikern gemieden. Die KAS stellt hier eine Ausnahme dar, wie die jährliche Veranstaltung der „Belter-Dialoge” bestätigt. Doch zum Widerstand gehört Mut. Der altgriechische Staatsmann Perikles sagte einmal, dass das Geheimnis der Freiheit der Mut ist. Er sagte aber auch, dass die Freiheit das Geheimnis des Glücks ist. Um glücklich zu sein braucht der Mensch Freiheit, nur kann es geschehen, dass er den Mut dazu mit dem Leben bezahlen muss, oder dass er für viele Jahre in einem Gefängnis oder in einem Zwangsarbeitslager von der Freiheit höchstens träumen kann. In der DDR erlitten viele, viel zu viele Menschen dieses Schicksal. Unter ihnen auch viele Studenten der Leipziger Universität, aber nicht nur dieser, sondern aller Universitäten der DDR. Dies war also die „besondere Fürsorge von Partei und Regierung für den wissenschaftlichen Nachwuchs”, für die Intelligenz. In der Zeit von 1945 bis 1989 hat das SED-Regime, zunächst in Kooperation mit dem NKWD, später in alleiniger Regie, 390 000 Menschen unschuldig bzw. aus politischen Gründen eingesperrt. Davon sind 90 000 in der Haft umgekommen, an den Haftfolgen verstarben 100 000. Geschätzte 8000 bis 9000 Oppositionelle wurden bis 1955 nach der Verhaftung durch die Stasi an die Russen übergeben und von Sowjetischen Militärtribunalen zumeist zu 25 Jahren Zwangsarbeit oder zum Tode verurteilt. Die zur Zwangsarbeit Verurteilten wurden in die unwirtlichsten Gebiete der UdSSR, wie nach Workuta verbracht, die zum Tode Verurteilten in Moskau erschossen. Ihre Zahl beläuft sich nach den Recherchen der russischen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL auf 926. Unter ihnen war Herbert Belter, dessen Gedenken diese Veranstaltung gewidmet ist.

Es gab also jene Menschen, die den Mut hatten, ihr Leben und ihre Gesundheit für Freiheit und Demokratie einzusetzen, ebenso wie das auch viele Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus getan haben.

Auch unter den Studenten der ostdeutschen Universitäten herrschte weitgehend Unzufriedenheit mit dem repressiven kommunistischen System. Von ihnen wanderten ebenfalls Tausende in den Westen ab und stärkten das intellektuelle Potential der Bundesrepublik. Viele andere aber weigerten sich mitzumachen und leisteten Widerstand gegen das Regime. Das Universitätsarchiv Leipzig hat unter der Leitung von Prof. Dr. Gerald Wiemers und seines jetzigen Leiters Dr. Jens Blecher untersucht, wie viele Studenten der mitteldeutschen Universitäten in der Zeit von 1949 bis 1955 in die Gefängnisse der DDR gesperrt bzw. in die Sowjetunion verbracht und wie viele hingerichtet worden sind. Prof. Wiemers und Dr. Blecher ist dafür besonders zu danken. Ohne ihre Tätigkeit wäre der Opfergang der mitteldeutschen Studenten wohl nie bekannt geworden. Sie stellten fest, dass an den fünf mitteldeutschen Universitäten in Dresden, Freiberg, Halle, Jena und Leipzig bis 1955 (soweit feststellbar) 377 Studenten verhaftet und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden sind. In Leipzig lag die Zahl bei 99, in Halle bei 124. Zehn Leipziger Studenten wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch aus den anderen Universitäten der DDR verschwanden oppositionell gesinnte Studenten und wurden vornehmlich in die Lager der Sowjetunion „entsorgt”. Es ist Zeit, dass ihrer aller mit Dank und mit Trauer gedacht wird, so wie wir auch der Geschwister Scholl und der anderen Opfer der Nazidiktatur gedenken. Es waren gerade die Geschwister Scholl, die vielen Studenten, die Widerstand gegen das kommunistische Regime geleistet haben, als Vorbild galten.

Die Mehrzahl der in Leipzig verhafteten Studenten wurde in den GULag ( GULag = Staatliche Verwaltung der Lager) verbannt, hauptsächlich nach Workuta, 160 km nördlich des Polarkreises, andere in das Gebiet von Taischet (Bezirk Irkutsk). Ihr Aufenthalt dort war geprägt von harter Arbeit, schlechter Ernährung und erbarmungslosem Klima. Doch da sie jung waren und den festen Willen hatten zu überleben, verstarben nur wenige. Aber auch die psychische Belastung war groß, denn ihre Angehörigen waren weder von ihrer Verhaftung und Verurteilung noch von ihrer Deportation benachrichtigt worden, und sie selbst hatten Schreibverbot. Nachrichten aus der Außenwelt konnten sie nur aus der Parteizeitung „Pravda” erhalten, die in einem Schaukasten im Lager ausgehängt war. Es herrschte also eine völlige Isolierung von der Heimat und vom Weltgeschehen, denn in der „Pravda” war nur das zu erfahren, was die Partei dem Volke zu wissen erlaubte. Die von der Heimat getrennten Gefangenen führten ein Leben wie auf einem anderen Stern. Eine gewisse Nachrichtenquelle waren die sogenannten „Freien”, bei denen es sich um Sowjetbürger, vorwiegend Ukrainer und Russland-Deutsche handelte, die in der Region Workuta in Verbannung lebten. Sie kamen zumeist als Lastkraftwagenfahrer oder in anderer Mission in die Arbeitszone und berichteten von den Dingen, die sie illegal von ausländischen Rundfunksendern gehört hatten. So erfuhren die deutschen Zwangsarbeiter auch vom Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR. Die schicksalsträchtigste Nachricht aber war am 5. März 1953 die vom Tode Stalins. Jetzt schöpften sie wieder Hoffnung. Die Lebensverhältnisse im Lager verbesserten sich. Dies geschah insbesondere, nachdem im August 1953 die Bergarbeiter im Schacht 29 gestreikt hatten. Der Streik wurde blutig niedergeschlagen. Unter den Opfern befanden sich auch einige Deutsche. Doch fast täglich wurden nun über den Lagerlautsprecher Listen mit Namen von Häftlingen – allerdings nur sowjetischen – verlesen von denen es hieß: „Zu Unrecht verurteilt. Unverzüglich freizulassen”. Viele so zu Unrecht Verurteilte hatten bereits zehn und mehr Jahre im Lager verbracht.

Im September 1953 wurde auch eine erste Gruppe von Deutschen entlassen. Einige tausend andere Deutsche mussten weitere zwei Jahre warten. Erst nach dem Besuch des Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Moskau im Jahr 1955 konnten auch sie in die Heimat zurückkehren.

Es ist noch gar nicht lange her, da fragte mich Georg Paul Hefty von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” in einem persönlichen Gespräch: „Wie nur haben Sie den Wiedereintritt in das Leben bewältigen können?” Ich konnte nur antworten, dass es einfach keine Alternative gab als zu lernen, in einer wirklich völlig neuen Umgebung ein neues Leben zu beginnen.

Für mich war es, als ob ich von einem anderen Stern käme. Wie mir erging es wohl den meisten meiner Leidensgefährten. Wir befanden uns plötzlich in einer anderen Welt, für die erst einmal Verständnis gefunden werden musste. Hier mussten wir uns bewähren oder untergehen. Und die meisten von uns ehemaligen Häftlingen haben sich bewährt, allerdings hat der Staat uns auch tatkräftig geholfen. Wer studieren wollte, erhielt ein Stipendium, das zwar knapp bemessen war, aber ein sorgenfreies Studium garantierte. Nach allem, was wir erlebt hatten, stellten wir keine großen Ansprüche an das Leben. Wir waren froh und glücklich, in diesem freien Land, das sich Bundesrepublik Deutschland nannte, leben zu können.

DER FLÜCHTLINGSSTROM:

HERAUSFORDERUNG FÜR DIE BUNDESREPUBLIK

Für die Bundesrepublik war der Flüchtlingsansturm eine immense Herausforderung. Wie sollten die Hunderttausende, die jedes Jahr ins Land kamen, untergebracht werden? In der Bundesrepublik herrschte noch lange Zeit großer Wohnraummangel, denn die Zerstörungen des Krieges waren bis in die 1960er Jahre hinein noch nicht voll beseitigt. Wie aber sollten die zuwandernden Menschen einen Arbeitsplatz finden, der es ihnen ermöglichte, sich aus eigener Kraft zu ernähren und eine Zukunft aufzubauen? Ohne zu übertreiben kann gesagt werden, dass die Nutzung sozialer Vorteile bei kaum einem der Flüchtlinge das Ziel gewesen ist. Das Sozialsystem der Bundesrepublik war zudem noch nicht dermaßen ausgebaut, wie es heute der Fall ist. Eine gut verlaufende Konjunktur, verbunden mit den Aufbaubemühungen der Bundesregierung und der Länderregierungen, hatten jedoch den Bedarf an Arbeitskräften derart stark anwachsen lassen, dass bis in die 1970er Jahre hinein ein Mangel an Arbeitskräften herrschte. In der zweiten Hälfte der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre herrschte faktisch Vollbeschäftigung und nicht, wie die kommunistische Propaganda behauptete, Arbeitslosigkeit. Mit den Flüchtlingen wurde das produktive Potential der Bundesrepublik aufgestockt und erweitert. Im Gegensatz zur Mehrzahl der damals bereits aus dem Ausland importierten Arbeitskräfte waren die jungen Menschen aus Deutschlands Osten sofort einsatzfähig: Sie sprachen deutsch, sie waren gut ausgebildet und sie waren fleißig. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes „Humankapital”. Die jungen Flüchtlinge, aber auch jene mittleren Alters hatten die Chance, die bestehende Arbeitsmarktsituation zu nutzen und in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Junge Menschen, die studieren wollten, wurden mit Stipendien nach dem Lastenausgleichsgesetz gefördert. Diese Ausgaben machten sich für den Staat bezahlt, denn der größte Teil von ihnen übernahm nach dem Studium Aufgaben in der Industrie oder im Dienstleistungsbereich und trug mit seinen Steuern dazu bei, dass der Staat sich neuen Aufgaben widmen konnte. Es war eine Zeit des allgemeinen Aufschwungs und des Optimismus.

INTEGRATIONSPROBLEME

Ein schwer zu lösendes Problem war der Wohnungsmangel. Er führte auch zu gewissen Spannungen zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den „Zuwanderern”. Viele der „Alteingessenen” waren im Krieg ausgebombt worden, hatten also ihre Wohnungen und ihr Hab und Gut verloren und warteten nun sehnsüchtig darauf, ebenfalls eine neue Wohnung zugeteilt zu bekommen. Man darf nicht vergessen, dass Wohnungen zu jener Zeit noch lange unter Zwangsbewirtschaftung standen. Zuerst wurden allerdings die Vertriebenen und Flüchtlinge bedacht, denn es war das Ziel der Regierung, die Menschen möglichst bald aus den Lagern in „normale” Verhältnisse umzusetzen, und das Entstehen von Notbauten, wie Baracken und Hütten, zu verhindern. Es ist verständlich, dass dies bei denen, die warten mussten, zu Verärgerung führte.

Ansonsten ging die Integration in die westdeutsche Gesellschaft relativ friktionslos vonstatten. Unter den Arbeitskollegen bahnten sich Freundschaften an; viele Vereine für Sport und andere Aktivitäten ermöglichten den Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Integration von dreieinhalb Millionen Menschen aus der DDR und gleichzeitig von Millionen Vertriebenen ist neben dem Wirtschaftswunder das zweite Wunder der Nachkriegszeit. Es war allerdings nur durch den damaligen Wirtschaftsaufschwung mit seinen hohen Wachstumsraten des BIP und durch den Aufbauwillen der neu hinzugekommenen Bürger möglich.

Es sollte nicht vergessen werden, dass viele der Flüchtlinge nach einem gewissen Zeitablauf eigene Unternehmen gründeten bzw. ihre in Sachsen oder Thüringen beheimateten Unternehmen im Westen neu aufbauten. Diese waren großenteils erfolgreich, viele davon bestehen noch heute. Den gleichen Aufbauwillen hatten die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten. Davon profitierten viele Regionen Westdeutschlands, die bis zum Zweiten Weltkrieg weitgehend agrarisch geprägt waren. Der große Industrialisierungsschub, den z.B. Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren hat, ist nicht zuletzt auf die Ansiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen zurückzuführen. Heute ist Bayern neben Baden-Württemberg das wirtschaftlich am besten entwickelte Land der Bundesrepublik. Flüchtlinge und Vertriebene leisteten daher einen erheblichen Beitrag zum sog. Wirtschaftswunder. Bis zum Jahr 1960 belief sich das jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf durchschnittlich 7,6 Prozent, im Jahr 1956 sogar auf 11,5 Prozent. Die wirtschaftlichen Erfolge beflügelten den Optimismus der Menschen im Lande, von dem auch die Flüchtlinge trotz ihrer zunächst schwierigen Situation erfasst wurden.

In jener Zeit gliederte sich die Bundesrepublik auch immer mehr in die internationale Arbeitsteilung ein. Sie konnte das Außenhandelsvolumen von Jahr zu Jahr steigern und eine positive Leistungsbilanz erzielen. Dadurch konnte das Land die Vorteile, die die internationale Arbeitsteilung bietet, zum Wohle der gesamten Bevölkerung nutzen. Die Grundlage hierfür war das von Ludwig Erhard konzipierte und durchgesetzte System der sozialen Marktwirtschaft, dessen Credo lautete: „Der Einzelne muss sagen: Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.”Diese Worte wurden von der großen Mehrzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht nur gehört, sondern zur Maxime des eigenen Handelns.

AUSWIRKUNGEN DER FLUCHTBEWEGUNG AUF DIE DDR

Für die DDR dagegen waren die Auswirkungen der Abwanderung katastrophal. Die Flucht großer Teile der Intelligenz und der ausgebildeten Handwerker und Facharbeiter führte zu einer Senkung des Sozialprodukts und zu einer Verschlechterung der Versorgung. Die offiziellen Planerfüllungsstatistiken sagten zwar das Gegenteil, doch lebte der Staat weitgehend vom Verzehr der volkswirtschaftlichen Substanz. Die Wirtschaft konnte nur durch Kredite aus Westdeutschland in Gang gehalten werden. Das wurde zwar von einigen Staats- und Parteifunktionären erkannt, die erforderlichen Maßnahmen, wie eine grundlegende Reform des Systems, wurden jedoch nicht ergriffen. Im Oktober 1989, also zu einer Zeit, als die DDR direkt vor dem Zusammenbruch stand, beschrieb Gerhard Schürer, der damalige Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, in einem für das Politbüro des ZK der SED erarbeiteten Gutachten die Abwirtschaftung praktisch aller Bereiche der DDR-Wirtschaft und den bevorstehenden Staatsbankrott.Der Verschleiß der volkswirtschaftlichen Strukturen und des Sachkapitals kam nicht von heute auf morgen zustande, sondern war ein Prozess, der sich über Jahrzehnte hinzog. Er fand seinen Ausdruck in einer Unterversorgung der Bevölkerung. Da die Menschen in der DDR jedoch nicht von jedem Kontakt zur westlichen Welt isoliert waren, erfuhren sie durch zu Besuch weilende Verwandte sowie durch das westliche Fernsehen von dem erheblich besseren Leben in der Bundesrepublik. So wuchs der Wunsch nach einem materiell gesicherten Leben in Freiheit. Da Reformen wegen der ideologischen Intransigenz der Staats- und Parteifunktionäre nicht erwartet werden konnten, fassten Tausende den Entschluss, in den Westen zu übersiedeln. Die große Mehrheit der Flüchtlinge waren daher keine wirklich politischen Flüchtlinge, also keine direkt Verfolgten, sie suchten vielmehr ein politisches Regime, in dem sie frei und selbstbestimmt leben konnten. Leider wurde der Ernst der Lage in der Bundesrepublik nicht erkannt, obwohl es spezielle Forschungseinrichtungen gab, die sich mit der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in der DDR befassten. Auch der Flüchtlingsstrom wurde nicht als Warnung einer zumindest langfristig zu erwartenden Katastrophe betrachtet. Im Gegenteil: Beobachter, die in Konferenzen und Publikationen die Lage in der DDR realistisch darstellten, wurden als „kalte Krieger” verleumdet. Selbst in der evangelischen Kirche wurde die DDR als „das bessere Gewissen Deutschlands” bezeichnet.

Dass diese Ignoranz eine Fehlbeurteilung der DDR bewirkte, zeigte sich bei dem Besuch des Bundeskanzlers Willy Brandt im März 1970 in Erfurt. Als Konrad Ahlers, der damalige Pressesprecher der Bundesregierung, am Tag nach der Rückkehr Brandts dem Ost-West-Arbeitskreis des Auswärtigen Amtes, dem ich damals angehörte, berichtete, fasste er das Ergebnis der Reise in die DDR mit den Worten zusammen: „Wir haben gemerkt, dass wir viel zu wenig über die da drüben wissen.” Wäre die Situation eine andere gewesen, und hätte man die DDR nicht noch finanziell unterstützt, wäre das System sehr viel eher zusammengebrochen und viele Menschen hätten ihre Heimat nicht verlassen – zu deren Wohl. Heute müssten nicht Jahr für Jahr achtzig und mehr Milliarden Euro in die neuen Bundesländer transferiert werden.

TROTZ WIEDERVEREINIGUNG: ANHALTENDER „BRAINDRAIN”

Die Abwanderung aus der DDR wirkt sich noch heute im Entwicklungspotential der neuen Bundesländer aus. Diese haben zwar in den vergangenen Jahren wirtschaftlich aufgeholt, aber noch immer nicht westdeutsches Niveau erreicht. Der „Braindrain”, der in der DDR-Zeit begonnen hat, ist noch nicht beendet und wirkt auch nach der Wende fort. Es ist nur allzu bekannt, dass viele Dörfer, ja ganze Landschaften nach wie vor „entleert” werden. Seit Öffnung der Grenzen wanderten 4,1 Millionen Ostdeutsche nach Westen ab. Allerdings gab es auch einen Rückstrom von 2,1 Millionen Personen, was aber die Wirkung der Abwanderung nicht kompensieren konnte. Allein bis zum Jahr 2000 verließen mehr als 570 000 Menschen oder 11,3 Prozent der Bevölkerung Sachsen, in Sachsen-Anhalt waren es fast 9 Prozent Abwanderer. Welcher Staat, welche Region kann das auf Dauer hinnehmen?

Die Freunde der „Gruppe Belter”, der ich angehört habe, sind ein Beispiel dafür, wie die vom Staat gebotenen Chancen genutzt wurden. Sie zeigen aber auch, wie töricht SED und Regierung der DDR waren, als sie uns, ebenso wie viele andere junge, aufstrebende Menschen, verfolgt und dazu gebracht haben, in Westdeutschland eine neue Heimat zu suchen. Die „Gruppe Belter” bestand aus zehn Personen. Herbert Belter wurde zum Tod verurteilt und erschossen. Einer von uns, ein Tischlergeselle, blieb in der DDR und übernahm die Tischlerei seines Vaters. Der Lebensweg der restlichen acht sah nach einem Studium an westdeutschen Universitäten wie folgt aus: Drei wurden Professoren an deutschen Universitäten, einer Finanzchef Europa der Firma Ford, einer Zahnarzt in der Schweiz, einer Direktor bei der Weltfirma BASF, einer wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, einem Beratergremium der Bundesregierung, einer nahm aus familiären Gründen das Studium nicht wieder auf und arbeitete bis zu seinem Tod als Chemiker bei einem großen Unternehmen der chemischen Industrie. Ähnlich war der Weg vieler anderer Kameraden aus meinem Umkreis: Ob Generalarzt bei der Bundeswehr, Gartenbauarchitekt oder frei praktizierender Arzt, Einzelhandelskaufmann oder auch einfacher Arbeiter – alle fanden dank ihres eisernen Lebenswillens und ihres Fleißes den Weg in eine neue Heimat, eine Heimat, die für mich nunmehr Bayern heißt. Die Liebe zu meiner ursprünglichen Heimat, dem Erzgebirge, ist jedoch geblieben, und ich glaube, so geht es allen, die sich im Westen eine neue Existenz aufgebaut haben, die das Glück hatten, in einem freien Deutschland ein zweites Leben zu beginnen. Ich wünschte, dass auch Herbert Belter dieses Glück beschieden gewesen wäre. Wir können ihn nicht vergessen, und wir wollen ihn nicht vergessen; nicht nur ihn, sondern alle Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft. Ich danke der Konrad-Adenauer Stiftung, dass sie die Erinnerung an sie mit Veranstaltungen wie der heutigen wach hält.