Thomas Ammer
Vermutlich sind die meisten Widerstandsgruppen sowohl unter dem Nazials auch unter dem SED-Regime vom jeweiligen Geheimdienst mehr oder weniger lange vor dem Untergang dieser Diktaturen zerschlagen worden. Der Gruppe „Weiße Rose” um die Geschwister Scholl ist dies ebenso widerfahren wie der unter dem Namen „Eisenberger Kreis” bekannten Widerstandsgruppe in der DDR, der ich angehörte. Viele Überlebende solcher Widerstandsgruppen haben sich nach dem Ende der Diktatur gefragt, ob der Widerstand sinnvoll und wirklich notwendig war. Eine Antwort habe ich in einem Ausspruch des ungarischen Politikers Lajos Kossuth nach der Besetzung Ungarns durch russische und österreichische Truppen 1848/49 gefunden: „Wir haben nicht gesiegt, aber gekämpft. Wir haben unser Land nicht gerettet, aber verteidigt. Wir haben die Tyrannei nicht gebrochen, aber ihren Lauf aufgehalten. Und wenn einst unsere Geschichte geschrieben wird, werden wir sagen können, dass wir widerstanden haben.” Die Widerstandsgruppe „Eisenberger Kreis” entstand im Sommer und Herbst 1953 vor dem Hintergrund einer drastischen Verschärfung der Repression in der DDR. Dazu gehörten Verfolgungskampagnen u.a. gegen noch vorhandene Teile des Mittelstandes (Handwerker, Inhaber kleiner Privatbetriebe, Bauern, Freiberufler), gegen Überreste der Eigenständigkeit der bürgerlichen Parteien LDP und CDU und gegen die Evangelische Kirche. Die Konzentration der Wirtschaftspolitik auf die Schwerindustrie und die Belastungen durch die militärische Aufrüstung seit 1951 führten zum Absinken des ohnehin dürftigen Lebensstandards. Alle Bildungseinrichtungen und die meisten kulturellen Institutionen standen unter dem Druck der dominierenden marxistisch-leninistischen und stalinistischen Indoktrination, die schon seit etwa 1948 von Jahr zu Jahr zugenommen hatte. Diese Ideologisierung hatte insbesondere an den Oberschulen und Hochschulen den „Zwang zur Lüge”, ein erzwungenes Bekenntnis der Schüler und Studenten in Lehrveranstaltungen und Prüfungen, zur Folge. An der Oberschule in Eisenberg standen die meisten der ca. 250 Schüler und auch der Lehrer dem SED-Regime mehr oder weniger kritisch gegenüber, unterlagen aber wie an allen Bildungseinrichtungen dem „Zwang zur Lüge”, zur Anpassung an die herrschende Ideologie. 1952 hatte an vielen Oberschulen und Hochschulen in der DDR eine Kampagne gegen die Junge Gemeinde begonnen, eine lose und nicht organisierte Vereinigung junger evangelischer Christen, die in ihren Zusammenkünften religiöse, geisteswissenschaftliche und kulturelle Themen ohne die marxistisch-leninistische Ideologieschablone diskutierten. Die Kampagne führte in vielen Fällen zur Relegation von Schülern und Studenten, die tatsächlich oder angeblich zur Jungen Gemeinde gehörten. Die von massiver Propaganda gegen die Evangelische Kirche begleitete Kampagne hatte offiziell den Ausschluss der Betroffenen aus der Staatsjugendorganisation FDJ (und damit automatisch aus der Oberschule) zur Folge, wobei man die Zustimmung der Schüler in Mitgliederversammlungen der FDJ durch Manipulation und psychischen Druck bewirkte. An der Oberschule in Eisenberg traf dies vier Schüler, und diese Schüler wurden in einer FDJ-Mitgliederversammlung aus der FDJ ausgeschlossen. Die Versammlung war von SED-Funktionären so überrumpelt und manipuliert worden, dass eine große Mehrheit dem Ausschluss der vier Schüler aus der FDJ zustimmte. Einige Schüler verabredeten im Sommer 1953 zunächst Maßnahmen, mit denen man dem Vorgehen der SED in ähnlichen Fällen begegnen könnte, u. a. durch Übernahme von FDJ-Funktionen und damit der Unterwanderung der FDJ an der Oberschule. Die Umsetzung dieser Unterwanderung füllte die Tätigkeit der Widerstandsgruppe über einige Monate aus. Es gelang uns ohne Schwierigkeiten, die FDJ-Leitung mit unseren Freunden zu besetzen, ebenso gewannen wir in jeder Klasse Vertrauensleute, auf die wir uns gegebenenfalls verlassen konnten. So konnte die Tätigkeit der Partei- und der FDJ-Leitung an der Oberschule bis Anfang 1956 weitgehend lahmgelegt werden.
Besonders unter dem Eindruck des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 kamen wir zu der Erkenntnis, dass das bestehende politische System insgesamt für Repression und Missstände verantwortlich war, dass also Widerstand gegen dieses System und nicht nur gegen einzelne seiner Maßnahmen notwendig sei. Zudem betrachteten wir den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, zum Beispiel die Gruppe der Geschwister Scholl, als Vorbild, und wir wollten uns nicht durch Passivität gegenüber dem SED-Regime an den politischen Verhältnissen in der DDR mitschuldig machen. In den Jahren bis 1955 unternahmen wir einige einfache Propaganda-Aktionen, d. h. Anbringen von Mauerparolen („Wahlen”, „Nieder die SED”, durchgestrichene Sowjet-Sterne, Boykottaufruf zu den Volkskammer-„Wahlen” im Oktober 1954). Ein Beispiel solcher Aktionen war die „Umbenennung” des auf der Saaletalsperre unter dem Namen „J. W. Stalin” verkehrenden Ausflugsschiffs in „Bayern”. Ende 1955 schloss sich dem „Eisenberger Kreis” eine ebenfalls 1953 entstandene Widerstandsgruppe an. In der Nacht zum 21. Januar 1956 setzten wir das Gebäude des Schießstands in der Nähe des Sportplatzes bei Eisenberg, das von der Gesellschaft für Sport und Technik (GST), der Volkspolizei und den Betriebskampfgruppen der SED genutzt wurde, in Brand. Die Aktion, die keinen allzu großen materiellen Schaden verursachte, war als Protest gegen die Bildung der Nationalen Volksarmee (NVA) am 26. Januar 1956 und der damit erwarteten Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gedacht. Im Oktober 1956 wurden nachts an Güterwaggons am Bahnhaltepunkt Hainspitz Parolen wie „Polen ruft Deutschland” und „Freiheit” angebracht. Da die Waggons am nächsten Morgen vor Entfernung der Parolen in den Bahnhof Eisenberg gefahren wurden, konnten die dort wartenden Pendler sie sehen. Der weitgehende ideologische Zusammenbruch der kommunistischen Parteien durch die von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 eingeleitete Entstalinisierung gab dem Widerstand in der DDR, auch in unserer Gruppe, erheblichen Auftrieb. Es wurden nun Überlegungen über politische Nah- und Fernziele angestellt. Die Ergebnisse dieser Diskussionen wurden nicht schriftlich fixiert, aber später vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als „Zehn Punkte-Programm” interpretiert (und so auch in westlichen Publikationen dargestellt). Ungeachtet der sehr unterschiedlichen politischen Positionen der Gruppenmitglieder gab es grundsätzliche Übereinstimmung in folgenden Punkten:
1. Zulassung mindestens einer Oppositionspartei, etwa der SPD, in der DDR. Beseitigung des Anspruchs der SED auf alleinige Machtausübung.
2. Zulassung einer nichtkommunistischen Studenten- oder Jugendorganisation.
3. Auflösung des MfS und Freilassung aller politischen Gefangenen.
4. Wiederherstellung der Privatwirtschaft im Einzelhandel, Handwerk sowie in den kleineren und mittleren Industriebetrieben. Auflösung unrentabler landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG), sofern deren Mitglieder dies wünschen. Die Großindustrie sollte unter staatlicher Kontrolle verbleiben.
5. Beseitigung des obligatorischen Studiums der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften und der russischen Sprache an den Universitäten und Oberschulen sowie Befreiung der Lehrer und Schüler von politischer Bevormundung.
6. Aufhebung der Reisebeschränkungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands.
7. Wiederherstellung der Pressefreiheit, ausgenommen für rechtsradikale oder faschistische Publikationen, vollständige und objektive Information durch Rundfunk und Nachrichtenagenturen.
8. Personen, die an politischen Verhaftungen und an Urteilen in politischen Prozessen maßgeblich mitgewirkt hatten, sollten keinen Einfluss auf die politische Entwicklung in Deutschland haben; soweit sie für Todesurteile verantwortlich sind, sollten sie vor Gericht gestellt werden.
9. Herauslösung der DDR aus dem Warschauer Pakt und Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR.
Unter dem Eindruck der politischen Veränderungen in Polen und des Volksaufstands in Ungarn 1956 verstärkte die Gruppe die Versuche zu ihrer Erweiterung, beispielsweise durch den Aufbau von Stützpunkten an Universitäten. Da einige Mitglieder der Gruppe seit 1954/55 an der Universität Jena studierten, konnten oppositionelle Tendenzen in der Studentenschaft, insbesondere an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen und an der Medizinischen Fakultät, unterstützt werden. Dies geschah u. a. bei den Forderungen nach Abschaffung des für Studenten aller Fakultäten obligatorischen marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums und des Russischunterrichts. Ein führendes Mitglied der Gruppe wirkte bei der Ausgestaltung des Physikerballs am 29. November 1956 durch zahlreiche Kabarettszenen mit kaum verschleierter Kritik an den politischen Verhältnissen in der DDR mit. Im Herbst 1957 wurde der Postversand eines Aufrufs an die Hochschullehrer der Universitäten Jena, Halle-Wittenberg und Leipzig vorbereitet, in dem zur Distanz vom SED-Regime und zum passiven Widerstand aufgerufen wurde. Infolge technischer Probleme wurde der Versand aufgeschoben und konnte wegen der Zerschlagung der Gruppe 1958 nicht mehr ausgeführt werden.2 Bis 1957 konnte das MfS keine brauchbaren Erkenntnisse über den „Eisenberger Kreis” gewinnen. Eine Ursache für die relativ langandauernde Existenz der Gruppe waren konspirative Methoden, wie z.B. ihre Gliederung in mehrere Teile. Die Angehörigen eines Teils kannten nicht diejenigen anderer Teile – eine Regel, die allerdings ab Herbst 1956 nicht mit der notwendigen Konsequenz beachtet wurde. Auch hatte der Eisenberger Kreis so gut wie keine Westkontakte, abgesehen von der Beschaffung von in der DDR verbotener Literatur in West-Berlin. So konnte das MfS durch Verräter in westlichen Nachrichtendiensten nichts über die Gruppe in Erfahrung bringen. Da das MfS aber grundsätzlich von der Existenz einer Widerstandsgruppe in Eisenberg und Jena ausging, versuchte die MfS-Bezirksbehörde Gera (unter Hinzuziehung sowjetischer Berater) mit Erfolg, einen hauptamtlichen Geheimen Mitarbeiter auf die Gruppe anzusetzen. Dieser Geheime Mitarbeiter trat unter der Legende eines westdeutschen Journalisten auf, und er spielte seine Rolle so geschickt, dass er sich für die Zerschlagung des „Eisenberger Kreises” entscheidende Informationen verschaffen konnte. Das MfS konnte von Februar bis April 1958 ca. 30 Personen wegen Zugehörigkeit zu der Widerstandsgruppe oder Verbindungen zu ihr verhaften; 24 von ihnen wurden in vier Prozessen vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Gera wegen „Staatsverrats” oder „staatsfeindlicher Hetze” verurteilt. Die Urteile lagen zwischen eineinhalb und 15 Jahren Zuchthaus. Ende 1963 waren noch drei Verurteilte, die als Anführer der Gruppe galten, in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden in Haft. Sie wurden im August 1964 im Zuge des „Freikaufs” (Freilassung politischer Gefangener aus der DDR gegen Geld- oder Sachleistungen) in die Bundesrepublik entlassen. Einige Mitglieder der Widerstandsgruppe hatten rechtzeitig vor der Verhaftungswelle nach West-Berlin flüchten können oder waren schon früher in die Bundesrepublik gekommen. Durch ihre Berichte wurde viel über die Gruppe im Westen bekannt, so dass auch das SED-Regime die Prozesse nicht völlig verschweigen konnte. Weitgehend vollständige Informationen standen aber erst nach dem Untergang der DDR und der Öffnung des Zugangs zu den MfS-Akten zur Verfügung. Das MfS ging auch nach der Zerschlagung des „Eisenberger Kreises” und ebenso nach der Haftentlassung der letzten drei Mitglieder von einer Weiterexistenz der Widerstandsgruppe aus. Intensiver Überwachung des MfS unterlagen nicht nur die ehemaligen Gruppenmitglieder, die in die DDR entlassen worden waren, sondern auch jene, die in der Bundesrepublik lebten. Es gab sogar einen Entführungsplan im Jahre 1959, den man aber dann fallen ließ. Der letzte Bericht eines in die Bundesrepublik entsandten Spitzels datiert vom September 1989.