Joachim Klose
Die Frage, welche Menschen unsere Demokratie braucht, bezieht sich natürlich zum einen auf das Verhältnis von Mensch und Gesellschaftsordnung. Andererseits richtet sie sich notwendigerweise auch auf die Erziehungsziele unserer Bildungseinrichtungen, denn wir haben ja keine anderen Bürger als jene, mit denen wir zusammenleben, so dass wir nicht auswählen können und auch nicht wollen.
Das politische System hingegen, in dem wir heute leben, haben wir uns tatsächlich im Prozess der Wiedervereinigung „ausgesucht”. Mit Blick auf die vorangegangenen Beiträge fällt sofort auf, dass im Vergleich zum Leben in der DDR erst die heutige Demokratie moderne Lebensformen möglich macht. Dies beinhaltet sowohl die Freiheit individueller Entscheidungen und Handlungen sowie individuelle Verantwortung als auch die Garantie individueller Gleichheit vor Recht und Gesetz mit gleichzeitigem Minderheitenschutz, und schließlich zahllose Formen gesellschaftlicher Vereinigungen, d. h. kollektives und solidarisches Handeln wird auf eine freiwillige Grundlage gestellt (Pluralismus).
Eine Demokratie stellt einen hohen Anspruch an jeden Einzelnen. Dabei ist u. a. das Engagement des Einzelnen Grundlage für weitere Demokratisierungsprozesse. Wie aber werden wir dem gerecht? In einer offenen Gesellschaft kommt der Bildung und Erziehung eine wichtige Rolle zu.
Dabei geht es aber vor allem um die Anwendung von Wissen und nicht um Anhäufung. Es besteht ein Unterschied zwischen der Kenntnis von Naturgesetzen und gesellschaftlichen Regeln und der Anwendung dieser Regeln, d. h. einer toleranten, altruistischen, gerechten und wahrhaft bürgerlichen Haltung, dem aktiven Mittun. Bildung geht es um das Verstehen der Inhalte, die sie zur Reflexion bringt, um das Verändern derjenigen, die sich mit ihnen auseinandersetzen, und um die Handlungen, die daraus folgen.
Bildung ist nützlich, weil Verstehen nützlich ist. „Verstehen” ist aber kein Prozess, der graduell wächst. „Verstehen” ist immer schon ein Verstandenhaben. Es gibt nicht den Moment, des „ich verstehe gerade”. „Verstehen” ist ein Umschlagpunkt vom Unklaren zum Klaren, vom Unverstandenen zum Verstandenen. Im Moment des Verstandenhabens hat sich derjenige, der versteht, verändert. Er ist dann nicht mehr derjenige, der er vor dem Verstehen war. Das Verstandene ist Teil seiner Wirklichkeit geworden.
Nachdenkend fügen wir Erfahrungen und Kenntnisse zusammen. Und wir entdecken in diesem Prozess eine ihm zugrunde liegende tiefere Einheit. Von dieser Einheit fällt neues Licht auf das, was wir schon vorher wussten. Wir wissen es nun auf neue Weise, d. h. wir „verstehen” besser. Dieses Verstehen lässt das Verstandene nicht unberührt.
Jedes Nachdenken zielt in einem dreifachen Sinn auf Einheit:
- Es versucht, unsere eigenen, zunächst oft widersprüchlichen Gefühle,Erfahrungen und Urteile miteinander in einen widerspruchsfreien Zusammenhang zu bringen und sie wechselseitig für das Erkennen der Einheit der Wirklichkeit fruchtbar zu machen.
- Es versucht, die Gefühle, Erfahrungen und Urteile verschiedener Menschen, verschiedener Epochen und Kulturen in einen neuen Zusammenhang zu bringen, zu vergleichen, aufeinander zu beziehen und aneinander zu messen.
- Es versucht, die Phänomene als aus einem gemeinsamen Grund hervorgehend zu begreifen und diesen Grund zu benennen.
Ausgangspunkt dieses Strebens nach Einheit ist die Erfahrung, dass die vielen Ereignisse der Wirklichkeit aus einem einheitlichen Urgrund hervorgehen. Wie wird aber aus dem Wissen von Ereignisketten ein Verstehen, das zur Handlung führt?
Die Antwort auf diese Frage ist unabhängig von der Menge des konsumierten Wissens. Sie hat eher mit Begriffen wie Kreativität, Neugierde, Empathie, Freundschaft und Vorbild zu tun und zielt darauf ab, sich eine eigene Meinung zu bilden, um Position zu beziehen. Im Verstehensprozess wird sowohl die Faktenlage, die im Allgemeinen durch Naturwissenschaft und Technik beschrieben wird, als auch die persönlich-emotionale und gesellschaftliche Situation in den Blick genommen. So müssen auch die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Aspekte näher beleuchtet werden. Hier wird der enge Zusammenhang, der zwischen Wissenschaft, Politik und dem eigenen Leben besteht, sichtbar. Bildung ist die Kunst, Wissen anzuwenden. Gerade diese Erkenntnis scheint in unseren Ausbildungseinrichtungen immer stärker in den Hintergrund zu treten.
Die Umstrukturierung unseres Bildungswesens „zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas als Bildungsstandort weltweit”, wie es in der Berliner Erklärung des Bolognaprozesses heißt, steht im Spannungsfeld von Qualität und Effizienz. So ist der politische Begründungszusammenhang stark von ökonomischen Überlegungen geprägt, während eigenständige kulturelle oder soziale Zielsetzungen des europäischen Hochschulraums vernachlässigt werden. Dies wird schon an der Wortwahl deutlich, die Einzug in die veröffentlichten Dokumente gehalten hat, wie z.B. der Begriff „employability” (arbeitsmarktbezogenen Qualifizierung), der ursprünglich von der europäischen Unternehmerlobby geprägt wurde.
Die Übertragung des Marktprinzips auf den Bereich des Wissens ist ein relativ junges Phänomen. Immer mehr junge Leute fragen sich, was sie davon haben, wenn sie Latein, Griechisch, Philosophie oder Kunst lernen. Zielstrebig orientieren sie die eigenen Lerninhalte an den Bedürfnissen des zukünftigen Arbeitsmarktes. Die Erfahrung, dass Lebenszeit und Weltzeit auf dramatische Weise ungleich groß sind, generiert das Gefühl, möglichst zeitökonomisch zu leben und viel in der Zeit, die einem bemessen ist, erleben zu müssen. Mit der Erfindung des Computers, mit dem sämtliches Wissen an jedem Punkt der Erde verfügbar ist, scheinen Zeit und Raum gestorben zu sein. Zum Ungleichgewicht von Weltzeit und Lebenszeit tritt die unüberwindbare Differenz von Weltwissen und Lebenswissen. Schon lange wurde von dem Gefühl Abschied genommen, dass alles, was es zu wissen gibt, auch gewusst werden kann.
Unterwirft man Bildung marktwirtschaftlichen Prinzipien, wird das ‚lebenslange Lernen’ zur Beschleunigungsfalle, in der man rastlos seiner immer schneller verfallenden Brauchbarkeit hinterher läuft. Die Vorstellung, dass es einem mit Bildung einmal besser gehen könne, löst sich im Bildungsdauerlauf auf. Das lebenslange Lernen wird so zum lebenslänglichen Lernen, das Menschenleben zum endlosen Schülerdasein. Der Mensch wird immer mehr zum ‚Pfadfinder’ auf dem Weg zu sich selbst und zu dem, worin er seine Lebenserfüllung sieht. Weil wir aber wissen, dass wir mehr sind als wir gelernt haben und jemals lernen können, brauchen wir Maßstäbe zur Beurteilung des Wissens. Was ist es also, was wir wissen sollten?
Ob Shakespeare, Molière, Sophokles oder Virgil – Erkenntnisse früherer Epochen werden für einen erst relevant, wenn sie mit der Gegenwart in Bezug gesetzt werden.
Traditionell suchte sich Bildungspolitik ihren Ausgangspunkt in den Fragen der Lernenden:
Was macht das gute Leben aus? Wie kann Menschsein gelingen? Hat die Wirklichkeit ein Ziel? Was ist der Sinn des Lebens?
Bildung spricht den Menschen als Ganzes an und versucht, mittels der Vernunft die Wirklichkeitserfahrungen in ein konsistentes Schema zu vereinen.
Zum Wesen von Vernunft gehört die Bewertung und Integration von Neuem. In ihrer einfachsten Form führen neue Erfahrungen zu Interesse, in ihrer komplexesten zu Handlungen. Bildung setzt Interesse voraus, deshalb ist es eine wichtige Aufgabe in der Erziehung der Jugend, sie neugierig zu machen.
Eine Ursache für die Veränderung der Bildungsziele in der Neuzeit ist im Vernunftbegriff selbst zu suchen. Vernunft ist jetzt nicht mehr ein der Wirklichkeit innewohnendes Prinzip, sondern wird zum subjektiven Vermögen des Geistes. Die neuzeitlich subjektive Vernunft hat es wesentlich mit Mitteln und Zwecken zu tun, mit der Anwesenheit von Verfahrensweisen an Ziele, die mehr oder minder hingenommen werden und sich vermeintlich von selbst verstehen.
Sie stellt sich nicht die Frage, ob die Ziele als solche vernünftig sind, sondern geht vielmehr davon aus, „dass sie dem Interesse des Subjekts im Hinblick auf seine Selbsterhaltung dienen”. Die großen Vernunftsysteme von Platon über die Scholastik bis hin zu Whiteheads spekulativer Kosmologie sind hingegen auf einer objektiven Vernunfttheorie begründet. Ihr Ziel war, „die objektive Ordnung des ‚Vernünftigen’, wie die Philosophie sie begriff, mit dem menschlichen Dasein einschließlich des Selbstinteresses und der Selbsterhaltung zu versöhnen”. Dabei gingen sie davon aus, dass die Vernunft sich in der Natur der Dinge erkennen lässt und die richtige Haltung solcher Einsicht entspricht. Im Brennpunkt dieser Systeme stehen Begriffe, die sich mit dem höchsten Gut, dem Sinnproblem und der Weise, wie höchste Ziele zu verwirklichen seien, beschäftigten. Ursprünglich standen objektive und subjektive Vernunft nebeneinander. Erst in der Gegenwart scheint das Denken die Fähigkeit zu verlieren, integrative Weltanschauungen zu konzipieren. Dies hat zur Folge, dass nicht mehr ersichtlich ist, ob Ziele wünschenswert sind oder nicht. Der Vernunft geht es jetzt nur noch um die Formalisierung der Wirklichkeit und nicht mehr darum, deren Sinn und Zweckhaftigkeit zu verstehen. An welcher Stelle in unserer Gesellschaft wird noch so etwas wie eine einheitliche Weltsicht entworfen und erprobt?
Als der Soziologe Max Weber 1919 gebeten wurde, etwas über „Wissenschaft als Beruf” zu sagen, definierte er in prophetischer Weise einen gesellschaftlichen Zustand, der heute ins allgemeine Bewusstsein gerückt ist. Er formulierte die Metapher von der „entzauberten Welt”:
Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht.
Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: […] dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.
Wer versteht schon die Mathematik hinter einem Versicherungsvertrag, die körperliche Problematik hinter einem Röntgenbild oder den Quellcode eines Computerprogramms? Für Weber war klar, dass jeder Ureinwohner Südamerikas die Werkzeuge seiner Weltverfügung besser versteht als der moderne Mensch, der sich in eine Straßenbahn setzt und eigentlich nicht versteht, wie sie sich in Bewegung setzt.
Die entzauberte Welt lässt sich soziologisch als „Wissensgesellschaft” bezeichnen. Damit ist gemeint, dass die materiale Welt von wissensabhängigen Operationen so durchdrungen ist, dass diese gegenüber anderen Faktoren vorrangig werden. Die Wissensgesellschaft neigt dazu, Ideen zu produzieren, die keinen praktischen Bezug zur Lebenswirklichkeit besitzen.
Das Geheimnis von Bildung ist, deren Inhalte mit Leben zu füllen. Sie müssen mit unserem emotionalen Erleben zusammenhängen, d. h., dass sich Bildung an den Lebensrhythmen ausrichtet. Wissenserwerb ist ja individuell sehr verschieden, aber er verläuft allgemein in drei sich wiederholenden Zyklen, wie Alfred North Whitehead ausführte.
Die Phase der Schwärmerei ist von Neugierde, Interesse und Begeisterung geprägt. Es gibt, wie gesagt, keine geistige Entwicklung ohne Interesse. Vor allem ist diese Phase bestimmt durch Freude an Entdeckungen. Es kommt darauf an, diese Freude im Lernenden zu wecken und sie auf die Schönheit des Kosmos aufmerksam zu machen. Jede Erkenntnisphase ist durch Freiheit und Disziplin gekennzeichnet, aber in der schwärmerischen Phase liegt der Fokus eindeutig auf der Freiheit, das heißt auf der Ausbildung eigener Interessen.
It must never be forgotten that education is not a process of packing articles in a trunk.
Die Phase der Präzision ist begrifflich ausgerichtet. Das freie Assoziieren ordnet sich hier genauen Formulierungen unter. Richtige Vorstellungen
werden von falschen Annahmen unterschieden und formalisiert. Die Phase ist durch Selbstdisziplin und Arbeit geprägt. Der Schlüssel zum Erfolg in dieser Phase ist Geschwindigkeit, Konzentration und die schnelle Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse.
In der dritten Phase, der Phase der Verallgemeinerung, wird das Wissen verallgemeinert und auf andere bisher nicht betrachtete Vorgänge und Gegenstände angewendet. Während die Phase der Präzision sich auf genaues Detailwissen konzentriert, wird in dieser Phase gerade vom Detailwissen abgesehen.
Allgemein ist es das Ziel von Bildung, den Lernenden eine Spezialwissenschaft, eine Technik und allgemeine Ideen an die Hand zu geben, um sie zu befähigen, sich neuen Situationen zu stellen und sie zu meistern. Jedes Fachstudium benötigt parallel ein Studium Generale, jedes Expertenwissen ein Allgemeinwissen.
Wahrnehmbar ist hingegen, dass aufgrund des exponentiellen Wissensanstiegs die Phase der Generalisierung nur eingeschränkt möglich zu sein scheint. Wissen muss aber Unsicherheiten nicht unbedingt minimieren, sondern kann sie auch potenzieren. Das im Expertentum verkörperte Wissen hat heute im Mittel nur eine Halbwertzeit von wenigen Jahren.
Betrachtet man die Anfänge der Wissenschaftsentwicklung in der Neuzeit von Descartes Entdeckung des methodischen Denkens über Galileis und Kopernikus’ Lehre vom Experiment hin zu Francis Bacons Ausspruch „Wissen ist Macht”, so ist eine Bewegung zu registrieren, die von der kontemplativen Wahrheitsschau zur praktischen Weltgestaltungslehre führt, weg von der traditio hin zur innovatio. Dies hat Konsequenzen. Zum einen führt diese Bewegung zur Entfremdung, wie Weber veranschaulichte. Zum anderen führt die Bewegung zur Umkehrung des Zeitverständnisses. Ein sich selbst überholende Zeitverständnis wird zum Kennzeichen der Moderne.
Modern ist, was den Samen der Selbstübersteigung in sich trägt. Modernität bedeutet, dass die Zukunft in die Gegenwart einbricht. Dies war auch schon in der Antike so – Auslöser für das Rezitieren mythologischer Erzählungen waren Verunsicherungen und Zukunftsängste. Man schaute zurück, um sich des Anfanges der Welt zu vergewissern. – Das Einbrechen der Zukunft in die Gegenwart löst heute aber einen Handlungszwang aus. Erst das Kommende legitimiert das Aktuelle. Normativ ist heute nicht mehr das überzeitlich Gültige, sondern die Veränderlichkeit an sich. Dieses neue Zeitgefühl erreicht die Moderne über ihr Basismodul „Wissen”. Wissen verarbeitet vorhergehendes Wissen zu neuem Wissen. Die Bewegung der ständigen Selbstübersteigung ist grundlegend.
Eine besondere Herausforderung bildet dabei die Kehrseite der Wissensgesellschaft. So lässt sich auch eine neue Form der Suche nach bewusster Ignoranz konstatieren. Die entzauberte Welt ruft kulturell wieder nach Verzauberung. Die sich formierende Wissensgesellschaft hat ein Sinnproblem mit sich selber. Ob das Wissen selber wissenswert ist, ob eine vollständig berechenbare Welt sich überhaupt der Berechnung lohnt und ob ein Leben in dieser aufgeklärten Welt einen Sinn hat, ist nicht beweisbar. Die kognitive Sicherheit, Dinge und Abläufe in der gesellschaftlichen Mechanik wirklich zu verstehen, ist längst dem Vertrauen gewichen, dass schon alles gut gehen wird. „Inmitten einer bis zur Sinnlosigkeit aufgeklärten Welt verspricht das Kultische zugleich Ordnung und Faszination”, stellt der Trendforscher Norbert Bolz fest.
Wenn sich die Naturwissenschaften darauf beschränken, einfache Beschreibungsformen zu suchen, sind sie nicht Quelle des Verstehens, das erlaubt, unsere Erkenntnisse in ein Weltganzes einzuordnen. Jede Modellbildung setzt ein metaphysisches Weltverständnis voraus, das unreflektiert in die Betrachtungen mit eingeht. Schon die Beschreibung einer einfachen Teilchenbahn wäre sonst ein unmögliches Unterfangen, da für deren Beschreibung die Vorstellung von einer Einheit benötigt wird. Man nimmt ja niemals die Bahn als Ganze wahr, sondern immer nur einzelne Bahnstückchen.
Wenn wir metaphysische Grundannahmen nicht diskutieren, unterläuft uns der gleiche Fehler wie den Scholastikern, die ihr christliches Vorverständnis nicht reflektierten. Neben dem Erwerb von Spezialkenntnissen ist es also notwendig, philosophische Reflexion in die Curricula der Lernenden einfließen zu lassen.
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit erfolgt durch Bildung mit Hilfe von Wissen, und Lernen ist der Weg dorthin. Bedient man sich nur der Begriffe von Wissen und Lernen, fehlt jedoch das entscheidende qualitative Kriterium. Wissensinhalte bedürfen der sinnhaften Deutung und der Kenntnis ihrer Kontexte, wenn sie ausgewählt werden sollen. Diese Kriterien liefert aber nicht das Wissen, sondern die Bildungsperspektive. Wenn diese fehlt, kennt man nicht nur zu wenige Antworten, sondern man kann auch keine Fragen stellen. Die Wissensgesellschaft benötigt dringend Wissenskanäle, welche in möglichst geschickter Art und Weise die Gebiete der Wissensgenerierung und Wissensnutzung miteinander verbinden.
Je komplexer die Wissensgenerierung ist, desto weniger können Erkenntnisse einzelnen Personen zugeordnet werden. Wissen wird zunehmend von ganzen Forschungsclustern und aus Datenbanken generiert. So zirkulieren Wissensflüsse innerhalb verschiedener Wissenssysteme, aber, wie Niklas Luhmann treffend diagnostizierte, gibt es keine Kommunikation zwischen den Systemen. Es finden zwar Austauschprozesse statt wie zwischen dem Rechts- und Wirtschaftssystem, allerdings ist dies keine Kommunikation im eigentlichen Verständnis, weil die Systeme keinen gemeinsamen Sinn herstellen. Wie kann aber über Systemgrenzen hinaus ‚kommuniziert’ werden?
Lernen und Wissen müssen sich am Selbst- und Weltverständnis des Menschen ausrichten. Die Bildungsaufgabe schließt so die weltanschaulich-religiöse Dimension des menschlichen Lebens unmittelbar mit ein. Ohne kulturelle Durchdringung, ohne glaubende Verantwortung ist die moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gefährdet. Uns geht das Ziel unseres Handelns verloren.
So bekennt Albert Einstein: „Aus der noch so klaren und vollkommenen Erkenntnis des Seienden kann kein Ziel unseres menschlichen Strebens abgeleitet werden. Die objektive Erkenntnis liefert uns mächtige Werkzeuge zur Erreichung bestimmter Ziele. Aber das allerletzte Ziel und das Verlangen nach seiner Verwirklichung muss aus anderen Regionen stammen”.
Bildung und Bildsamkeit beziehen sich heute hauptsächlich auf den Erwerb von ökonomisch verwertbarem Wissen. Von Benjamin Franklin stammt der Ausspruch: „Eine Investition in Wissen bringt noch immer die besten Zinsen.”
Obwohl Wissen selbst immer intentional ist, weil es auf Anwendung ausgerichtet ist, darf Bildung nicht Zielen unterliegen, die außerhalb von Bildung liegen. Bildung benötigt Freiheit.
1959 verfasste Theodor Adorno den Aufsatz zur „Theorie der Halbbildung”. In dem kultursoziologisch ausgerichteten Artikel, der großen Einfluss auf die Pädagogik hatte, konstatiert Adorno eine Bildungskrise. Das Problem liege in der Kategorie der Bildung selbst. „Ihr eigener Sinn kann nicht getrennt werden von der Einrichtung der menschlichen Dinge.”
Bildung, die davon absieht, formuliert Adorno, wird zur Ideologie.
Bildung und Gesellschaft sind aufeinander bezogen. Bildung ist subjektive Zueignung von Kultur. Deshalb müssen die Doppelcharaktere von Bildung und Kultur mitbedacht werden. Bildung hat Freiheit zur Voraussetzung und zum Ziel, gerinnt aber auch zu kulturellem Kapital. Aber aus dem Alltagsleben gerissen und vervielfältigt, nimmt das Kulturgut Warencharakter an. „Daher gibt es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr. In ihrem Ursprung ist ihr Zerfall bereits teleologisch gesetzt.” Die Lösung des Dilemmas liegt in der Rehabilitierung des Bildungsbegriffes: „So ist der Anachronismus der Zeit: an Bildung festhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog. Sie hat keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde.”
Nicht ‚mehr’ Bildung wird benötigt, sondern eine andere Bildung. Die funktionale Verengung von Bildung auf Berufsausbildung sollte man aufsprengen. Bildung ist geprägt von einer ‚nützlichen Nutzlosigkeit’. Solch ein Begriff lässt sich allerdings nur schwer in ein geeignetes bildungspolitisches Instrumentarium umsetzen; hier sitzt der Stachel dieses nichtaffirmativen Bildungsbegriffes. Die Idee, man könne Bildung erwerben, ist falsch. „Bildung lässt sich […] überhaupt nicht erwerben: Erwerb und schlechter Besitz wären eines.” Wissen ist ein Besitz, Bildung eher ein Prozess, der einer Geisteshaltung entspringt.
Bildung bezeichnet die kritische Aneignung von Inhalten, die Kunst der Unterscheidung, was wissenswert und was überflüssig ist. „Bildung und Differenzierbarkeit sind eigentlich dasselbe.” Vor allem benötigt Bildung Zeit. Sie „braucht den Schutz vorm Andrängen der Außenwelt” und widersteht dem Effizienzdenken und Glauben, im schnelleren Lernen liege der Schlüssel zur Bildung. Wenn Bildung in einem größeren Zeithorizont als dem der ökonomischen Nutzbarmachung steht, bedarf die Wissensgesellschaft einer Entschleunigung. Der Fehler der Bildungspolitik liegt darin, dass die Bildung effizienter und doch lebenslang praktiziert werden soll. Aber kostengünstig muss sie sein und deshalb eben doch schneller, da die „Logik des Kapitaleinsatzes durch rational kalkulierte Zeitbezüge gekennzeichnet ist.” Bildung verflüchtigt sich aber durch Beschleunigung und wird zur Halbbildung.
Wir benötigen dringend Pausenzeiten, Abstinenz vom Machen-Müssen. Man braucht Zeit, um sich und seine Sachen zu bedenken. Unterbrechungen ermöglichen Reflexionen. Sie sind die Quelle des kulturellen Lebens. „Sabbatparadox” nennt Leo O’ Donovan, Präsident der Georgetown University, dieses Phänomen. Die Aufhebung des Zwanges zur Nützlichkeit ermöglicht nämlich die Frage nach dem Nutzen des Nutzens.
Durch Bildung erfährt der Mensch, wofür alles Nützliche nützlich ist. Bildung hat überall dort ihren Ansatzpunkt, wo der Mensch etwas wichtiger nimmt als sich selbst. Zum Grundinhalt von Bildung gehört darum nicht nur abstraktes oder akademisches Wissensgut, sondern die Vielfalt der in sich als wertvoll empfundenen Elemente unseres kulturellen Erbes. In der Rede von der ‚Halbwertzeit des Wissens’ wird das Wissen mit Produktionszyklen verwechselt. Natürlich gibt es Wissen, das schnell veraltet, aber wie schnell veraltet das kleine Einmaleins? Basiswissen veraltet so gut wie gar nicht.
Es kommt nicht auf die Menge des konsumierten Wissens an, sondern darauf, dass es angewendet wird. Whitehead gibt zwei Regeln für eine nachhaltige Bildung an die Hand. Es sollten
1.) wenige Fächer unterrichtet werden, diese aber
2.) grundlegend und tiefschürfend.
Weniger ist mehr! Es werden keine Doktoranden benötigt, die intellektuelle Soduko-Spieler sind.
Neben dem Erwerb nachhaltigen Wissens ist es vor allem wichtig, das Lernen zu erlernen, sich einen eigenen Stil anzueignen. Konzentrationsfähigkeit, Fleiß, handwerkliches Beherrschen von Lernhilfen, Selbstdisziplin, die Fähigkeit zur Selbstmotivation und Teamfähigkeit sind ein ganzes Spektrum von Verhaltensmustern, die die soziale Kompetenz betreffen, und Aspekte wie Sorgfalt, intellektuelle Redlichkeit, Ordnung, Klarheitund Schönheit des Gedankens betreffen den Stil, den man sich durch Übung aneignet. Bildung benötigt Gelassenheit, den Sinn für Schönheit und Zeit, um Umwege einzuschlagen.
Ein Grundfehler heutiger Bildungspolitik liegt in der Annahme, dass der Verstand ein Instrument sei, das man erst schärfen muss, bevor man es nutzen kann, dass man im Schul- und Studienalter möglichst viele Aspekte lernen müsse. Der Verstand ist aber immer aktiv und will ständig geformt und zur Anwendung gebracht werden.
Gute Erziehung ist am Ende immer Selbsterziehung. „It is not what they are at eighteen, it is what they become afterwards that matters.”
Universitäten und Schulen helfen dem Beschäftigungssystem, indem sie Bildungsinhalte ausweisen, die dem Gedächtnis, der kulturellen Identität und der Erinnerung dienen. Sie sorgen so für Kontinuität. Die Lehre von Musik, Kunst, Literatur und alten Sprachen nützt aufs Ganze gesehen auch der Wirtschaft. Sie schaffen kulturelle Verortung, Identität und Beheimatung, sodass der Einzelne in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen.
Schulen dienen als Instrument kultureller Selbstdeutung der Entschleunigung. Indem sie aber ständig verwertbares Wissen vermitteln, führen sie auch zur Beschleunigung.
Vielleicht sollte man sich immer wieder vergegenwärtigen, dass sich Berufsfelder zukünftig immer flexibler gestalten und dass unser Ausbildungssystem darauf begrenzt reagieren kann.
Welche Menschen braucht die Demokratie? Mit Robert Spaemann würde ich sagen, im vorgetragenen Sinne gebildete Menschen.
Allgemein ist gebildet, wen es interessiert, wie die Welt aus anderen Augen aussieht, wer gelernt hat, das eigene Blickfeld zu erweitern. „Sich mitzuteilen ist Natur. Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung”, schreibt Goethe.
Fast nichts ist für den Gebildeten ohne Interesse, aber nur weniges wirklich wichtig. Wer gebildet ist, lebt nicht in verschiedenen Welten, so dass er bewusstlos von der einen in die andere hinübergleitet. Was er weiß, hängt miteinander zusammen und wo es nicht zusammenhängt, da versucht er, einen Zusammenhang herzustellen oder wenigstens zu verstehen, warum dies so schwer gelingt.
Gebildete Menschen sprechen zwar oft eine Wissenschaftssprache, aber sie werden nicht von ihr beherrscht. Wer sich nicht traut, einfache Sachverhalte einfach auszudrücken und zu sagen, wie ihm zumute ist, der ist nicht gebildet. Und auch der ist es nicht, der, sobald er die wissenschaftliche Terminologie fallen lässt, in einen erhabenen oder ordinären Ton verfällt.
Der Gebildete kann sich erfreuen an dem, was die Welt ihm darbietet, und braucht nicht viel davon. Wer mit wenig auskommt, hat die größere Sicherheit, dass es ihm selten an etwas fehlen wird.
Der Gebildete hat aber auch ein ausgeprägtes Gefühl für seinen eigenen Wert. Er scheut sich nicht zu werten und beansprucht für seine Werturteile objektive Geltung. Er hält sich für fähig, zu wahren Urteilen zu gelangen, aber nicht für unfehlbar. Das Fremde ist ihm eine Bereicherung, ohne die er nicht leben möchte. Neidlos bewundert er Vorzüge, die er selbst nicht besitzt, denn er gewinnt sein Selbstwertgefühl nicht aus dem Vergleich mit anderen. Er fürchtet auch nicht, durch Dankbarkeit in Abhängigkeit zu geraten, und er zieht das Risiko, enttäuscht zu werden, der Niedertracht vor, anderen zu misstrauen.
Letztendlich ist auch er nur einer von vielen, deshalb nimmt er sich selbst nicht so ernst. Vor allem weiß er, dass Bildung nicht das Wichtigste ist. Bildung schafft eine menschenwürdige Normalität. Sie bereitet aber nicht auf den Ernstfall vor und entscheidet nicht über ihn. Wichtig ist ihm die Freundschaft, besonders die Freundschaft mit anderen Gebildeten. „Gebildete Menschen haben aneinander Freude, sagt Aristoteles. Überhaupt haben sie mehr Freude als andere. Und das ist es, weshalb es sich […] lohnt, in Bildung zu investieren.”
Wer immer nur durch das Leben surft, in der Stromlinie bleibt, um mit maximaler Geschwindigkeit vorwärts zu kommen, läuft Gefahr die Bahn zu verlieren. Junge Menschen, die sich in ihrer Ausbildung nicht ausschließlich an dem Ziel orientieren, später eine bestimmte Arbeitsstelle auszufüllen, sondern sich von ihrer Neugierde leiten lassen, besitzen einen großen Vorteil: In dem Wunsch die Welt zu verstehen, verstehen sie auch, warum manche Dinge sich anders entwickeln als sie sich vorstellten. Dies ist für sie kein Grund in Sinnkrisen zu fallen.
Im Gegenteil, die Unvollkommenheit unserer Gesellschaft ermutigt sie, diese aktiv mitzugestalten und Verantwortung zu übernehmen.