Klaus Fitschen
„In jeder Hand hält er einen Revolver, vor der Brust hat er eine Spielzeugmaschinenpistole hängen.
,Was sagt denn deine Mutter zu diesen Waffen?’
,Die hat sie mir doch gekauft.’
,Und wozu?’
,Gegen die Bösen.’
,Und wer ist gut?’
,Lenin.’
,Lenin? Wer ist das?’
Er denkt angestrengt nach, weiß aber nicht zu antworten.
,Du weißt nicht, wer Lenin ist?’
,Der Hauptmann.’“
Reiner Kunze, „Siebenjähriger“, aus: Die wunderbaren Jahre
Von Kindesbeinen an war die sozialistische Erziehung zum sozialistischen Menschen von der sozialistischen Wehrerziehung durchdrungen, die, so wäre Reiner Kunzes Text zu interpretieren, sich nicht nur auf kindliche, sondern auch auf elterliche Mentalitäten auswirkte.
„Die Vorbereitung auf den Wehrdienst ist Bestandteil der Bildung und Erziehung an den allgemeinbildenden Schulen, Einrichtungen der Berufsbildung, Fachschulen, Hochschulen und Universitäten“, so hieß es beispiels weise im Wehrdienstgesetz von 1982 (§ 5 Abs. 2). Dieser Aspekt – „die Vorbereitung auf den Wehrdienst“ – war eben nur eine Seite der Medaille. Die andere war es, als eines der wesentlichen ideologischen Ziele der SEDDiktatur ein Weltbild zu erzeugen, das von einem geradezu manichäischen Gegensatz von Gut und Böse, Liebe und Hass geprägt war. Die innerdeutsche Todesgrenze hinderte die Bösen dabei nur mit Mühe daran, den Guten den Garaus zu machen. Es sollte ein Konformitätsdruck erzeugt werden, der nicht nur der Abwehr eines potentiellen äußeren Feindes diente, sondern auch der Ausgrenzung als solcher angesehener innerer Feinde, deren schlimmste – so scheint es gelegentlich – Menschen mit pazifistischer Einstellung waren.
Die Wehrerziehung war demnach, abgesehen von der Vorbereitung auf den Wehrdienst, ein Bildungsziel an sich. Sie vermittelte kind- und jugendgerecht die Allgegenwart des Militärischen und die Notwendigkeit einer feindlichen Haltung bestimmten Menschen gegenüber als Selbstverständlichkeit. Die Militarisierung der Kindheit, die Reiner Kunze in seiner Prosa kritisierte, fand sich unter anderem in der seit 1965 erscheinenden „Soldatenpost“ wieder, in der bei Kindern und Jugendlichen für den Soldatenberuf geworben wurde. Für die Vorschulkinder vermittelte die Zeitschrift „Bummi“ ähnliches Gedankengut. Darüber hinaus aber bot die Militarisierung im Alltag die Möglichkeit, Konformität zu erzwingen und Individualität zu minimieren, und das eben nicht erst im Wehrdienst oder bei weiteren militärischen Ausbildungen, sondern in paramilitärischen Formen auch in Kindergärten, Schulen und Universitäten. Übungen, auch im Bereich der sogenannten Zivilverteidigung, Alarme und das Einschärfen eines Feindbildes sollten der Stabilisierung der Diktatur dienen.
Die Militarisierung mit all ihren Aspekten war bereits Teil der Frühgeschichte der DDR und somit Teil ihrer Legitimation im Kalten Krieg. Schon die Aufstellung der Kasernierten Volkspolizei im Jahre 1952, der „getarnten Armee“, um einen Buchtitel zu zitieren,war ein Baustein für die Militarisierung der gesamten Gesellschaft. Während in der Bundesrepublik die Debatten um die Wiederaufrüstung Politik und Öffentlichkeit schwer erschütterten, sich die Wege Adenauers und Heinemanns trennten und die Evangelische Kirche an den Rand ihrer Spaltung geriet, mussten in der DDR diese Debatten ausbleiben. Die weit verbreitete und durch den Korea krieg noch verstärkte pazifistische Mentalität des „Nie wieder“ oder „Ohne mich“ war eine Sonderposition, die es zu beseitigen galt. Dass die Militarisierung mehr war als die Aufstellung einer Armee, zeigte zur gleichen Zeit die Aufrüstung des Sports durch die 1952 gegründete Gesellschaft für Sport und Technik. Sport hatte Wehrsport zu sein und aus Geländemärschen, Schießausbildung und dem Heranführen an Wehrtechnik zu bestehen. Dies galt auch für den Erwerb des Sportabzeichens, dessen Motto in der ersten Fassung von 1950 noch lautete „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung des Friedens“, seit 1956 aber: „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat“.
Der 17. Juni 1953 diente dann als erster Beweis für eine Bedrohung von außen. Eine konkrete Folge des Arbeiteraufstands am 17. Juni war die Aufstellung der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“, die eine Militarisierung des Arbeitslebens zum Zweck hatte – jedenfalls in dem Sinne, dass auch hier das Militärische präsent war. Richtig durchsetzbar war die Militarisierung freilich erst nach dem Mauerbau, der ja mit entsprechenden Bedrohungsszenarien begründet wurde und auf den nicht zufällig eine Werbekampagne für die Nationale Volksarmee folgte. Diese zielte offiziell noch auf Freiwilligkeit, war in Wirklichkeit aber schon mit Repressionen behaftet, vor allem für Studenten, die sich dieser Freiwilligkeit entziehen wollten. „Der Friede muss bewaffnet sein“ – dieser Satz begann hier seine Karriere. Der Wehrdienst wurde nun mit dem üblichen Pathos als Ehre und Pflicht überhöht, so wie es auch schon 1958 in den „Zehn Geboten der sozialistischen Moral“ geschehen war. Das 2. Gebot lautete: „Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter- und Bauernmacht einzusetzen.“
Mit der NVA ist also nur eines der „bewaffneten Organe“ genannt, die bis in den Alltag hineinwirkten. Andere, wie die Gesellschaft für Sport und Technik oder die Betriebskampfgruppen, gehören ebenso hierher. Das „Handbuch der bewaffneten Organe der DDR“ gibt dazu einen ausführlichen Überblick, und auch sonst ist das Feld sehr gut erforscht.Auch die Zivilverteidigung und mit ihr das Rote Kreuz sind im Kontext der Militarisierung zu sehen. Die Zivilverteidigung, im universitären Bereich hauptsächlich Betätigungsfeld von Studentinnen und Theologiestudenten, war 1967 als Teil der „Landesverteidigung“ begründet worden und 1975 in den Zuständigkeitsbereich des Verteidigungsministers übergegangen. Damit wurde sie zu einem „bewaffneten Organ“.Die Zivilverteidigung mit ihren Übungen diente der Militarisierung auch insofern, als in ihr schon Kinder und Jugendliche zur Angst vor einem Angriff aus dem Westen erzogen wurden.
Eine geläufige Abwehrreaktion könnte es nun sein zu behaupten, die Militarisierung im Sinne einer Akzeptanz des von der SED-Diktatur vertretenen Feindbildes habe es in Wirklichkeit gar nicht gegeben, man habe dies wie so vieles andere gar nicht verinnerlicht und den paramilitärischen Betrieb außerhalb der NVA eher als Geländespiel angesehen, dem man sich nicht entziehen konnte. Abgesehen von der Fragwürdigkeit der generellen Geltung solcher Aussagen war Kindern und Jugendlichen jedoch eine solche Distanzierung kaum möglich. Sie waren am allermeisten der militaristischen Indoktrination ausgesetzt. Während Erwachsene sich innerlich distanzieren konnten und dies offensichtlich auch taten,war dies Kindern und Jugendlichen kaum möglich.
Im staatlichen Bildungswesen der DDR, das sich ja vorwiegend als Erziehungswesen verstand, spielte die Militarisierung eine zentrale Rolle. So hieß es im Jugendgesetz der DDR von 1964: „Die Staats- und Wirtschaftsfunktionäre, die Leiter der Betriebe und staatlichen Einrichtungen und die Vorstände der Genossenschaften sind verpflichtet, die Bereitschaft der Jugend zu fördern, die sozialistische Heimat gegen alle Angriffe des Imperialismus zu verteidigen. Sie haben den Jugendlichen unter aktiver Beteiligung der Freien Deutschen Jugend, der Gesellschaft für Sport und Technik und des Deutschen Roten Kreuzes zu ermöglichen, sich bereits vor Ableistung des Wehrdienstes militärische, technische und medizinische Kenntnisse anzueignen.“ (§ 44). Bei diesem Tenor blieb es auch bei der Neufassung des Gesetzes im Jahre 1974, wobei in dieser Neufassung der militaristische Ton noch stärker hervortrat: 16 Mal kamen Wörter mit „Wehr“ vor, wie z. B. Wehrsport, Wehrerziehung, Wehrpolitik.
So gab es in Kindergärten Kriegsspielzeug; Väter, die Soldaten waren, wurden zu „Patensoldaten“. In den unteren Schulklassen wurde Manöver gespielt. In der Schule fand nicht nur von der 1. Klasse an Wehrerziehung statt, sondern es wurden auch, auf Initiative der FDJ in Kooperation mit der GST, paramilitärische Wettkämpfe veranstaltet. Die Wehrerziehung prägte alle Schulfächer: Sport, Geschichte, Chemie, Erdkunde und natürlich Staatsbürgerkunde. Die „Handreichung zur sozialistischen Wehrerziehung“ empfahl für den Musikunterricht, die Schüler sollten lernen, „Marschlieder selbständig, in der richtigen Tonart, anzustimmen, daß beim Marschieren nach Gesang und nach Marschmusik bewußt laut, deutlich und kämpferisch gesungen, aber nicht geschrien wird“.Studierende, die an die Hochschulen kamen, waren mit den üblichen Mechanismen der Militarisierung bereits vertraut und konnten sie als selbstverständlich ansehen – sie hatten ohnehin einen ideologischen Ausleseprozess durchlaufen, in dem Anpassungsverweigerungen schon den Weg an die EOS verbauen konnten. Freiräume von dieser Art Erziehung gab es faktisch nicht, sieht man einmal von den kirchlichen Kindergärten, kirchlichen Ausbildungseinrichtungen und kirchlichen Hochschulen ab.
Dass die Akteure der Militarisierung von damals trotz mancher Friedenstaube vielleicht doch noch nicht gänzlich bekehrt sind, sei hier nur angemerkt: 1987 wurde der „Leitfaden“ „Militärpolitisches Grundwissen für die sozialistische Wehrerziehung“ veröffentlicht, der ein ideologisches Kompendium darstellt.Der Hauptherausgeber, Bernhard Gonnermann, saß in den 1990er Jahren noch zwei Perioden lang für die PDS im Brandenburgischen Landtag. Einer der Autoren, Paul Heider, ist Mitglied der „Dresdner Studiengemeinschaft für Sicherheitspolitik“, die offensichtlich in der Tradition der ehemaligen „Dresdner Militärakademie Friedrich Engels“ steht. Ein weiterer Autor von damals, Siegfried Melcher, ist Mitglied im Präsidium des „Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden“, eines Dachverbandes von Organisationen, zu denen auch der „Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR“ gehört, dessen Vorsitzender Theodor Hoffmann ist, Verteidigungsminister der DDR vom November 1989 bis zum April 1990.
Wie steht es nun mit dem Themenfeld Resistenz, Opposition, Widerstand? Bis zum Mauerbau war es noch möglich, sich der Militarisierung durch Flucht in die Bundesrepublik zu entziehen. Ein Zeichen für Resistenz ist die Tatsache, dass die GST in den 1950er, aber auch noch in den Jahren nach dem Mauerbau nicht den ihr vorgegebenen Bestand erreichte, wobei in den frühen 1950er Jahren auch noch christliche Einstellungen unter Jugendlichen eine Rolle spielten, die sich gegen eine Militarisierung richteten.Erst in den 1970er Jahren konnte die GST die ihr zugedachte Aufgabe, die männlichen Jugendlichen flächendeckend auf den Wehrdienst vorzubereiten, erfüllen.In den 1980er Jahren zeigten sich dann hier wie überall Distanzierungstendenzen, für die auch die wachsenden Zweifel von Jugendlichen an der Gefahr des Imperialismus stehen.Ein weiterer Indikator ist die steigende Zahl von Bausoldaten.
Ein Zeichen für eine gewisse Resistenz gegen die Militarisierung war auch die mangelnde Akzeptanz des Soldatenberufes, für den die SED-Diktatur unablässig warb. Sie drängte Studenten, die Reserveoffizierslaufbahn einzuschlagen, nachdem in den 1970er Jahren die Ableistung des Wehrdienstes Voraussetzung für die Zulassung zum Studium geworden war. Studenten hatten an Wehrübungen, Studentinnen und Theologiestudierende an Zivilverteidigungsübungen teilzunehmen. In Schulen und Betrieben wurden männliche Jugendliche angeworben und dann bevorzugt behandelt. Soldaten, ob im aktiven Dienst oder Reservisten, waren allgegenwärtig.
Gegen die Militarisierung stand vor allem der Protest der Evangelischen Kirche in der DDR. Nach der ersten Militarisierungsphase in den 1950er Jahren begann mit dem Mauerbau und der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht eine zweite, die aber nicht reibungslos erfolgte. Für die evangelischen Landeskirchen in der DDR stellte sich konkret die Frage, welche Haltung sie zur Wehrdienstverweigerung einnehmen sollten. Bisher war diese Frage nur für die westdeutschen Landeskirchen von Belang gewesen. Sie hatten sich hinter das im Grundgesetz verbürgte Recht auf Wehrdienstverweigerung gestellt. Dieses Recht musste jedoch auch für die ostdeutschen Landeskirchen gelten, da der Dachverband der Landeskirchen, die EKD, noch eine gesamtdeutsche Organisation war.
Dies kam dann auch in einem programmatischen Text der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR zur Sprache, den „Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der Kirche in der DDR“ von 1963. Hier heißt es im V. Artikel: „Die Kirche setzt sich für den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen ein, wie sie auch für ihre Glieder, die Soldaten werden, den Auftrag zur Seelsorge behält.“Dass es dagegen Widerspruch aus systemnahen Kirchenkreisen gab, muss dazu gesagt werden. Immerhin war es der SED-Diktatur gelungen, einige wenige Theologen und Pfarrer davon zu überzeugen, in staatlich gelenkten Friedensgruppen, die sich der Militarisierungspolitik verschrieben hatten, mitzuwirken. Hier spielte die inzwischen ja längst gleich geschaltete Ost-CDU auch wieder einmal ihre Rolle als Filiale der SED.
Die Wehrdienstverweigerung war dann bekanntermaßen nicht möglich, jedenfalls nicht erlaubt, und der Dienst als „Bausoldat“, also als Angehöriger von „Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung“, wie es in der 1964 herausgegebenen Anordnung hieß,war nur eine unzureichende Alternative, vor allem für Christen mit pazifistischer Einstellung. Dementsprechend regte sich auch gleich nach der Einführung des Bausoldatendienstes Kritik von kirchlicher Seite, vor allem, weil auch von den Bausoldaten unbedingter Gehorsam verlangt wurde. Eine Gewissensentscheidung wäre also im Ernstfall nicht möglich gewesen. Die Einführung eines echten Ersatzdienstes blieb weiterhin ein frommer Wunsch.
Darauf wies auch eine „Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen“ mit dem Titel „Zum Friedensdienst der Kirche“ hin, die im November 1965 mit der Zustimmung der Kirchenleitungen in der DDR erstellt wurde. Die Handreichung beharrte darauf, dass die Kirche die Aufgabe hätte, den Wehrpflichtigen bei ihrer Gewissensentscheidung beizustehen. Diese konnte auch beinhalten, dass der Wehrdienst bewusst geleistet wurde, wenn auch unter dem Vorbehalt, dass sich der Wehrpflichtige darüber klar sein müsse, „daß er als Christ in der Nationalen Volksarmee angesichts der zur Zeit üblichen Erziehung zum Haß in Situationen kommen kann, in denen er ein offenes Bekenntnis ablegen muß“.In dieser Handreichung findet sich auch eine Formel, die noch nach 1989 eine Rolle spielte, nämlich die vom „deutlicheren Zeugnis“ für das christliche Friedensgebot, das die Totalverweigerer und die Bausoldaten leisteten.In einer einseitigen und auch von dem ehemaligen Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Axel Noack, kritisierten Sichtweise wurde daraus eine Haltung, die letztlich dem ostdeutschen Protestantismus zuschrieb, er habe generell die Wehrdienstverweigerung zum besseren und die Ableistung des Wehrdienstes zum schlechteren Zeugnis erklärt.
Die Handreichung von 1965 wurde in den Landeskirchen sehr unterschiedlich verbreitet und geriet mehr oder minder in Vergessenheit, bis sie in den friedensethischen Kontroversen zu Beginn der 1980er Jahre wieder aktuell wurde.Dies verdeutlicht ein „Leitfaden zur seelsorgerlichen Beratung in Fragen des Wehrdienstes und der Wehrerziehung“ von 1982.Der Staat freilich wollte weder 1965 noch 1982 etwas von der kirchlichen Haltung in dieser Frage wissen.
Unterdessen durchlief die DDR eine dritte Militarisierungsphase, die damit zu tun hatte, dass sie sich im Laufe der 1960er Jahre als eigene Nation erfand. In der Präambel der neuen, 1968 eingeführten „sozialistischen“ Verfassung hieß es, „daß der Imperialismus unter Führung der USA im Einvernehmen mit Kreisen des westdeutschen Monopolkapitals Deutschland gespalten hat, um Westdeutschland zu einer Basis des Imperialismus und des Kampfes gegen den Sozialismus aufzubauen, was den Lebensinteressen der Nation widerspricht“. Das zwar nicht neue, aber noch entschlossener verfolgte Ziel war die Erziehung zu ideologischer Kohärenz, und die Militarisierung des Erziehungs- und Bildungswesens blieb ein wesentliches Mittel zu seiner Erreichung. Seit 1970 waren Lehrlinge gezwungen, an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen,
angehenden Studenten wurde noch einmal eingeschärft, dass die Zulassung zum Studium vom Wehrdienst abhing, und 1972 wurde das Gleiche für die Studenten an Ingenieur- und Fachschulen verfügt.
Die intensivierte Militarisierung wurde im Jahre 1978 in besonderer Weise sichtbar: Im Oktober dieses Jahres wurde ein neues Verteidigungsgesetz verabschiedet. Hier hieß es, die „Verteidigungsbereitschaft“ müsse „auf allen Gebieten des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gewährleistet“ sein (§ 1 Abs. 2 S. 2). Kurz zuvor war der Wehrunterricht in der 9. und 10. Klasse für Jungen und Mädchen als neues Schulfach eingeführt worden. Hinzu kamen ein zwölftägiges Wehrlager für die Jungen und ein gleich langes Zivilverteidigungslager für die Mädchen in der 9. Klasse – wer nicht am Wehrlager teilnehmen wollte, durfte immerhin bei den Mädchen mitmachen.Für die evangelischen Landeskirchen in der DDR stellte nicht allein der Sachverhalt, sondern auch der zeitliche Kontext einen Affront dar: Im März 1978 hatte ein „Spitzengespräch“ zwischen der Führung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR und der Staatsführung stattgefunden. Dies wurde vom Staat propagandistisch als Beleg für die Behauptung verwendet, Kirchen und Staat seien sich prinzipiell einig. Während Erich Honecker also den Frieden zwischen Staat und Kirche darstellen wollte, schuf Margot Honecker Tatsachen, die die Kirchen gerade angesichts des Spitzengesprächs in Verlegenheit brachten. Christliche Eltern wurden in schwere Gewissensnöte gestürzt, denn das Ziel war wieder einmal nicht allein Wehrertüchtigung, sondern die Erziehung zum Hass auf den „Imperialismus“. Die Kirchenleitungen sahen sich genötigt, in einer „Orientierungshilfe“ und in einem Brief an die Gemeinden Stellung zu beziehen.
Typisch war die Auskunft des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, an die Kirchenleitungen: „Das Prinzip der Freiwilligkeit sei bei der Ausbildung an Waffen gewährleistet. Es sei aber eine 100%ige Beteiligung angestrebt.“ Die Kirchenleitungen warnten dagegen: „Die frühzeitige Anerziehung militärischer Denkweise, Einstellungen und Verhaltensnormen im Schulunterricht kann dazu führen, daß die Chancen friedlicher Konfliktbeilegung in späteren Jahren gar nicht mehr wahrgenommen werden.“ Daraus folgte als konkrete Aufgabe u. a.: „Jeder Romantisierung des militärischen Lebens und der Verharmlosung der unvorstellbaren Folgen des Krieges ist zu wehren. Das hat Konsequenzen z. B. für die Auswahl des Spielzeugs und der Lektüre, die Erwachsene kaufen oder verschenken.“Dass Kinder nicht mehr mit Panzern und Gewehren spielen sollten, war im Übrigen ein systemübergreifendes Anliegen, mit dem sich die Hoffnung auf einen Beitrag zu einem Mentalitätswechsel verband. „Erziehung zum Frieden“ war dann auch ein Motto, das vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR übernommen wurde.
Kirchliche Proteste gegen den Wehrunterricht gaben auch denen eine Stimme, die ihren Protest nicht öffentlich machen wollten – die Ablehnung in der Bevölkerung ging über die Kirchen bzw. ihre Mitglieder hinaus.Diese Ablehnung war ein Zeichen dafür, dass die Differenz zwischen Friedensrhetorik und Politik deutlich wahrgenommen wurde. Noch aber konnte der Staat die Proteste ersticken– anders gesagt: Die meisten Menschen wagten den Protest nicht, passten sich an und lieferten ihre Kinder aus. Die Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen sah es in ihrem Bericht an die Synode im November 1978 so: „Es wird sich zeigen müssen, ob die Einsprüche gegen die Wehrerziehung nur das momentane Aufwallen eines kritischen Bewußtseins war, das alsbald in ein resigniertes Laufenlassen der Dinge übergeht, oder ob sich unsere Gemeinden die Aufgabe der Friedenserziehung bewußt und nachdrücklich zu eigen machen.“
Bis heute wirkt die Symbolik des Emblems „Schwerter zu Pflugscharen“ nach, das 1981 anlässlich der zweiten sogenannten Friedensdekade der evangelischen Kirchen in ganz Deutschland aufkam. Das mit einer gewissen List der Statue eines sowjetischen Künstlers entlehnte, auf einen Vers aus dem Propheten Micha zurückgehende Motto war staatlichen Stellen ein Dorn im Auge. Für Jugendliche wurde es, über ihr Friedensengagement hinaus, zum Symbol eines weiter reichenden Protestes gegen eine Diktatur, die ihnen das nehmen wollte, was eine Jugend ausmacht. Die Verfolgung dieser Jugendlichen zeigte augenfällig, welcher Art der Friede war, den die SED-Diktatur mit ihrer Parole „Der Friede muss bewaffnet sein“ propagierte. Die Friedensfrage war eben nicht nur eine außenpolitische, sondern auch eine gesellschaftspolitische, wenn sie nur mit einer Militarisierung im Innern beantwortet werden konnte. Dies war, wie man sagen muss, nicht nur ein Thema in christlichen Kreisen, sondern auch in denen der Bürgerbewegung. Dafür steht beispielhaft die „Initiative Frieden und Menschenrechte“.
Aus den seit 1980 begangenen Friedensdekaden, die jedes Jahr im November zehn Tage lang die Friedensfrage zu einem besonderen kirchlichen Thema machen sollten, entstanden dann u.a. die Leipziger Friedensgebete. Auch wenn sich die Kirchenleitungen mit dieser Bewegung nicht offen identifizierten, boten sie ihr doch Schutz und einzelnen Verfolgten Rückhalt. Was freilich über die kirchliche Mittel- und Mittlerposition hinausging, war das vom Dresdner und dann Leipziger Pfarrer Christoph Wonneberger vertretene Konzept eines „Sozialen Friedensdienstes“, der anders als der Bausoldatendienst einen echten Zivildienst darstellen sollte.
Da das Friedensthema systemübergreifend war und zu Beginn der 1980 er Jahre weite Teile der evangelischen Kirche in der Bundesrepublik beschäftigte, kamen nun die gesamtdeutschen Beziehungen des Protestantismus ins Spiel. Man hatte ein gemeinsames Thema. Die Evangelische Kirche in Deutschland, also die in dieser Zeit auf die Bundesrepublik beschränkte Dachorganisation der Evangelischen Landeskirchen, und der Bund Evangelischer Kirchen in der DDR veröffentlichten zum 40. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs ein gemeinsames „Wort zum Frieden“, das auch ein Beitrag zum Frieden sein sollte.
Und wie stand es um die Militarisierung in der Bundesrepublik? Gab es hier nicht auch Kriegsspielzeug? Kamen nicht zur Zeit der Nachrüstungsdebatte Offiziere in die Schule, um für den Wehrdienst zu werben? War nicht auch in der Bundesrepublik Wehrdienstverweigerung problematisch, und gab es nicht auch hier zu Beginn der 1980er Jahre Bestrebungen, die „Landesverteidigung“ populärer zu machen, zumal angesichts steigender Zahlen von Wehrdienstverweigerern? Sprach man nicht von einer „wehrhaften Demokratie“?
Das alles gab es, aber es war eben nur ein Teil eines sehr spannungsreichen Feldes. Je weniger Opa vom Krieg erzählte, desto weniger wurde auch das Kriegsspielzeug. Die virtuelle Aufrüstung im Kinderzimmer ist dann schon ein späteres, gesamtdeutsches Phänomen. An kritischen Lehrerinnen und Lehrern kam in den Schulen kein Offizier vorbei. Viele engagierten sich für die Wehrdienstverweigerer, und als die Landesverteidigung Thema in der Schule werden sollte, zerstritt sich die Kultusministerkonferenz zu Beginn der 1980er Jahre über diese Frage. Am Ende lagen zwei Entwürfe auf dem Tisch mit den Titeln „Friedenserziehung in der Schule“, vorgelegt von Bremen, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen, und „Bundeswehr und Friedenssicherung“, vorgelegt von den anderen Bundesländern.Das war eben der Grund, weshalb die Demokratie wehrhaft sein musste: um die Rechts- und Werteordnung des Grundgesetzes zu schützen, deren Kern die Diskursivität und Pluralität ist.