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Die Universität Leipzig im Spannungsfeld von „bürgerlicher Wissenschaft“ und sozialistischer Umgestaltung

Allgemeine und fachspezifische Aspekte*

Ulrich von Hehl


Neben dem einführenden, stärker die allgemeinen Linien ausziehenden Beitrag von Siegfried Jenkner konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die Entwicklung an der Universität Leipzig. Sie wird am Beispiel der Geschichtswissenschaft und der Germanistik näher betrachtet, zweier Fächer, denen schon in der ersten deutschen Diktatur eine „genuine politische Legitimationsfunktion“ zugedacht gewesen war, die vice versa, wenngleich mit gewissen Veränderungen, auch unter dem SED-Regime weitergalt. Zuvor indes sind in aller Kürze die allgemeine Situation der Alma mater Lipsiensis nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ und jene frühen Schritte eines „sozialistischen“ Umbaus der Universität in den Blick zu nehmen, die wir verhüllend auch als „erste Hochschulreform“ bezeichnen. Mit anderen Worten: Es ist der Hintergrund zu schildern, vor dem dann die spezifische Entwicklung der genannten Fächer zu betrachten ist.

I.

Das Ende des Dritten Reiches kam für die Angehörigen der Universität Leipzig nicht plötzlich und unerwartet. Als die Amerikaner am 17. April 1945 ihren Angriff auf Leipzig begannen, die Stadt bis zum 19. des Monats ohne nennenswerten Widerstand besetzen konnten und einen Tag später die letzten deutschen Verbände kapitulierten, war der Krieg auch für die Universität zu Ende. Institutionell war sie bis zuletzt funktionsfähig geblieben, wenn auch mit vielerlei Einschränkungen; noch zum WS 1944/45 hatten sich 285 Studierende immatrikuliert, und bis zum Einmarsch der Amerikaner wurden akademische Prüfungen abgehalten. Baulich dagegen war die Universität eine Trümmerwüste. Nun stand sie, „erlöst und vernichtet in einem“, vor völlig neuen Herausforderungen.

Manche besonders systemnahe Professoren, so der Indogermanist Heinrich Junker, der Zeitungswissenschaftler Hans Amandus Münster, der Ordinarius für Pflanzenbaulehre Josef Knoll oder der quellenbewußte Historiker Erich Maschke, waren möglichen späteren Rechtfertigungsproblemen dadurch zuvorgekommen, daß sie ihre Personalakten vernichtet oder zumindest gesäubert hatten. Aber im großen Ganzen blieben die u. k.-gestellten Professoren und die noch in Leipzig weilenden Studenten in der Stadt, auch wenn, wie sich bald herausstellte, die Universität vorerst geschlossen blieb. Der grundlegende Personalverlust von ca. 84 Prozent, den die sächsischen Hochschulen bis zum Jahreswechsel 1945/46 erlitten, vollzog sich vor allem von Mai bis Dezember 1945, nicht hingegen in der Zeit von Januar bis zum Kriegsende. Er umfaßte allerdings auch „kriegsbedingte Abgänge“, die erst nach und nach bekannt wurden.

Nach Suspendierung der alten Führungsmannschaft gestattete die amerikanische Besatzungsmacht schon am 16. Mai 1945 die Neuwahl eines Rektors, des Archäologen Bernhard Schweitzer, der durch schriftliche Umfrage unter allen ortsanwesenden Professoren gewählt wurde, da das Besatzungsrecht eine Senatssitzung nicht gestattete. Prorektor wurde der Physiker Friedrich Hund. Als neue Dekane traten Heinrich Bornkamm (Theologie), Heinrich Otto de Boor (Juristenfakultät), Karl Thomas (Medizin), Erwin Ackerknecht (Veterinärmedizin), Hans Georg Gadamer (Philosophische Fakultät I) und Heinrich Schmitthenner (Phil. Fak. II) ihre Ämter an. Bornkamm und de Boor hatten schon der alten Universitätsleitung angehört. Alle galten als „politisch unbelastet“ – ohne daß bereits eine politische Sprachregelung für dieses Problem existiert hätte.

Krause nennt in seiner Überblicksdarstellung etwa zehn Verhaftungen „nazistische[r] Hochschullehrer“ durch die Amerikaner. Hierzu zählten der Wirtschaftswissenschaftler Karl Bräuer, die Mediziner Max Hochrein und Josef Vonkennel sowie der Zeitungswissenschaftler Hans Amandus Münster. Sie wurden aus dem Universitätsdienst entfernt, aber alle Verhafteten, auch wenn sie bei Abzug der Amerikaner aus Leipzig in deren Besatzungszone verbracht worden waren, scheinen binnen Jahresfrist wieder auf freien Fuß gesetzt worden zu sein. Überhaupt haben die Amerikaner die politischen Säuberungen eher nachlässig betrieben. Schweitzer nennt in seinem späteren Erinnerungsbericht 15 Entlassungen. Er selbst verfolgte den eigentümlich weltfremden Plan einer universitären Selbstreinigung, der allenfalls auf dem allzumenschlichen Feld der Denunziation hätte funktionieren können.

Ein besonderes Schicksal erwartete eine Gruppe von ca. 40 Dozenten, meist Naturwissenschaftlern, die als „Spezialisten“ mitsamt ihren Familienangehörigen und technischen Mitarbeitern von den Amerikanern deportiert und nach Weilburg an der Lahn verbracht wurden. Die Federführung lag beim amerikanischen Geheimdienst CIC (Counter Intelligence Corps). Die meisten von ihnen verblieben später freiwillig im Westen, nachdem die sowjetische Besatzungsherrschaft inzwischen ihre Schatten warf. Sie führte in der zweiten Jahreshälfte 1945 u. a. zu rigorosen pauschalen Entlassungen aller ehemaligen Mitglieder von NS-Organisationen.

Nur wenige der NS-Geschädigten kehrten nach Kriegsende an die Universität Leipzig zurück. Zu ihnen zählen der Agrarwissenschaftler Hans Holldack, der Jurist Erwin Jacobi und der Sinologe Eduard Erkes, dem unter den neuen SED-Machthabern ein steiler Aufstieg bevorstand. Andere wie der exilierte Staatswissenschaftler Gerhard Kessler gerieten in das Räderwerk der SMAD-Verwaltung und wurden mit einem Ehrendoktor in absentia abgespeist.

Die Universität selbst blieb für den Rest des Jahres 1945 geschlossen. Als sie nach mancherlei Schwierigkeiten am 5. Februar 1946 wiedereröffnet wurde – bezeichnenderweise nicht in der erhalten gebliebenen Universitätskirche, sondern im größten Kino der Stadt, dem Capitol, zeichnete sich bereits ab, daß an die Stelle der erst durch den Krieg beseitigten NS-Diktatur ein zweites totalitäres Regime getreten war.

Schon das vergleichsweise späte Datum der Wiedereröffnung läßt erkennen, daß die sowjetische Besatzungsmacht künftig das Heft in der Hand hatte; ihr waren nicht allein die Personallisten der Dozentenschaft, sondern auch die Verzeichnisse der Studierenden vorzulegen, deren Auswahl künftig verstärkt nach Herkunftskriterien aus der Arbeiter- und Kleinbauernschaft erfolgen sollte. Die mit der Hochschulpolitik befaßten SED-Organe hielten hierfür die Zauberformel „Brechung des Bildungsprivilegs der Ausbeuterklasse an der Hochschule“ bereit, womit das Bürgertum gemeint war, das in Deutschland traditionell, häufig unter großen eigenen Entbehrungen, den akademischen Nachwuchs stellte und dessen Studium finanzierte. Rigoros war auch die Vorgehensweise gegen tatsächlich oder angeblich NS-Belastete: Nach dem erwähnten personellen Aderlaß durch die Amerikaner, dem entsprechende russische „Kopfjagden“ folgten, kam es im Herbst 1945 zur Entlassung zahlreicher politisch belasteter Dozenten. So standen bei Wiedereröffnung der Universität von den bei Kriegsende vorhandenen 187 Professoren nur noch 44 zur Verfügung.

Bei allen Bestrebungen der neuen Machthaber, das gesamte Bildungswesen und damit auch den Hochschulbereich nach den „Grundprinzipien der antifaschistisch-demokratischen Reformen“ (Georgi Dimitrov) umzugestalten, nötigten daher schon personelle Engpässe die neuen Machthaber zur Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Kräften. Somit wurde einstweilen auch der traditionelle Aufbau der Universität (Leipzig) beibehalten: So wie der neue Rektor Hans-Georg Gadamer ein dezidiert „bürgerlicher“ Gelehrter war, so blieb auch die Mehrheit der Professoren und über einen längeren Zeitraum auch noch die der Studenten „bürgerlich“ geprägt, was freilich keineswegs bedeutete, daß Sowjetische Militäradministration (SMA) und SED sich von aufmüpfigen Studentenvertretern oder couragierten Verfechtern eines weltanschaulichen Pluralismus hätten von ihrem Kurs abbringen lassen: Ihr brutales Vorgehen gegen jedwede studentische Aufsässigkeit in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren wird ja noch in anderen Vorträgen behandelt.

Da mit Repression allein das Ziel einer sozialistischen Umgestaltung der Universität nicht zu erreichen war, griff die im Auftrag der SMAD amtierende Landesverwaltung Sachsen auch zu anderen Mitteln. Hierzu zählt ihre Verordnung vom 12. Februar 1946 zur Gründung von Vorstudienanstalten, auf denen politisch zuverlässige Bewerber aus werktätigen Schichten in einem verkürzten Ausbildungsgang auf ein künftiges Studium vorbereitet werden sollten. Ein erster Kurs mit 225 Teilnehmern wurde bereits am 1. März 1946 an der Leipziger Volkshochschule eröffnet. Jenseits allen ideologischen Ballastes läßt sich diese Initiative durchaus als ein erster Schritt zur – wie Siegfried Hoyer es nennt – „Demokratisierung der Bildung“ verstehen. Weniger eindeutig ist es mit der zur Begründung angeführten politischen Diskreditierung breiter bürgerlicher Schichten durch den Nationalsozialismus bestellt, denn diese Diskreditierung betraf – gerade in Sachsen – die Arbeiterschaft nicht minder: Letztere war in toto so wenig ein Herd des Widerstandes gewesen wie nahezu alle anderen Teile der Gesellschaft, was einzelne Widerstandszirkel selbstredend nicht ausschließt.

Eine spezielle Bedeutung für die Herausbildung des Studenten „neuen Typs“ hatte auch die neu errichtete Pädagogische Fakultät, bei deren Gründung und deren praktischer Arbeit der Philosophischen Fakultät und dem wieder an ihr lehrenden Theodor Litt nur eine Statistenrolle zugebilligt wurde. Bezeichnend auch, daß mehr als zwei Drittel der am 1. Oktober 1946 das Studium aufnehmenden 163 Lehramtsstudenten Mitglied der SED waren, also künftig im Sinne der neuen Machthaber zu wirken versprachen. Als die Pädagogische Fakultät 1955 wieder aufgelöst wurde, wurden ihre Reste als „Institut für Pädagogik“ in die Philosophische Fakultät überführt, doch da hatte Litt nach zermürbenden Zusammenstößen mit den neuen Machthabern die Universität Leipzig schon lange verlassen, um mit dem 1. Oktober 1947 ein Ordinariat in Bonn zu übernehmen, wo er ohne erneute politische Drangsalierung lehren konnte.

Von entschieden antibürgerlicher Stoßrichtung war ferner die am 5. März 1947 konstituierte Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät (Gewifa), die den Worten Walter Markovs zufolge „als Kampfinstrument gegen Reaktion und für den Fortschritt“ vorgesehen war. Schon durch ihren Auftrag – die Infiltrierung der Studenten im Sinne der SED und die Unterminierung der „bürgerlichen Universität“ – war sie zeit ihres Bestehens (bis 1951) ein Fremdkörper in der traditionellen Universität. Manche kritischen Geister, die zeitweilig an ihr lehrten, sahen sich bald in ihren Zweifeln bestärkt und gingen bei erster sich bietender Gelegenheit in den Westen wie z. B. Rektor Gadamer oder der eben genannte Theodor Litt; andere „bürgerliche“ Wissenschaftler wie Erwin Jacobi, der wie Litt von den Nazis aus dem Amt gedrängt worden war, entschieden sich für das Bleiben, obwohl sie aus ihren Vorbehalten gegen die SED kein Hehl machten; wieder andere wie der überzeugte Marxist Walter Markov kamen mit der Parteiführung überkreuz, blieben aber ihrer marxistischen Grundausrichtung treu. Der parteinahe Lehrkörper wurde bei Auflösung der Gewifa auf andere Fakultäten verteilt. Wenn Gottfried Handel der Gewifa bescheinigt, „Bahnbrechendes für die demokratische und sozialistische Erneuerung an der Leipziger Universität und über sie hinaus“ geleistet zu haben, war dies keineswegs nur eitle Selbstbeweihräucherung. Man wird vielmehr konstatieren müssen, daß die Gewifa im Sinne der Machthaber durchaus erfolgreich als Experimentierfeld für die Neuerungen der Hochschulreform von 1951 diente und das bald obligatorische Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium an der Universität Leipzig wirksam vorbereitete.

Als zeitlich letzte der parteipolitisch gewollten Neuerungen ist endlich die am 1. Oktober 1949 gegründete Arbeiter- und Bauernfakultät zu nennen. Auch ihr war in erster Linie die Aufgabe zugedacht, der Universität neue, regimekonforme Bildungsschichten zu erschließen. Ihre Absolventen stammten aus eher bildungsfernen, aber sozial und politisch genehmen Bevölkerungskreisen; sie konnten in einem dreijährigen Vorbereitungsstudium die Hochschulreife erwerben. Die Zahl der Fakultäten stieg damit auf neun an.

Insgesamt läßt sich für die erste, bis etwa 1951/52 reichende Phase sozialistischer Hochschulpolitik an der Universität Leipzig feststellen, daß trotz dieser Neugründungen der traditionelle Aufbau der Universität noch weithin beibehalten wurde. Allerdings fällt eine deutliche Verstärkung des direkten und indirekten Staats- oder, besser gesagt: Regime-Einflusses auf. Durch ihn wurde der alte korporative Charakter der Universität soweit verändert, „daß nur noch Fassadenreste der traditionellen Autonomie stehengeblieben sind“. Wem die Deutungshoheit dessen, was unter „antifaschistischer“ und „demokratischer“ Erneuerung von Universität und Gesellschaft verstanden wurde, zukam, stand völlig außer Frage oder wurde, wie das Schicksal des studentischen Widerstands zeigt, mit rücksichtsloser Brutalität in Erinnerung gerufen. Ebenso rasch zeigte sich aber auch, daß die SED auf den fachspezifischen Sachverstand „bürgerlicher“ Wissenschaftler (noch) nicht verzichten konnte und daher ihre rigiden politischen Ausschließungsverfügungen schrittweise milderte, wie an der Universität, so in vielen Bereichen der Wirtschaft, der Nationalen Volksarmee und selbst der SED. Hochangesehene Gelehrte oder anerkannte Spezialisten suchte das Regime überdies durch besondere materielle Anreize an Leipzig zu binden, und es war hierbei durchaus erfolgreich. So findet man unter den verbliebenen oder neu nach Leipzig berufenen Gelehrten der späten 1940er und frühen 1950er Jahre bedeutende Namen: Albrecht Alt, Ernst Bloch, Franz Dornseiff, Theodor Frings, Hans Georg Gadamer, Erwin Jacobi, Rudolf Kötzschke, Hermann August Korff, Werner Krauss, Walter Markov, Hans Mayer, von denen einige im Zuge späterer stalinistischer Säuberungen der Universität jedoch wieder den Rücken kehrten. Mit Julius Lips und Georg Mayer amtierten 1949/50 bzw. 1950/63 SED-Mitglieder als Rektoren, die ihre bürgerliche Herkunft nicht verleugnen konnten. Indessen war ebensowenig zweifelhaft, daß seit 1948/49 von der SED ein neuer Weg eingeschlagen wurde, den einer ihrer Funktionäre im Rückblick 1976 als „revolutionär-demokratische Diktatur“ (Dietmar Keller) bezeichnet hat, deren Wurzeln ganz unverkennbar im sowjetischen Stalinismus lagen. Zu ihren hier nicht mehr zu schildernden Auswirkungen zählt nicht allein die Umbenennung der Universität in Karl-Marx-Universität 1953, sondern insbesondere ein rigoroses Vorgehen gegen jedwedes „Abweichlertum“ im Zuge eines stalinistischen Terrors.

In organisatorischer Hinsicht war offenkundig, daß der herkömmliche Kulturföderalismus der Länder und insonderheit die universitäre Selbstverwaltung einem strikt hierarchisch-zentralistischen Steuerungssystem, dessen Fäden bei der Monopolpartei SED zusammenliefen, weichen mußte. Parallel dazu wurde der Einfluß der Partei in den Universitäten selbst systematisch verstärkt. Vollendet wurde die marxistische Durchdringung der Universität in den 1950er und 1960er Jahren, also jenseits unseres Betrachtungszeitraums. Nunmehr war der Sekretär der Universitätskreisleitung und nicht mehr der Rektor das eigentliche Entscheidungs- oder Durchstellzentrum. Der Weg dorthin war durch zahlreiche vorbereitende Maßnahmen gekennzeichnet: durch Umwandlung der Lehrinhalte z. B., durch ein an die Planwirtschaft angelehntes System der Wissenschaftsplanung und, nicht zuletzt, durch einen umfassenden Elitenaustausch. Daß in der unmittelbaren Nachkriegszeit 84,1% der Lehrkräfte als Abgänge zu vermelden waren, war neben „kriegsbedingten“ in erster Linie politischen Entlassungsgründen zuzuschreiben, daneben „intellektuellen Reparationen“ in die amerikanische Besatzungszone und in die Sowjetunion. Doch zogen es auch viele Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft vor, in die Westzonen überzusiedeln. Immerhin 15,3% des Lehrkörpers fielen nach 1945/46 direkten politischen Eingriffen zum Opfer. Eine der Folgen war die Überalterung der verbliebenen Dozentenschaft. Die Suche nach geeigneten Fachkräften blieb seither ein Dauerproblem der Hochschulverwaltung, und zunehmend rangierte die fachliche Kompetenz vor der politischen Vergangenheit. Trotz aller Kompromisse hatte der Personalbestand der sächsischen Hochschulen 1952 erst zwei Drittel des Bestandes vom Sommersemester 1945 erreicht. Im Vergleich mit den westdeutschen Universitäten mußten die sächsischen also einen unverkennbaren Bedeutungsverlust hinnehmen.

II.

In einem zweiten und dritten Teil soll die bislang allgemein geschilderte Entwicklung an fachbezogenen Ausführungen verdeutlicht werden, nämlich an der Leipziger Geschichtswissenschaft, die sich aus naheliegenden Gründen besonderer Aufmerksamkeit der SED-Machthaber erfreute, und, etwas knapper, an der Germanistik.

Die Haltung der Historiker gegenüber dem NS-Regime war, alles in allem genommen, durch jene „Ambivalenzen und Unklarheiten“ gekennzeichnet gewesen, „wie sie insgesamt typisch sind für die vorherrschende Positionierung der deutschen Geschichtswissenschaft in dieser [ersten] totalitären Phase“. Dabei hatte sich, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, opportunistische Anpassungsbereitschaft in politicis mit der Verteidigung hoher fachwissenschaftlicher Standards und universitärer Autonomie in bezeichnender Weise verbunden. In der akademischen Lehre hatte während der letzten Kriegsjahre allerdings nur noch ein Notbetrieb aufrechterhalten werden können.

Sämtliche historischen Institute hatten nach dem schweren Luftangriff vom 4. Dezember 1943 „Totalschaden“ gemeldet. Vor allem die wertvolle Bibliothek war ein Opfer der Flammen geworden. Erst im Juli 1945 erhielten die Historiker in Räumen des ehemaligen Amtsgerichts im Peterssteinweg eine neue, behelfsmäßige Unterkunft.

Das Lehrpersonal war bei Kriegsende und Schließung der Universität auf eine Rumpfmannschaft zusammengeschmolzen. Von den Ordinarien war nur noch der Mediävist Erich Maschke am Ort; er galt aber den Sowjets, die Anfang Juli auch in Leipzig die Besatzungsherrschaft übernahmen, wegen seiner Parteinähe als nicht länger tragbar und wurde Mitte November 1945 aus seinem Amt entfernt. Der Neuhistoriker Otto Vossler hatte zwischenzeitlich einen Ruf nach Frankfurt am Main erhalten und kehrte nicht mehr nach Leipzig zurück. Hans Freyer, der ungeachtet seiner jahrelangen Abwesenheit als Leiter des Deutschen Kulturinstituts in Budapest noch immer dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte vorstand, war zwar inzwischen an seinen alten Wirkungsort zurückgekehrt, gehörte aber aufgrund seiner anfänglich bekundeten Sympathie für den Nationalsozialismus zu den „problematischen Fällen“. Trotz seines hohen Renommees als Forscher und akademischer Lehrer und des Umstands, daß er sich der Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Organisationen stets zu entziehen verstanden hatte, wurde er nach Angriffen kommunistischer Intellektueller und Studierender „zum 1. März 1948 aus sämtlichen Ämtern bei der Universität Leipzig entlassen“.

Der Lehrstuhl für Alte Geschichte war seit 1943 vakant; der Extraordinarius für südosteuropäische Geschichte Georg Stadtmüller verblieb nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht in den westlichen Besatzungszonen. Walter Schlesinger, seit 1942 Extraordinarius für Landes- und Volkskunde, fiel im November 1945 gemeinsam mit dem Vor- und Frühhistoriker Bolko Freiherr von Richthofen den rigorosen Personalüberprüfungen zum Opfer. Allein der schon im Emeritierungsalter befindliche planmäßige außerordentliche Professor der antiken Hilfswissenschaften Otto Theodor Schulz überstand die Entlassungswelle und trat vorsichtshalber der KPD bei, wohl um sein Verbleiben im Amt abzusichern. Immerhin gelang zum Jahresende 1945 die Berufung des angesehenen, aber schon über 70jährigen Berliner Papyrologen Wilhelm Schubart auf den Lehrstuhl für Alte Geschichte, so daß bei Wiedereröffnung der Universität am 5. Februar 1946 wenigstens zwei Kollegs mit historischem Bezug angeboten werden konnten, wenn auch unter dem Dach benachbarter Fächer.

Daß die Wiederaufnahme des historischen Lehrbetriebs zunächst sistiert blieb und erst mit dem Wintersemester 1946/47 erfolgen konnte, hing indessen nicht nur mit der desolaten Personallage, sondern vor allem mit der von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in (Ost-)Berlin gewünschten Klärung der politischen Voraussetzungen zusammen. Denn es ging um die Frage, wie ein „vom nationalsozialistischen Ungeist gesäuberte[s] Geschichtsstudium[s]“ künftig an den Universitäten der Sowjetischen Besatzungszone gelehrt werden sollte. Ein erster Meinungsaustausch fand im Mai 1946 in Berlin statt, an dem aus Leipzig neben Rektor Gadamer der fast 80jährige Landeshistoriker Rudolf Kötzschke, der sich aus tiefer Verbundenheit mit seinem Fach hatte reaktivieren lassen, sowie die beiden Privatdozenten Karl Buchheim und Hermann Mau teilnahmen, welch letztere politisch unbelastet und als bewußte Christen Mitglieder der neugegründeten CDU waren. Sie standen für einen politisch-wissenschaftlichen Neuanfang unter nichtkommunistischen Vorzeichen. Beide gingen jedoch nach politischen Auseinandersetzungen 1948 bzw. 1950 in den Westen, wo Mau der erste Generalsekretär des Münchener Instituts für Zeitgeschichte wurde, Buchheim an der Technischen Universität München wirkte.

Dennoch vollzog sich der personelle Wiederaufbau der Leipziger historischen Institute zunächst unter durchaus moderaten Umständen. Nach dem Althistoriker Wilhelm Schubart war es der Fakultät mit der Berufung des Dresdner Neuzeithistorikers Johannes Kühn zum Nachfolger Otto Vosslers, ferner mit der Gewinnung des Direktors des Römisch-Germanischen Nationalmuseums in Mainz Friedrich Behn zum Ordinarius für Vor- und Frühgeschichte sowie schließlich mit der Ernennung des Rostocker Mediävisten Heinrich Sproemberg zum Inhaber des seit 1945 vakanten Lehrstuhls für mittelalterliche Geschichte (1. Januar 1950) gelungen, Gelehrte gewiß schon vorgerückten Alters, aber von ausgesprochen „bürgerlichem“ Zuschnitt für Leipzig zu gewinnen, so daß man, wie Karlheinz Blaschke sich erinnert, zumindest bis Anfang der 1950er Jahre „noch völlig ohne ideologische Verzerrung und in Anlehnung an akademische Lehrer der alten Schule studieren konnte“. Ein dezidiert marxistischer Ansatz gelangte erst durch Walter Markov nach Leipzig, der seit Herbst 1946 als Assistent am Institut für Kultur- und Universalgeschichte tätig war, sich 1947 in einem sehr kurzen Verfahren in Halle habilitierte und seit 1948 als „Professor mit vollem Lehrauftrag“, seit 1949 als Ordinarius (und Direktor des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte bzw. Ko-Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte) bis zu seiner Emeritierung 1974 in Leipzig wirkte. Markov verstand es, sich bald inner- wie außerhalb seines Faches Respekt zu verschaffen und nach und nach einen großen Mitarbeiter- und Schülerkreis um sich zu sammeln. Namentlich als Revolutionsforscher und Autor grundlegender Darstellungen zur Französischen Revolution hat er sich weit über Leipzig hinaus einen Namen gemacht und selbst Anfeindungen seitens der SED überstanden, die den weltoffen-unbequemen, aber überzeugten Marxisten wegen des Vorwurfs des „Titoismus“ 1951 aus ihren Reihen verstieß. Hingegen galt er verbitterten Gegnern wie dem Kötzschke-Schüler Herbert Helbig als Totengräber der Leipziger Geschichtswissenschaft.

Ende der 1940er Jahre mehrten sich die Anzeichen, daß es den neuen Machthabern keineswegs um ein Fortwirken der „alten“, von politisch belasteten Kräften gesäuberten „bürgerlichen“ Universität ging. Der Beginn einer zweiten Periode der DDR-Geschichtswissenschaft, die bis zum Ende der 1960er Jahre reichte und durch strikte Unterwerfung unter die Vorgaben der SED gekennzeichnet war, wird denn auch auf den Zeitraum 1948/1949 datiert. Ein Leipziger KPD-Funktionär und späterer zeitweiliger Volksbildungsminister in Sachsen, Helmut Holtzhauer, hatte den Rektor schon Mitte September 1945 wissen lassen, es komme „nicht nur darauf an, Naziaktivisten unschädlich zu machen“, sondern man müsse auch „die konservativen und reaktionären Elemente des Lehrkörpers“ ausschalten, deren Einstellung erst den Nationalsozialismus ermöglicht habe. Jedenfalls setzte schon bald ein durch Einschüchterungen beschleunigter Exodus bekannter Namen ein. Von den neubestallten Geschichtsordinarien verließ Johannes Kühn nach vorangegangenen Auseinandersetzungen Anfang 1949 die Messestadt, um einem Ruf nach Heidelberg zu folgen. Er erhielt in dem bereits in Leipzig tätigen Walter Markov einen Nachfolger. Nicht wiederbesetzt wurde hingegen trotz aller gegenteiligen Bemühungen der Universität die durch Kötzschkes Tod freigewordenen Professur für sächsische Landesgeschichte. Vielmehr wurde der Dresdner Archivdirektor Hellmut Kretzschmar mit der nebenamtlichen Vertretung der Landesgeschichte (und Historischen Hilfswissenschaften) beauftragt. Er teilte sich auch mit Heinrich Sproemberg in das Direktorat des Instituts für Landes- und Volksgeschichte, bis letzteres, wie übrigens auch das alte Lamprecht-Institut für Kultur- und Universalgeschichte, im Zuge der II. Hochschulreform 1951 seine Selbständigkeit verlor. Mit beiden Instituten wußten die Machthaber „bei der Neugestaltung der Studien nichts anzufangen und rückten deren historisches Anliegen in die Nähe von Feindbildern, die Anfang der fünfziger Jahre in der DDR aufgebaut wurden“.

Jene angedeutete „Neugestaltung der Studien“ hatte bereits frühzeitig einen bezeichnenden Ausdruck in der schon vorgestellten Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät gefunden. Eine ihrer zentralen Aufgaben war ja die Heranbildung eines parteinahen Nachwuchses durch handverlesene, nicht selten universitätsferne Lehrkräfte, die unter den Bedingungen „bürgerlichen“ Wissenschaftsverständnisses schwerlich in ihre Ämter gelangt wären und denen vor allem die Konzipierung eines bald obligatorisch werdenden gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums mit Kernfächern wie dialektischer und historischer Materialismus oder politische Ökonomie oblag.

Daß Absolventen der Gewifa oder der Arbeiter- und Bauernfakultät „einen anderen Geist mitbrachten als die bisherigen Studenten“, bekamen auch die Historiker zu spüren. Vor allem nahmen die Auseinandersetzungen innerhalb der verfaßten Studentenschaft zu, bei der die Vertreter der LDPD und der (Ost-)CDU in den Studentenratswahlen im Dezember 1947 eine Zweidrittelmehrheit behaupten konnten. Als sich der Streit über die leidigen Immatrikulationsbestimmungen im Folgejahr zuspitzte, griff die sowjetische Besatzungsmacht zu und verurteilte den Studentenratsvorsitzenden Wolfgang Natonek zu 25 Jahren Lagerhaft. Insgesamt wurden in den 1940er und frühen 1950er Jahren mehr als neunzig Leipziger Studierende verhaftet, darunter allerdings nur zwei Historiker. Vier wurden hingerichtet, einer kam in der Haft um. Das hierdurch geschaffenen Klima der Einschüchterung verfehlte seine Wirkung nicht, die gewählten studentischen Vertretungen verloren an Bedeutung und beschlossen 1950 ihre Selbstauflösung. Da namentlich das Geschichtsstudium strenger Auslese unterlag, stieg dort der Anteil der FDJ-Mitglieder rasch an.

Alle diese Maßnahmen erweisen sich im Rückblick als Teil einer Strategie, mit der die SED ihren uneingeschränkten Gestaltungsanspruch an den Hochschulen durchzusetzen und den Einfluß „bürgerlicher“ Wissenschaftler schrittweise auszuschalten suchte. Dem diente Anfang der 1950er Jahre auch die sogenannte II. Hochschulreform. Grundlage für sie war die Verordnung über die Neuorganisation des Hochschulwesens der DDR vom 22. Februar 1951, die die Durchsetzung der Parteilinie an den Hochschulen sichern sowie die Forschung und Lehre stärker auf die Inhalte des Fünfjahrplans festlegen sollte. Sie führte zu strikter Verschulung des Studiums durch Einführung des zehnmonatigen Studienjahres mit festem Kurssystem, obligatorischem gesellschaftswissenschaftlichem Grundstudium und einer Vereinheitlichung von Studieninhalten. Innerhalb der universitären Entscheidungswege zielte sie auf Entmachtung der Fakultäten und Institute; verwandte Fächer wurden zu Fachbereichen oder Fachrichtungen zusammengefaßt als neue Keimzelle „für die Ausbildung und Erziehung“. Der starke Ausbau des akademischen Mittelbaus zielte unverhohlen darauf ab, ein Gegengewicht zu den noch überwiegend nichtmarxistischen Ordinarien zu bilden.

An den historischen Instituten führte die II. Hochschulreform zu einer institutionellen Neugliederung, die sich stark an das sowjetische Vorbild mit seiner Trennung von nationaler und internationaler Geschichte anlehnte. Das Historische und das Institut für Kultur- und Universalgeschichte wurden zum Institut für Allgemeine Geschichte zusammengelegt. In seinen vier Abteilungen umfaßte es künftig die Vor- und Frühgeschichte (Prof. Behn), die Geschichte des Altertums (Prof. Schubart) sowie die Allgemeine Geschichte des Mittelalters (Prof. Sproemberg) und der Neuzeit (Prof. Markov). Daneben gab es hilfswissenschaftliche Unterabteilungen in der alten und mittelalterlichen Geschichte (Prof. Schulz und Prof. Kretzschmar). Allerdings wurde die Vor- und Frühgeschichte im Frühjahr 1952 wieder als eigenständiges Institut etabliert. Neu errichtet wurden daneben ein Institut für Deutsche Geschichte, dessen Leitung der 1949 von Potsdam nach Leipzig gekommene Ernst Engelberg übernahm. Der spätere Bismarck-Biograph war während der 1950er Jahre neben Markov zunächst der einzige akademisch vollausgebildete marxistische Historiker in Leipzig, aber entschieden parteinäher und linientreuer als dieser. Diesem Institut wurde auch das alte Kötzschke-Seminar als Abteilung für Deutsche Landesgeschichte inkorporiert, das damit, wie schon erwähnt, seine Selbständigkeit verlor. Ein unvermeidlicher Kotau vor der Besatzungsmacht war endlich die Errichtung eines Instituts für Geschichte der Völker der UdSSR, das 1955 in Institut für Geschichte der europäischen Volksdemokratien umbenannt wurde.

Weitere organisatorische Veränderungen in den Folgejahren lassen erkennen, daß den meist zentralistischen Planungen keine Konzeption zugrunde lag, die sich an spezifischen Fachbedürfnissen orientiert hätte. Als sich nach den Emeritierungen Wilhelm Schubarts (1952) und Otto Theodor Schulz’ (1953) Neubesetzungen als schwierig erwiesen, wurde 1954 kurzerhand dem fachlich allerdings hoch angesehenen Ägyptologen Siegfried Morenz die kommissarische Leitung der Abteilung für Geschichte des Altertums übertragen, die er bis 1957 behielt; 1956 wurde gar der Ausbau der Abteilung zum Schwerpunkt für das Gebiet der DDR beschlossen, ohne daß ein international angesehener Althistoriker für Führungsaufgaben zur Verfügung gestanden hätte. Die gleichzeitig errichtete Abteilung für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Franz-Mehring-Institut verfolgte ein unverkennbar politisches Ziel. Mit der Ernennung Ernst Werners zum Nachfolger Sproembergs (1959) war eine weitere Eckprofessur in parteitreue Hände gelangt. Werner, ein früherer Assistent Sproembergs, der sein Fach gleichfalls von der Pike auf gelernt hatte, vermochte sich in der Folge als einer der Begründer einer marxistischen Mediävistik in der DDR zu profilieren; unter seinem Rektorat (1967–1969) wurde eines der wenigen an das mittelalterliche Leipzig erinnernden Bauwerke, die Universitätskirche St. Pauli, gesprengt. Nach Engelbergs Weggang an die Akademie der Wissenschaften in Berlin übernahm mit dem Frühneuzeitler Max Steinmetz gleichfalls ein überzeugter Marxist die Leitung des Instituts für Deutsche Geschichte. Zu Beginn der 1960er Jahre war somit bis auf Restbestände das „bürgerliche Element“ aus der Leipziger Geschichtswissenschaft verdrängt. Namentlich durch die große Zahl der „zu Assistenten und Aspiranten aufrückenden Studenten weitete sich auch der Einfluß der SED an den Instituten aus“. Wer jetzt in Leipzig studierte, tat dies unter den Auspizien des dialektischen und historischen Materialismus.

III.

In der Leipziger Germanistik gab es 1945 (wie zuvor auch schon 1933) keinen fachlichen Kontinuitätsbruch: Beide Ordinarien, der Altgermanist und Sprachwissenschaftler Theodor Frings, der seit 1927 amtierte, und der Neuphilologe Hermann August Korff, 1925 nach Leipzig berufen, lehrten bis zu ihrer Emeritierung weiter. Sie waren international hochangesehene Gelehrte „bürgerlichen“ Zuschnitts, die auch durch „die bewußten zwölf Jahre“ politisch nicht diskreditiert waren. Schon mangels personeller Alternativen mußte das SED-Regime an ihrem Verbleib interessiert sein, galt es doch sowohl auswärtige Rufe abzuwehren, an denen es gerade bei Frings nicht mangelte, als auch beide Professoren in „antifaschistische“ Bündnisse einzubauen, an denen der „Volksfrontpolitik“ des SMAD in der unmittelbaren Nachkriegszeit gelegen war. Gerade der unermüdliche Organisator Frings wußte von den mancherlei Zugeständnissen des Regimes für seine zahlreichen wissenschaftlichen Unternehmungen bestens zu profitieren; Korff konnte 1953 den abschließenden 4. Band seines vielgerühmten Werkes „Geist der Goethezeit“ präsentieren. Während man im Falle Korffs dessen bevorstehende Emeritierung abwartete, wurde dessen Assistenten Markschies bedeutet, nicht über das erforderliche sozialistische Bewußtsein zu verfügen, um für höhere akademische Weihen in Frage zu kommen. So ging Markschies an die Freie Universität Berlin.

Gewichtige Veränderungen gab es hingegen auf der Ebene der vier Extraordinariate, deren Inhaber ausnahmslos politisch diskreditiert waren und daher entlassen wurden. Ihre Nachfolger, der Nordist und Religionsgeschichtler Walter Baetke, der Niederlandist Ludwig Erich Schmitt, dem seine NSDAP-Mitgliedschaft zeitweise Schwierigkeiten machte, die allerdings durch Protektion Frings’ überwunden werden konnten, der Literaturwissenschaftler Martin Greiner und die Altgermanistin Elisabeth Karg-Gasterstädt, eine langjährige Mitarbeiterin von Frings, waren allesamt „bürgerlich“ geprägt, entsprachen also schwerlich dem Ideal proletarischer Herkunft und sozialistischer Gesinnung. (Greiner und Schmitt verließen in den frühen 1950er Jahren jedoch Leipzig und folgten Rufen auf westdeutsche Ordinariate.) Eine „antifaschistische“ Wende fand somit in der Leipziger Germanistik zunächst nicht statt.

Ein deutlicher Hinweis auf künftig gewünschte Veränderungen war hingegen die 1949 erfolgte Ernennung Hans Mayers zum Ordinarius für Neuere Literaturwissenschaft am Germanistischen Institut. Mayer, der seit 1948 schon als ordentlicher Professor für Kultursoziologie an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät gewirkt hatte, zählte zu jenem Kreis sozialistischer Remigranten, an deren „Anwerbung“ dem Regime so sehr gelegen war, um ein Gegengewicht gegen die „bürgerlichen“ Professoren bilden zu können. In der Tat unternahm Mayer, der von Haus aus promovierter Jurist war, aber in der Literaturwissenschaft seine eigentliche Berufung fand, seine Deutung der Literatur mit der marxistischen Geschichtsphilosophie in Einklang zu bringen. Daß er der künstlerischen Individualität dabei ihr Recht ließ, mußte ihn freilich über kurz oder lang mit literaturpolitischen Doktrinen der SED über Kreuz bringen. Seiner großen Wirkung tat dies freilich keinen Abbruch. Hinsichtlich seiner materiellen und organisatorischen Forderungen gab Mayer sich jedoch sehr „bürgerlich“-kapitalistisch. Er konnte 1951 eine neue Institutsstruktur durchsetzen, in der er eine eigene Abteilung für „Allgemeine Germanistik und vergleichende Literaturgeschichte“ erhielt. Über sein Verhältnis zu seinen Kollegen Korff und Frings wüßte man gern Näheres.

Dennoch: Unabhängige Köpfe waren im sich immer stärker stalinisierenden realsozialistischen System nicht vorgesehen. Seit 1956 von der Staatssicherheit überwacht und verschiedentlich mit Kampagnen überzogen, die sich zu einem regelrechten Kesseltreiben verstärkten, nutzte Mayer 1963 eine Westreise, um sich in die (alte) Bundesrepublik abzusetzen. Auf Professuren in Hannover und Tübingen setzte er seine Tätigkeit fort. Seine Nachfolge in Leipzig wurde unter erkennbar politischen Vorzeichen geregelt. Der 1964 berufene Horst Haase war Spezialist für sozialistische Literatur des 20. Jahrhunderts, also für jenen Bereich, dessen unkonventionelle Behandlung durch Hans Mayer einen Hauptgrund seiner Auseinandersetzung mit der SED gebildet hatte. Haase löste diese Aufgabe offenkundig zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber und wechselte 1969 an das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED. Durch enge Parteiverbundenheit zeichneten sich auch Edith Braemer und Claus Träger aus, letzterer Absolvent der Arbeiter- und Bauernfakultät in Leipzig. Er zählte also zu jenem sorgfältig herangebildeten sozialistischen Nachwuchs, der dazu bestimmt war, einmal die (noch) „bürgerlich“ geprägten Wissenschaftler zu ersetzen. Mit der Emeritierung Korffs 1956 und Frings’ 1957 ging somit eine bedeutende, und zwar „bürgerlich“, d. h. nicht politisch bestimmte Tradition der Leipziger Germanistik zu Ende. Bezeichnenderweise wurde Frings’ Lehrstuhl bis zu seinem Tod (1968) nicht neu besetzt. Erst dann folgten ihm seine Schüler Rudolf Große (Historische Sprachwissenschaft) und Wolfgang Fleischer (Deutsche Sprache der Gegenwart). Die weit über Leipzig hinausstrahlende Wirkung des Faches, wie sie für die Ära Korff-Frings kennzeichnend gewesen war, vermochte die Leipziger Germanistik nicht zu bewahren.

Bibliographische Hinweise:

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