Christliche Studenten in der DDR im Spannungsfeld von Religion und Ideologie
Christoph Kähler
VORBEMERKUNGEN
Ohne Zorn und Eifer, sine ira et studio, soll Geschichte dargestellt werden, so verlangt es die Zunft der Historiker seit Tacitus. Einmal abgesehen davon, dass der Altvater der Annalen dies selbst nicht vermochte, weiter abgesehen davon, dass einer wie ich über seine eigene Lebenszeit wohl kaum emotionslos, also ohne Eifer, sprechen könnte, – doch ohne Studium, d. h. ohne Fleiß, Engagement und Betroffenheit dürfte niemanden interessieren, was hier vorzutragen ist. Es wird wohl auch nicht ohne Freude und Zorn, Befriedigung und Trauer abgehen, wenn ich auf die Geschichte und Entwicklung der Evangelischen Studentengemeinden in der DDR (ESG) zurücksehe. Sie bestimmen mich deshalb, weil die Junge Gemeinde und die Studentengemeinde meine Heimat, ihre Mitarbeiter und Pfarrer in der einen oder anderen Form meine Lehrer und Kollegen waren. Es sind die Zeiten, in denen ich jung und oft genug glücklich war; sie waren auch Hoch-Zeiten intellektueller Auseinandersetzungen und des Gewinns an Erkenntnis. Aber wer von Höhepunkten spricht, wird auch die tiefen Täler ins Auge fassen müssen und den Niedergang, von dem die ESG nicht verschont blieb. Subjektive Erinnerung und Anekdotisches gehören schließlich zu den Berichten von Zeitzeugen, also auch zu meinem heutigen Text. Versuchen will ich allerdings, dass ich meine Erinnerungen an konkrete Geschichte mit Dokumenten und Quellen verbinde, um mich zu kontrollieren, zu korrigieren und die subjektive Perspektive zu erweitern.
1. ZWEI BEISPIELE
Einen Kampf um die Köpfe, wie das mir gestellte Thema formuliert, hat es gegeben und er war aufregend und gefährlich. Lassen Sie mich mit zwei Geschichten beginnen, die ich selbst erlebt habe und die exemplarisch einiges verdeutlichen können.
David gegen Goliath
Im Frühjahr 1969 lud der Studentenklub „Rosenkeller” in Jena zu einem seiner auf Jahre hin spannendsten Programmpunkte ein. Der Astronom Hermann Lambrecht, der Professor für Wissenschaftlichen Atheismus Olof Klohr und der frühere, beliebte und bekannte Studentenpfarrer und neugebackene Dozent für praktische Theologie Klaus-Peter Hertzsch sollten miteinander über „Weltall, Erde, Gott” debattieren. Der Rosenkeller war so überfüllt, dass die Ausgesperrten mit einem Balken auf die verschlossene Eingangstür einschlugen. Ihre rhythmischen „Trommelschläge” hatten akustisch und organisatorisch erstaunliche Wirkung. Die Veranstaltung wurde spontan in den größten Hörsaal der Universität verlegt und neu gestartet. Die Absicht des wissenschaftlichen Atheisten war unverkennbar, den Glauben an Gott, den Schöpfer, als Aberglauben zu erweisen. Dabei sollte der Astronom mit „objektiven Argumenten” wissenschaftliche Schützenhilfe leisten. Doch der kam am Ende seines Beitrages noch darauf zu sprechen, dass der Wissenschaftler auch eine Verantwortung für seine wissenschaftliche Arbeit habe. Das bot mir die Gelegenheit, gleich zu Beginn der allgemeinen Debatte die Frage zu stellen, wie denn der Einzelne als Mensch und als Wissenschaftler seine Verantwortung erkennt und bestimmt. Dazu kamen klare, verständliche und gut nachvollziehbare Antworten von dem Theologen. Das Publikum reagierte anerkennend. Der Atheist dagegen flüchtete sich in Phrasen über Verantwortung vor der Gesellschaft, sein astronomischer Helfer verstummte. Bei dem Versuch, die Lufthoheit in der Debatte wieder zu gewinnen, brachte Olof Klohr die Rede auf eine doch offensichtlich lächerliche Vorstellung: Ob es denn wirklich Engel gäbe, die im Himmel flögen? Hertzsch erwiderte mit der Rückfrage: „Könnten wir uns darauf einigen, dass Spra- che regelmäßig mit Bildern arbeite?” Klohr darauf: Das habe der Marxismus nicht nötig, bei ihm gehe es immer nur um nackte, klare Fakten. Und darauf die Frage von Hertzsch: „Beginnt nicht das Kommunistische Manifest mit den Worten: ‚Ein Gespenst geht um in Europa’? Glauben Sie an nackte, faktische Gespenster?” Höllisches Gelächter der oppositionellen Studenten. Auch sonst erwies sich der fast blinde, auf sein Gedächtnis angewiesene Studentenpfarrer als argumentativ haushoch überlegen. So erlebten die jungen Marxisten-Leninisten, die zahlreich erschienen waren, eine vernichtende Niederlage ihres Professors, obwohl sie ihm noch mit unterstützenden Hilfsfragen zur Seite springen wollten. Die Freude der christlichen Studenten aber ließ sich nicht verbergen: Sie hatten einen Sieg Davids gegen Goliath erlebt. Wenige Monate später gab es keinen Lehrstuhl für Wissenschaftlichen Atheismus mehr in Jena, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) hatte ihre Konsequenzen gezogen und Olof Klohr nach Rostock Warnemünde versetzt. Eine vergleichbare Disputation gab es jedoch auch nicht wieder.
Die Intervention der Parteisekretärin
Zwei Lebensstationen und ein knappes Jahrzehnt später war ich Pfarrer in Leipzig. Der „Junge Ehepaarkreis” wurde von mir begleitet. Zu ihm zählten vor allem „Jungakademiker”, wie man damals noch formulierte, die häufig in der ESG zu Hause gewesen waren. Unter ihnen ein leicht skeptischer Naturwissenschaftler mit seiner Frau, der mich aufforderte, ihn vollends vom christlichen Glauben zu überzeugen. Wir waren auf gutem Wege mit- einander, die intellektuelle Herausforderung zu buchstabieren und die Beziehung von Glauben und Wissen zu differenzieren. Da brach das Gespräch abrupt ab. Warum? Mein Partner hatte ein Gespräch mit der Parteisekretärin seiner Einrichtung gehabt. Die bedeutete ihm unmissverständlich, dafür, dass er Ende der 70er Jahre „NSW-Reisekader” werden wolle, gehe er deutlich zu häufig in Kirche und Gemeindehaus. Das saß, die Karriere wurde wichtiger. Wir haben uns nie wieder in der Kirche gesehen und gesprochen. Etwa zwei Jahrzehnte später war ich Zeuge, dass immerhin die Karriere erfolgreich verlaufen war. Der akademische Senat der Universität Leipzig verlieh dem nicht mehr ganz so jungen Wissenschaftler den Professorentitel.
Machtgestützte Gespräche
Dies also zwei Szenen aus dem Kampf um die Köpfe – aus zwei unterschiedlichen Phasen. Sie lassen einige wesentliche Charakteristika dieses Kampfes erkennen: Beide Geschichten erweisen sich als Varianten dessen, was Rudolf Mau in einer genialen Formel zur Charakteristik des DDR-Herrschaftsverhaltens das „machtgestützte Gespräch” genannt hat. Es ging dabei selten allein um Argumente, sondern die Erlkönige von Parteignaden flüsterten wie bei Goethe regelmäßig: „ … und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt” – in der einen oder anderen Form. Die Grundbedingung des Diskurses, dass kein anderer Zwang herrscht außer dem des besseren Argumentes – so von Jürgen Habermas zusammengefasst – wurde willentlich und wissentlich schwer verletzt. Jedes dieser Gespräche konnte zu persönlichen Konsequenzen, zu Folgen für Familienangehörige oder andere „Schutzbefohlene” führen. Der systematischen Aggressivität der einen Seite entsprach die mehr oder weniger ängstliche Vorsicht der anderen. Schon die übliche Frage des Machthabenden: „Woher wissen Sie das?” konnte gefährlich werden, weil westliche Quellen per se als infiziert galten und faktisch nicht angeführt werden durften. Daher war das Hertzsch-Zitat aus dem Kommunistischen Manifest nicht nur geistesgegenwärtig, sondern klug, weil es eine der politisch unverdächtigen Quellen, die „Klassiker”, nutzte. Die Parteisekretärin im zweiten Gespräch ließ sich überhaupt nicht auf Inhalte ein, sondern setzte die Systemwidrigkeit gelebten Christseins als gegeben voraus. Das musste nicht mehr begründet werden. Ihre Sätze ergaben ein klares Ultimatum und Junktim zugleich. Und – sie erzielte einen Erfolg, einen von vielen weiteren. Der Hebel dafür war die Androhung und Verwirklichung beruflicher Nachteile. Besonders fies konnte es dann werden, wenn Kinder betroffen waren, die sich allein in der Schule selbst kaum wehren konnten. Darum war der faktische Zwang zur Jugendweihe in dem sensiblen Alter zwischen allgemein bildender Schule und der weiter führenden Ausbildung flächendeckend so erfolgreich. Denn Eltern scheuten sich regelmäßig, Aufforderungen zur Jugendweihe und zur Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zu verweigern, weil sie Nachteile auf dem beruflichen Weg ihrer Kinder fürchteten. Dieser Zwangscharakter geriet später weithin in Vergessenheit, wie die heutige Beliebtheit der Jugendweihe beweist. Es gab – grob gesagt – eine zunehmende Schere zwischen dem intellektuellen Anspruch der Regierenden an sich selbst (dieser sank beständig) und dem fortlaufenden Erfolg der Entkirchlichung, den sie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit scheinbar minimalen administrativen Mitteln erreichten. Der ehemalige Studentenpfarrer Hertzsch hatte den christlichen Glauben plausibel vertreten, ja einen glänzenden Sieg im Kampf um die Köpfe errungen. Die Zahl der Köpfe in der ESG Jena hat er dadurch nicht gemehrt. Da wirkten die anderen Mechanismen stärker. Beide Erlebnisse gehören verschiedenen Phasen der Geschichte eines Landes an, das gelegentlich als „das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten” bezeichnet wurde. In ihm waren gleichzeitig sehr verschiedene Grade von Zumutungen möglich und erlebbar, so dass die Erfahrungen in einer Region dieses Staates nicht zwangsläufig an anderer Stelle gleichzeitig gemacht werden mussten.
2. KAMPF, ALSO SIEG ODER NIEDERLAGE?
Das Thema, das mir gestellt wurde, führt das Bild des Kampfes ein, das unweigerlich die Bilder von Sieg und Niederlage als Teil seines Metaphernnetzes hervorruft. Das heißt, dass wir uns die Frage ernsthaft stellen müssen, wie sich in der Geschichte der ESG und damit auch in der Geschichte der Evangelischen Kirchen in der DDR Durchbrüche und Erfolge wie Einbrüche und Verluste resümieren lassen. Wie sieht nun die Bilanz aus? Ich gehe zur Illustration wiederum biographisch vor: 1950 ging ich in Naumburg in die erste Klasse der Grundschule. Von ihren 42 Kindern besuchten 40 den evangelischen Religionsunterricht, der „Christenlehre” hieß, aber von uns Kindern weiter oft „Reli” genannt wurde. Zunächst geschah das noch im Schulgebäude, das aber rasch für kirchlichen Unterricht und christliche Mitarbeiter zur verbotenen Zone erklärt wurde. Immerhin gelang mir (und der erdrückenden Mehrheit), meinen Freund Jochen erstmals in die Christenlehre einzuladen. Dort mussten bzw. durften wir viel lernen und eine begabte Katechetin konnte sich sogar Leistungskontrollen mit Zensuren erlauben. Doch nach einem Umzug 1955 erlebte ich in Greifswald nur noch etwa ein Drittel meiner Klassenkameraden in der Christenlehre und Aufzeichnungen im Unterricht waren unüblich geworden. Als ich 1977 in Leipzig selbst Konfirmandenunterricht zu halten hatte, kamen die etwa 15 Jungen und Mädchen aus fünf Schulen und entsprechend vielen Klassen. Wenn man nun noch die knappe und politisch gezielte Zulassung zur Abiturstufe bedenkt, dann wird deutlich, wie knapp die Rekrutierungsbasis der ESG im Lauf der DDR-Geschichte geworden war. Was das bedeutete, lässt sich am Beispiel der Studentengemeinden in Leipzig und Jena vorführen. Als Johannes Hempel Anfang der 1960er Studentenpfarrer in Leipzig war, so berichten Zeitzeugen, nahmen regelmäßig etwa 300 Studenten am Bibelabend teil. Als ich 20 Jahre später mehrfach dorthin eingeladen wurde, referierte ich immerhin vor etwa 100 Studierenden. Zehn Jahre danach, also in den 1990ern, saß ich in Wohnzimmeratmosphäre mit 20–30 jungen Frauen und Männern in einer Runde, obwohl die Studierendenzahlen immens gestiegen waren. Ähnliche Bilder zeigen sich auch an der kleineren Universität in Jena. Dort sammelten sich in meiner Studienzeit, also den sechziger Jahren, bei Klaus-Peter Hertzsch zwischen 80 und 120 Hörer am Bibelabend, während etwa 2006 zu einem Bischofsbesuch 20–30 Interessierte zusammenkamen. Kurz: Wenn man vor allem auf diese Zahlen sieht, dann wird man nicht von einem Sieg im Kampf um die Köpfe, sondern eher von einer verheerenden Niederlage sprechen müssen. Zwar gibt es die DDR nicht mehr, zwar ist aus den Heiratsannoncen der früheren Bezirkszeitungen die gängige Abkürzung „m.l. WA”, das hieß „marxistisch-leninistische Weltanschauung“, völlig verschwunden, doch fehlt heute in der Regel das Konfessionskürzel (ev., kath.) in den Anzeigen ebenso. Zwar verweist eines der wichtigeren Mitglieder der Nachfolgepartei der SED in Thüringen, Bodo Ramelow, demonstrativ auf seine evangelische Kirchenzugehörigkeit. Doch die sowohl in Sachsen wie in der etwa gleichgroßen Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) jährlich um je- weils mehr als 20.000 Mitglieder abnehmende Zahl der Kirchenmitglieder ist auch und vor allem ein Langzeiterfolg der mehr oder weniger aggressiven Kirchenpolitik von Partei und Regierung der DDR. Das gilt auch, wenn nunmehr vor allem der Sterbeüberschuss und die Abwanderung gen Westen die wesentlichen aktuellen Faktoren für den Mitgliederverlust der Kirchen darstellen. Der Kampf um die Köpfe ging zwar vor allem für das politische System verloren. Aber die mittelbaren Kontrahenten, vor allem die zahlenmäßig dominierenden evangelischen Landeskirchen, gewannen wohl einzelne intellektuell Interessierte, büßten dagegen den Großteil ihrer Kirchenmitglieder in einem lähmenden Kampf ein.
3. PHASEN DES KAMPFES
3.1 Der Kampf gegen die führenden Köpfe in den 1950er Jahren
Die erste größere Phase könnte man im Sinne des Themas wohl auch als „Kampf um die Köpfe” definieren, aber vor allem als Kampf um führende Köpfe, also die Evangelischen Studentengemeinden und ihre Pfarrer. Ich habe diese Phase zunächst noch nicht selbst als Beteiligter erlebt, kannte aber einige der Protagonisten und ihre Lebensgeschichte gut aus Zeiten, in denen sie noch nicht literarisch dokumentiert werden durften. Zwei von ihnen und ihre Geschichte möchte ich hier exemplarisch benennen: Johannes Hamel, Studentenpfarrer 1946–54 in Halle, und Georg-Siegfried Schmutzler, Studentenpfarrer in Leipzig 1954–1957. Johannes Hamel kam aus der Studentenarbeit der Bekennenden Kirche, war deren illegaler Vikar, Reisesekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV) und seit 1938 Studentenamtsleiter der Bekennenden Kirche in Halle. Nach der Kriegsgefangenschaft nahm er diese Tätigkeit – nun als Studentenpfarrer – wieder auf. Seine Bibelarbeiten und Predigten waren damals wie später packend und direkt. Sie hatten einen erheblichen Einfluss auf die Studenten und ihre Lehrer. Nicht ganz zu Unrecht wurde er in den späteren Jahren von manchen – durchaus anerkennend – als der „Chefideologe” der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen bezeichnet, um seine Rolle bei der Formulierung von Synodal- und Kirchenleitungserklärungen zu beschreiben. Damit sind seine klaren Fragen an sich selbst und seine Umgebung gewiss nur unzureichend gewürdigt, aber wenigstens sein Einfluss und eine Andeutung des Respekts vermittelt, den man ihm entgegenbrachte. Der damalige Rektor der Martin-Luther-Universität Halle Leo Stern wandte sich 1952 direkt an seinen Genossen Walter Ulbricht: „Die anderen Anlagen betreffen den berüchtigten Studentenpfarrer Hamel, den ich Dir schon vor einem Jahr signalisiert habe. Wenn diesem nicht bald durch Verhaftung oder auf andere Art das Handwerk gelegt wird, kann der Schaden an unserer Universität unübersehbar werden.” Johannes Hamel, den Karl Barth als einen der Propheten in der DDR ansah, ermutigte und rief zu einer Perspektive auf, die sich nicht von den jeweiligen Machthabern die Maßstäbe vorgeben ließ. Gottes Wort hören, ihm zu gehorchen und den Kleinmut fahren zu lassen, hat er wieder und wieder buchstabieren gelehrt. Aus seiner inneren Freiheit resultierte ein Freimut, der die SED provozierte. „Sie waren ja schon immer gegen den Staat!” war, wie er berichtete, ein Vorwurf seines Verhörers, der wohl wusste, wo Hamel im Dritten Reich gestanden hatte. So kam es am 12. Februar 1953 auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen die Junge Gemeinde und die ESG zu seiner Verhaftung und der Vorbereitung eines Schauprozesses, in dem mit Hamel die Evangelische Kirche in der DDR insgesamt getroffen und die Studentengemeinde wie die Junge Gemeinde als staatsfeindliche Organisation „entlarvt” werden sollte. Wie man mit diesem unbeugsamen Menschen umgegangen wäre, wenn es nicht im Frühsommer 1953 einen deutlichen Rüffel der Sowjets an die SED-Führung gegeben hätte, wenn nicht der 17. Juni zu einem taktischen Einlenken der DDR-Führung geführt hätte und wenn sich nicht die EKD-Synode und viele andere für Hamel eingesetzt hätten, ist angesichts der damals herrschenden stalinistischen Methoden gut vorstellbar. Die Konfrontation zwischen diesem willensstarken und theologisch kompromisslosen Vertreter wäre mindestens mit derselben Härte erfolgt, wie wenige Jahre später die Behandlung Siegfried Schmutzlers. Andere Leidensgenossen dieser massiven Kampagne, wie den Brüdergemeine-Prediger Kurt Schumann, traf es mit einer Verurteilung zu sechs Jahren Zuchthaus wesentlich härter. Johannes Hamel jedenfalls entkam nach etwa sechs Monaten Haft noch einmal den Fängen derer, die beim Thema Köpfe eher an Enthauptung als an Argumente dachten. Er blieb aber, wie viele Dokumente aus der DDR-Hinterlassenschaft belegen, ein Hassobjekt der Herrschenden. Die Hallenser Studenten aber wussten, was einem passieren konnte, der sich vor Gott, aber nicht vor Menschen fürchtete. Die vielfach beklagte „Entbürgerlichung der DDR” hatte auch damit zu tun, dass Hamel zwar das Bleiben in der DDR als gottgegebene Aufgabe verstand und predigte. Aber bis 1961 waren es neben Handwerkern und Bauern vor allem Akademiker, die sich und ihre Kinder nicht auf Dauer der Diktatur des Prole- tariats unterwerfen wollten und darum in die Bundesrepublik flüchteten. Wie man allerdings auch in neuerer Literatur nachlesen kann, ist Hamels gelegentlich steile Theologie manchen gegenwärtigen Theologen so unverständlich, dass sie seine kirchlich-theologische Haltung, die sich ihre Themen und ihre Positionen nicht von den politischen Gegebenheiten vorgeben ließ, verkannten und als politische Anpassung fehlinterpretierten. Dabei gehörte er zu den führenden Leuten einer Generation von Theologen, die begreifen mussten, dass sich die historischen Erfahrungen der Bekennenden Kirche nicht ohne weiteres auf die DDR übertragen ließen. Vor allem der Zeithorizont eines sogenannten „1000jährigen Reiches”, das 12 Jahre gedauert hatte, verführte in den Anfangsjahren der zweiten deutschen Diktatur manchen in den Kirchen zu Erwartungen eines baldigen Endes der DDR und der Hoffnung auf ein schlichtes Überwintern. Hamel und seine Freunde drangen darauf, sich nicht innerlich und kirchlich von den herrschenden politischen Bedingungen abhängig zu machen, sondern zur Zeit und zur Unzeit zu hören und zu sagen, was das Evangelium dem verführbaren und trostbedürftigen Menschen sagt – im Osten wie im Westen. Eine monografische Darstellung dieser wichtigen Gestalt fehlt – im Unterschied zu seinem Freund, dem ehemaligen Berliner Studentenpfarrer Siegfried Ringhandt. Dass m. W. keine autobiografischen Texte veröffentlicht sind, wundert mich nicht, denn Johannes Hamel war ein Feind des Selbstruhmes. Länger in Haft und wesentlich weniger geschützt war Georg Siegfried Schmutzler, Studentenpfarrer in Leipzig von 1954–1957. Eine der Denun- ziationen, die zu seiner Verhaftung und dann seiner Verurteilung führte, kam ebenfalls aus dem Raum der Universität – allerdings von einem Theologen, dem das Prädikat Lehrer zu verleihen ich mich scheue. Dem Assistenten Christoph Haufe gebührt der traurige Ruhm, im November 1956 zum Judas an Schmutzler geworden zu sein. Offenbar hat der nie habilitierte Haufe in der ESG den Kern der Theologiestudenten ausgemacht, die gegen seine Haus(!)-Berufung auf eine Professur für Neutestamentliche Wissenschaft votierten. Darum suchte Haufe am 11. November 1956 einen Mitarbeiter der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirkes auf und wies auf die Verschwörung gegen „gesellschaftliche Organisationen” hin, die seiner Ansicht nach von Schmutzler ausgegangen sei. Schmutzler selbst empfand diesen Bericht als die „Initialzündung für die damalige Leitung der SED an der Karl-Marx-Universität … zu ihrer Hetzjagd auf mich, die schließlich in einem Schauprozeß endete, der mir fünf Jahre Zuchthaus einbrachte”. Einzelheiten dieses Schauprozesses und der Demütigungen, die Schmutzler vorher und nachher erleiden musste, können hier nicht ausgeführt werden. In jedem Fall wurde an diesem Prozess überdeutlich, dass die Kraft der Kirchen kleiner und die diktatorische Macht der SED größer geworden war. Auch später noch konnte man ahnen, warum gerade an Schmutzler ein Exempel statuiert werden sollte. Denn er faszinierte Jüngere, wie ich selbst erlebte, noch in späteren Jahren als kirchlicher Lehrer in der katechetischen Ausbildung. Er verfolgte mit Neugier neuere philosophische und theologische Ansätze und konnte sie sich zu Eigen machen. Mit Begeisterung gab er diese Entdeckungen auch weiter. Das mag verdeutlichen, warum die Wahl für den Schauprozess auf diesen Kopf fiel, warum dieser Mann stellvertretend für die anderen Studentenpfarrer, ja für die ganze Kirche „seinen Kopf hinhalten” musste. Der sächsische Landesbischof habe nach der Haft, so berichtet Schmutzler in seinen autobiografischen Skizzen, ihn begrüßt mit der Frage: „Bruder Schmutzler, können Sie uns vergeben?” Sein Prozess fiel in die Zeit der größten Austrittswellen aus der evangelisch-lutherischen Landeskirche, der aggressiven Propaganda für die Jugendweihe und der Erpressung der Eltern und Jugendlichen durch Ausbildungsverweigerungen, d. h. in eine Zeit, in der die beiden großen Kirchen der DDR ihre Ohnmacht und ihr Scheitern begreifen mussten. In dieser ersten Phase gab es zwei kirchliche Ziele, die Erhaltung der Volkskirche und die Treue zum Bekenntnis. Beide konnten mit guten Gründen vertreten werden, obwohl sie sich aber im Umgang mit erpressbaren Gemeindegliedern und mit den staatlichen Repressalien erheblich unterschieden. Denn einerseits galt für sehr viele Theologen und Gemeindemitglieder der Kampf der Bekennenden Kirche im „Dritten Reich” ohne Frage als das Vorbild, dem die Kirchen in der DDR folgen sollten. Andererseits gingen viele von ihnen gleichzeitig davon aus, dass die Evangelische Kirche selbstverständlich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung umfasste und weiterhin umfassen werde, also in diesem Sinne Volkskirche sein und bleiben werde. Doch zunehmend sollte sich gerade an der Jugendweihe erweisen, dass beide Ziele so sehr im Konflikt lagen, dass sie vor die Alternative führten, entweder die kleine Schar der Bekenner in relativer Kompromisslosigkeit zu vereinen oder in relativ großer Kompromiss- bereitschaft die Volkskirche zu retten, so gut es eben möglich war. Für beide Positionen lassen sich Landeskirchen benennen, die tendenziell eher dem einen oder eher dem anderen Modell folgten. Die strengere Variante fand z. B. in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens ihre Vertreter, die kompromissbereitere in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen. Ein Urteil über den „Erfolg” solcher Haltungen lässt sich kaum fällen, da die staatliche geforderte und geförderte Entkirchlichung in der einen wie in der anderen Landeskirche ähnlich gravierend war und ist.
3.2. Nach dem Mauerbau 1961
Geschichtliche Wandlungen gehen langsam vonstatten und setzen nicht abrupt mit dem Datum ein, das einer historischen Phase die Zäsur gibt. Wir haben aber schon kurz nach dem Mauerbau am 13. August 1961 so etwas wie eine Lähmung erfahren und uns die Frage stellen müssen: Wie geht es jetzt weiter, wo wir „lebenslänglich” haben?
Auch dazu zunächst Autobiographisch-Anekdotisches: Es war im Jahre 1965. Wolf Biermann sang im Februar in der Mensa der Universität Jena – wohl zum letzten Mal öffentlich – seine Lieder. Er hoffte, ich habe es mit anderen Mitgliedern der ESG selbst gehört, noch auf seinen Wiedereintritt in die SED und erreichte mit seiner Widerborstigkeit doch nur das unbe- grenzte Auftrittsverbot. Wir fühlten uns in der Ablehnung des DDR-Systems bestätigt, aber die sozialistische Hoffnung des Liedermachers war uns noch sehr fremd. Der Graben selbst zu diesem oppositionellen Marxisten war noch breit. Ähnlich war es wenige Wochen später, bei der ost-westlich beschickten sogenannten Kleinen Arbeitskonferenz der Evangelischen Studentengemeinden (KLAK) in Berlin-Weißensee. Wir wehrten uns noch in geradezu orthodoxer Weise gegen alle marxistischen Zumutungen. Es galt Studenten aus Tübingen und Heidelberg wie aus Jena und Halle als auf ewig ausgemacht, dass die optimistische Anthropologie vom guten, durch Arbeit definierten und in der sozialistischen Gesellschaft befreiten Menschen schlichtweg falsch sei. Das biblische Menschenbild des gerechtfertigten Sünders sei dieser Utopie haushoch überlegen und meilenweit von allem trügerischen Optimismus entfernt. Solche klaren Grenzziehungen änderten sich mit dem Herbst 1967. Freunde aus Westberliner Studentengemeinden berichteten nicht nur von dem akademisch-zivilen Ungehorsam, mit dem sie die universitären Konflikte inszenierten und Mitbestimmungserfolge erreichten. Sie brachten nicht nur Leibfrieds „Wider die Untertanenfabrik. Handbuch zur Demokratisierung der Hochschule”18 mit; darin enthalten die ersten Habermas-Texte, die ich zu lesen bekam. Vor allem jedoch infizierten sie uns – mit Marx, selbstverständlich dem jungen Marx. Die „Pariser Manuskripte” waren in der DDR bis dahin nur einmal, dazu noch getrennt, publiziert und längst vergriffen. Die alte Marx-Engels-Gesamtausgabe der im Osten nur so genannten „ökonomisch-philosophischen Manuskripte“, 1932 in Moskau ediert, ließ sich in den Bibliotheken nur mit gesonderter Erlaubnis ausleihen! Nun lasen wir sie – mit roten Ohren – in Rowohlts Klassikerausgabe und bildeten in der Greifswalder ESG einen Arbeitskreis, der sich Tage und Nächte an der Kategorie „Entfremdung” abarbeitete. Plötzlich ging uns auf, dass die stalinistischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus vielleicht doch nicht alles darstellten, was nach einem Jahrhundert von dem Sozialwissenschaftler aus Trier zu lernen, zu bedenken oder abzulehnen war. Damit lag für potentielle Nonkonformisten ein Instrument bereit, mit dem der real-existierende Sozialismus aus seinen eigenen Quellen kritisierbar wurde. Denn es stellte sich die Frage, ob und wie sehr reale Entfremdungserfahrungen und ihre gesellschaftlichen Ursachen (im Sozialismus!) auf den marx’schen Begriff gebracht werden konnten. Dazu kam die erstmalige breite Debatte über eine neue Verfassung der DDR, die in ihren Anfängen, zeitgleich mit dem „Prager Frühling”, als positives Signal einer demokratischen Öffnung begriffen, auch vorsichtige Verbesserungen in unserer seit 1961 gelähmten Gesellschaft anzukündigen schien. Derselbe studentische Kreis, der sich in Greifswald über dem Studium des jungen Marx gebildet hatte, diskutierte gleichfalls die Briefe nach Berlin mit den Vorschlägen, mehr demokratische Rechte und Kontrolle für den „Arbeiter- und Bauern-Staat” zuzulassen. Auch konkrete Vorschläge für eine Studienreform wurden in dieser Gruppe erörtert und z. T. sogar umgesetzt. So gingen unsere internen Debatten über den jungen Marx und die verbesserliche DDR nahtlos in die ausführliche Lektüre der Reden Goldstückers, Dubc ˘eks und Smrkovsky ’s über, die erstaunlich lange im „Neuen Deutschland” abgedruckt wurden. Und als sie dort verschwanden, brachte sie wenigstens das in der DDR verkaufte offiziöse Organ der KP Englands „Morning Star”. Der Prager Frühling und die Öffnung der Studentengemeinden im Westen, wie darauf im Osten, für sozialistisch-marx’sches Gedankengut folgten einander nicht nur, sondern sie verstärkten gegenseitig ihre Glaubwürdigkeit und Akzeptanz. Demokratie musste nicht mehr als Volksdemokratie gesteigert und entwertet werden, sondern schien auch in den Farben des Sozialismus machbar. Sogar marktwirtschaftliche Überlegungen ließen sich jetzt auf dem Umweg über Ota S ˘ik’s Ideen in einen ökonomischen Entwurf integrieren, der einen dritten Weg zu versprechen schien. Unauslöschlich ist in unserer Erinnerung der Besuch von Milan Machovec in der Greifswalder Studentengemeinde im Frühjahr 1968. Er brachte uns seine Idee von dem fruchtbaren Dialog der unterschiedlichen Weltanschauungen bei, in dem es nicht um Proselytengewinnung gehen dürfe, sondern darum, Marxisten zu besseren Marxisten und Christen zu besseren Christen zu machen. Nach meinem Eindruck hat diese Veränderung der Perspektive selbst die Prager Katastrophe vom August 1968 und die sich anschließende Lähmung so weit überdauert, dass Heino Falckes Formel vom „verbesserlichen Sozialismus” auf der Bundessynode in Dresden 1972 von vielen als logi- sche Folge solchen Nachdenkens und als Hoffnung wider den Augenschein angenommen wurde. Nicht umsonst haben die Machthaber diese Überlegungen Falckes als frontalen Angriff auf ihre ideologischen Grundlagen gewertet und zu verschweigen gesucht. Das Jahr 1968 hat in der ESG, in ihrem Umfeld und bei anderen Nachdenklichen nicht nur äußerlich erheblich zur Delegitimierung des herrschenden Systems beigetragen, sondern vor allem für meine Generation eine innere Überlegenheit und systematische Kritik eröffnet, ohne die der Herbst 1989 nicht – oder nicht in dieser Form – möglich gewesen wäre.
3.3 Der Mut Einzelner
Gleichzeitig war das Jahr 1968 das Jahr besonderer symbolischer Aktionen, von denen ich nur zwei knapp erwähnen möchte. Die erste war eine Flugblattaktion vor der Volksabstimmung über die neue Verfassung der DDR am 6. April 1968. In der Nacht vom 3. zum 4. April verteilte eine Gruppe von sechs Theologiestudenten etwa 1000 DIN-A5-Zettel in Jena, auf denen ein Kreis durchkreuzt und mit „Nein” beschriftet war. Mithin hatten diese Flugblätter lediglich auf eine offiziell erst- und einmalig ermöglichte, wenn auch nicht erwünschte Neinstimme hingewiesen. Dennoch setzte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) alles daran, um die Urheber aufzuspüren, ihre Aktion als „Feindtätigkeit” zu krimi- nalisieren und sie mit langer Haft zu bedrohen. Die Aufklärung gelang ihnen unter anderem deshalb, weil einer der Beteiligten zusammen mit einem Kommilitonen in Bulgarien einen Fluchtversuch gen Westen unternahm, gefasst wurde und schließlich im Verhör von der Flugblattaktion berichtete und die Namen der anderen Flugblattverteiler preisgab. Die Verhaftung der fünf anderen Beteiligten erfolgte ohne Aufsehen am 20. Dezember 1968 in der Weihnachtspause. Wir Kommilitonen erfuhren erst im Januar stückweise von den Geschehnissen. Als führenden Kopf diagnostizierte das MfS Walther Bindemann unter anderem deswegen, weil er Verbindungen nach Berlin und Greifswald zu anderen Theologiestudenten aufgebaut und sie zu ähnlichen Aktionen aufgefordert hatte. Allerdings kam es aus verschiedenen innen-, außen- und kirchenpolitischen Gründen doch nicht zu einer Anklage vor Gericht, sondern es blieb bei einer zeitweiligen Exmatrikulation. Walther Bindemann hat sich durch diese Erlebnisse nicht von seiner kritischen und konstruktiven Haltung abbringen lassen. Er arbeitete später als Studentenpfarrer in Greifswald (1974–1980) und gehörte in den 80er Jahren zu den Initiatoren der Seminare „Konkret für den Frieden”, die das größte Netzwerk kirchlicher und außerkirchlicher Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen bildeten. Ein anderer aus dem Kreis der Flugblattaktivisten wurde jedoch in der Folge zum Informellen Mitarbeiter des MfS und setzte diese Zusammenarbeit noch als Pfarrer fort. In Leipzig an eine andere Protestaktion zu erinnern, heißt eigentlich, Eulen nach Athen zu tragen. Nach der Sprengung der Universitätskirche am 30. Mai entrollte sich am 20. Juni 1968 bei der Abschlussveranstaltung des III. Internationalen Bachwettbewerbs ein Plakat, das den Umriss der bekannten Ostfassade mit einem stilisierten Todesdatum 1968 und dem Satz verband: „Wir fordern Wiederaufbau”. Das anwesende Publikum beantwortete diese Aktion mit stürmischem Beifall. Die Untersuchungsorgane der DDR aber tappten auf der Suche nach den Akteuren lange im Dunkeln. Die meisten der im Vorfeld oder direkt Beteiligten kamen aus der ESG und sahen die Vernichtung dieses im Krieg geretteten Baudenkmals als frontalen Angriff auf den in dieser Kirche herrschenden Geist. Für die damals direkt und indirekt Beteiligten nenne ich Dietrich Koch und Günther Fritzsch gemeinsam, weil sie ihren Mut und ihre intellektuelle Opposition u. a. im Zusammenhang mit dieser Plakataktion mit mehreren Jahren Gefängnishaft und schweren beruflichen Nachteilen bezahlt haben. Tragischerweise gelangte das MfS an die entscheidenden Hinweise auf die Protestierenden wiederum – wenn auch indirekt – durch Beteiligte, die sich durch Flucht in den Westen retten konnten. Diese und andere Proteste konnten natürlich nur von einzelnen Mutigen ausgeführt werden, aber nicht Sache von ganzen Institutionen sein. Bei beiden Unternehmungen fällt auf, wie spontan ihre Akteure zusammenfanden und sehr bald verschiedene Wege gingen. Wie auch später bei den Leipziger Friedensgebeten bedarf es einer sorgfältigen Würdigung sowohl der kirchlichen Institutionen, die seit Jahrzehnten unter Beobachtung und Druck standen, aber relativ freies Denken, Studieren und Leben ermöglichten, und der spontan auf eigenes Risiko handelnden Personen, die immer wieder auf den Rückhalt und die Unterstützung aus den Freundeskreisen und den Kirchen angewiesen waren.
3.4 Die siebziger und achtziger Jahre
Nach meinem Eindruck, der aber genauer zu prüfen wäre, waren die politisch brisanteren Überlegungen und Aktionen seit Mitte der 1970er Jahre eher im Umkreis einiger Jungen Gemeinden beheimat als in der ESG. Träger der Auseinandersetzung mit Friedens-, Ökologie- und später Menschenrechtsfragen wurden jeweils eigene Arbeitskreise oder Gruppen. So sammelten sich ehemalige Bausoldaten im Umkreis der ESG oder von Jungen Gemeinden. Ihnen ist die Wiedergewinnung des ideologisch hoch belasteten Friedensthemas zu verdanken, das Jahrzehnte lediglich für die parteiliche Indoktrination genutzt wurde. Es wäre weiter eine eigene Untersuchung wert, wie sich in der Offenen Arbeit mit Punkern, z. B. in Leipzig-Mockau, anarcho-syndikalistisches Ideengut im Streben nach einer gerechteren und demokratischeren Gesellschaft verbreitete. Dagegen ist bereits wissenschaftlich untersucht, wie in Jena die „JG Stadtmitte” zu dem festen Sammelpunkt von Unangepassten und Oppositionellen wurde, der sie bis heute geblieben ist. Nach meiner Vermutung ging die steigende Unruhe nicht so sehr von den Universitäten aus, kam also auch nicht vorwiegend aus der ESG, sondern wurde von kleineren Kreisen wahrgenommen, wie überhaupt diese sozial engagierten Gruppen zunehmend ein wichtiger Faktor innerhalb und außerhalb der Kirchen wurden. Allerdings fand dieser Kampf um Argumente und Köpfe, der in der „Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung” gipfelte, zwar nicht mehr überwiegend auf dem Boden der ESG statt, aber er ist nicht denkbar ohne die evangelischen Akademiker, die in der ESG ihre geistige und geistliche Heimat hatten.
4. KAMPF UM DIE KÖPFE? – EIN RESÜMEE
Das mir gestellte Thema „Kampf um die Köpfe” erweist sich als treffende Formulierung, wenn auch natürlich je nach Epoche wechselnde Perspektiven zu berücksichtigen sind. Die DDR-Kirchenpolitik war bereits im Moskauer Exil als offener und verdeckter Kampf gegen Religion und Kirche geplant worden. Dieser dauerte dann länger als 40 Jahre und wies sehr verschiedene Phasen auf, die Erschöpfungszustände und Zeiten eines Burgfriedens auf beiden Seiten einschlossen. Die Studentengemeinden waren in dieser Zeit eine zentrale Arbeitsform der evangelischen Kirchen. Sie bedachten die theologischen, philosophischen und damit zumindest indirekt auch die politischen Themen der Zeit. Sie beteiligten sich etwa an den Debatten um Glaube und (Natur)-Wissenschaft in den 1950er Jahren, an denen über die Verantwortung der Deutschen am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust in den 1960er Jahren wie an denen über die politische Verantwortung für eine gerechtere, friedlichere und möglichst integer bewahrte Welt zwischen 1978–1989. Die Fortsetzung solcher Denkbemühungen fand für die Absolventen oftmals in eigenen Hauskreisen und in den Evangelischen Akademien statt. Damit stellten sich diese Gemeinden den intellektuellen Herausforderungen der Zeit in einem Maße, das die staatlichen Stellen faktisch überforderte und sie zunehmend vor allem zu intransparenten administrativen Maßnahmen greifen ließ. Über die Studentengemeinden nahmen Studierende westliche theologische, belletristische und philosophische Literatur wahr und beteiligten sich so an den Diskursen der (westlichen) Welt, was über diesen Umweg osteuropäische Literatur und Politik durchaus einschließen konnte. Die ESG pflegte eine Debattenkultur mit Gesprächsleiterschulungen und thematisch offenen Disputen ohne vorherbestimmtes Resultat, die in vielen akademischen Fächern so kaum möglich waren. Die Studentengemeinden ermöglichten die (geheime) Wahl zur Vertrauensstudentin oder zum Pfarrer, was die meisten unter uns zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Möglichkeit der freien Auswahl und – der ungewohnten Realität des Scheiterns konfrontierte. Die ESG war zugleich für die evangelischen Landeskirchen eine Übungsstätte für weitere Aufgaben im kirchlichen Überlebenskampf. Studentenpfarrer kandidierten wie Johannes Hempel und Gottfried Forck bei Bischofswahlen. Man traute ihnen das geistige und geistliche Vermögen zu, unter den besonderen Bedingungen der DDR, Kirchen zu leiten. Vertrauensstudenten lernten Mitverantwortung unter belastenden Umständen zu übernehmen und übten dies später als Kirchvorsteher und Synodale in kirchenleitender Funktion aus. Auch die nichttheologischen Mitarbeiter der Konsistorien und Landeskirchenämter kamen sehr oft aus der ESG in den kirchlichen Dienst. Dennoch kann man ehrlicherweise bei diesem „Kampf um die Köpfe” nicht von einem Sieg sprechen. Zwar gibt es die kämpferischen Marxisten-Leninisten in den staatlichen Funktionen so nicht mehr, aber ihr jahrzehntelanger Kampf hat mindestens zwei Folgen, die nachweisbar bis heute nachwirken. Die institutionelle Folge stellt die massive Dezimierung der christlichen Gemeinden dar, die sich an den tiefgreifenden konfessionellen Differenzen zwischen West- und Ostdeutschland ablesen lässt. Nur in Ostdeutschland sind Christinnen und Christen heute eine Minderheit, die sich gegenüber der konfessionslosen Mehrheit erklären und rechtfertigen muss, obwohl die Kirchen nach wie vor die größte gesellschaftliche Institution geblieben sind. Die zweite Folge ist die ins allgemeine Bewusstsein abgesunkene selbstverständliche Religions- und Kirchenkritik marxistischer Herkunft, die wie ungezählte Äußerungen bis in die Leserspalten der Zeitungen in Leipzig und Jena, Dresden und Magdeburg hinein belegen, viele katastrophale Konflikte dieser Welt dezidiert nur auf religiöse Intoleranz zurückführt. Im Umkehrschluss wird dann direkt oder indirekt nahegelegt, dass das Zurückdrängen der Religion die Humanität fördere. Dass aber gerade in Deutschland zwei politische Religionen, der Nationalsozialismus und der Kommunismus, mit ihrem Kampf gegen Andersglaubende und Andersdenkende ungezählte Opfer gefordert haben und die Anfälligkeit zur Intoleranz jedweder Weltanschauung – auch eines sich säkular gebenden Humanismus – belegen, wird entweder nicht gesehen oder wohlweislich verschwiegen. Die Unschuld jedenfalls, mit der solche Kirchenkritiker argumentieren, oftmals ohne ihre eigene Vergangenheit und Verflochtenheit offen zu legen, scheint mir nach jenem Kampf um die Köpfe, der mehrere Generationen umfasste, einer wirklichen Aufklärung bedürftig.