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Immun gegen Ideologien?

Das Spannungsfeld von Wissen und Glauben gestern und heute


Axel Noack

Magnifizenz, Herr Bürgermeister, meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist gewissermaßen die Quadratur des Kreises in 20 Minuten zu dem umfänglichen Thema: „Immun gegen Ideologien? Das Spannungsfeld von Wissen und Glauben gestern und heute”, zu sprechen. Aber wir versuchen es. Eine einleitende These: Eine wirkliche weltanschauliche Auseinandersetzung hat es in der DDR nicht gegeben.
Es gab administrative Maßnahmen und es gab mehr oder weniger freundliche Propaganda – mündlich und schriftlich – aber einen echten Streit, einen wirklichen Dialog hat es auf weltanschaulichem Gebiet nicht gegeben. Das gilt für die DDR-Zeit allgemein, auch wenn es ratsam ist, auch in der DDR-Geschichte und hinsichtlich des staatlichen Agierens auf ideologischem Feld, ja in Kultur- und Kultusangelegenheiten verschieden Phasen zu unterscheiden.

I.
Für die ersten Jahre, besonders nach dem Beschluss der 2. Parteikonferenz der SED (Juli 1952) in der
DDR den Sozialismus „planmäßig” aufzubauen, sehen wir vor allem ein massives administratives Vorgehen. Die im „Hauruck-Verfahren” ergriffenen Maßnahmen (Auflösung der Länder, Schaffung der
Grenzsperrgebiete und die Zentralisierung aller kulturellen Zuständigkeiten durch Schaffung sogenannter „staatlicher Komitees” für Rundfunk, Sport, Hochschulen usw.) enden im Chaos. In diese Zeit fallen alle die hier schon ausführlich dargestellten Maßnahmen gegen die kirchliche Jugend und Studentenarbeit: nie wieder ist seitdem die kirchliche Arbeit propagandistisch so massiv angegriffen worden. Freilich: diesem „Kirchenkampf” fehlte fast vollständig eine weltanschauliche oder atheistische Komponente.
Politisch endet die erste wilde Phase des Aufbaus des Sozialismus in einer immer mehr zunehmenden Unzufriedenheit der Bevölkerung, einem massiven Anstieg der Flucht in den Westen und schließlich in den Demonstrationen des 17. Juni 1953. Für unser Thema ist dabei auf einen wichtigen, damals vollkommen übersehenen Umstand zu verweisen: Schon vor dem 17. Juni 1953, nämlich in der Zeit vom 2.–4. Juni, war eine Delegation der SED-Spitze nach Moskau befohlen worden. Dort erhielten Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und Fred Oelßner eine richtige Standpauke. Sie wurden genötigt, einen neuen
Kurs einzuschlagen, der dann vom Politbüro der SED auch am 9. Juni beschlossen wurde. Bekanntlich kam der „Neue Kurs” zu spät und konnte den 17. Juni nicht mehr verhindern. Ein wichtiger Bestandteil
der Moskauer Vorhaltungen betraf das administrative Vorgehen gegen die Kirchen. Die Moskauer schätzen ein: „Insbesondere wurden ernste Fehler in Bezug auf die Geistlichen begangen, die in einer Unterschätzung des Einflusses der Kirche unter der breiten Masse der Bevölkerung, in grobenAdministrierungsmaßnahmen und Repressalien ihren Ausdruck fanden.”
Es werden Maßnahmen „zur Verbesserung der entstandenen Lage” vorgeschlagen. Das 6-Punkte-Papier beschreibt 12 notwendige Maßnahmen vor allem wirtschaftlicher und politischer Natur und benennt unter 1.h.) Maßnahmen, die das Verhältnis zur Kirche betreffen: „h) (Mit) einem nackten Administrieren in Bezug auf die Geistlichen ist Schluß zu machen, und die schädliche Praxis der groben Einmischung der Behörden in die Angelegenheiten der Kirche ist einzustellen. Alle Maßnahmen, die direkte Interessen der
Kirchen und der Geistlichen einengen, sind aufzuheben, und zwar: Beschlagnahme der charitativen Kirchenanstalten (Alten- und Waisenheime), Abnahme brachliegender kirchlicher Bodenflächen durch lokale Behörden, Entziehung der für die Kirche festgelegten Subventionen usw. Die Verfolgung der einfachen Teilnehmer der kirchlichen Jugendorganisation „Junge Gemeinde” ist einzustellen. und die politische Arbeit unter ihnen zum Schwerpunkt zu machen. Es ist im Auge zu halten, daß Repressalien gegenüber der Kirche und den Geistlichen nur dazu beitragen können, den religiösen Fanatismus der rückständigen Schichten der Bevölkerung zu stärken und ihre Unzufriedenheit zu vergröbern. Darum
muß (das) Hauptkampfmittel gegen den reaktionären Einfluß der Kirche und der Geistlichen eine tüchtige durchdachte Aufklärungs- und Kulturarbeit sein. Als die Grundform der antireligiösen
Propaganda ist eine weite Verbreitung der wissenschaftlichen und politischen Kenntnisse unter der Bevölkerung anzustreben.”
Der Kirchenabschnitt im Moskauer Politbürobeschluss gibt klar zu erkennen: Hier soll die Taktik geändert werden, an dem Ziel der Zurückdrängung des „reaktionären kirchlichen Einflusses” soll allerdings weiter festgehalten werden. Die geforderte Verbreitung „wissenschaftlicher Kenntnisse” wurde zur Geburtsstunde der atheistischen Propaganda in der DDR. Was in Moskau gefordert wurde, wurde umgesetzt. Die Partei nahm das sehr ernst. Schon im Sommer 1953 erscheint die erste atheistische
Propagandaschrift, mit dem Titel: „Kommunistische und religiöse Moral”. Es ist eine Übersetzung aus dem Russischen. Es folgt dann bald eine ganze Flut solcher Schriften und Schriftchen (Bei mir nehmen sie ca. einen halben Meter im Bücherregal ein.). Die bekannteste dieser Schriften trägt den Titel: „Der
Sputnik und der liebe Gott”. Wer die wirklichen Leserinnen und Leser waren, ist schwer auszumachen. Vermutlich werden vor allem die Pfarrer zu den Lesern gezählt werden müssen. Die Schriften sind in der Regel nicht anders als vulgär-primitiv einzuschätzen und haben wohl auch keine größere Wirkung entfaltet. Sie wurden aber zur Begleitmusik für eine neue und aus Sicht der Partei sehr erfolgreiche
weltanschaulich-propagandistische, aber auch administrative Maßnahme: die unter massiven Druck
erfolgende Wiedereinführung der Jugendweihe. Schon allein die Tatsache, dass die DDR das einzige Land im Ostblock war, in dem es eine solche „Weihe” gegeben hat, zeigt: hier wurde in dem
mehrheitsprotestantischen Land eine Art „Gegenkonfirmation” neu und mit Nachdruck eingeführt, nachdem 1950 alle Jugendweihen verboten und freireligiöse Gruppen hart unterdrückt worden waren.
Die Jugendweihe, 1954 wieder eingeführt, hatte sich schon 1958 in der Breite durchgesetzt und erreicht fortan, bis zum Ende der DDR, weit mehr als 90% aller Jugendlichen. Bei der Einführung und
Durchsetzung der Jugendweihe mischen sich die atheistisch-ideologische Einflussnahme und die administrative Einengung kirchlicher Arbeit. Zum Hintergrund gehört die Erarbeitung und Herausgabe des „Geschenkbuches” Weltall-Erde-Mensch. Einer der wichtigsten Akteure war der heute überall so hochverehrte Prof. Robert Havemann. Die Thematik dieses Buches, vor allem die Fragen der Weltentstehung, der Evolution und des Schöpfungsglaubens wurden dann auch zu einem wichtigen Thema kirchlicher Arbeit. In den sechziger und siebziger Jahren tauchen diese Themen in den
Studentengemeinden verstärkt auf. Daran wurde unter der Überschrift „Theologie für Nichttheologen” wirklich gearbeitet und die (damals) weit verbreitete Einsicht gewonnen, dass die Fragen der Evolution und die Frage nach dem Schöpfungsglauben nicht im Gegensatz zueinander stehen. Schöpfungsglaube hat viel mehr mit der Orientierung zum Leben in dieser Welt und nicht mit der Frage, wie die Welt entstanden ist, zu tun. (Erst heute, in den letzen Jahren, zeigt sich, dass neues Fragen einsetzt und wir wohl wieder auf dieses alte Thema zurückkommen müssen.)


II.
Zurück zur Verbindung von atheistischer Propaganda und administrativer Einengung kirchlicher Arbeit in den 1950iger und 1960iger Jahren: Als exemplarisches Beispiel können die Vorhaltungen dienen, die DDR Innenminister Karl Maron auf Beschluss des Politbüros den versammelten Bischöfen der
Landeskirchen in der DDR im Februar 1956 vorzutragen hatte. Passagen davon wurden in den
Tageszeitungen nachgedruckt. Maron führt aus: „Es dürfte an der Zeit sein, dass die Vertreter der Kirche
sich etwas bescheidener verhalten. Die Vertreter der materialistischen Weltanschauung, die Vertreter
der fortgeschritten Wissenschaft, haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, ihre wissenschaftliche
Lehre überall zu vertreten. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, wo Vertreter des religiösen Aberglaubens
fortschrittliche Auffassungen unterdrücken konnten.”
Als Faustformel kann gelten: je massiver die Administration (Innenminister!) eingriff, umso primitiver
wurde der weltanschauliche Disput. In diese Phase gehört auch, an der Universität Jena 1963 einen
Lehrstuhl für „wissenschaftlichen Atheismus” unter dem Philosophen Olof Klohr einzurichten. Langer
Bestand war ihm allerdings nicht beschieden. Schon zum Ende der Ulbrichtzeit wird nun ein
ideologischer Schwenk eingeleitet: Fortan ist von „gemeinsamer humanistischer Verantwortung” von
Christen und Marxisten und sogar von „sozialistischer Menschengemeinschaft” die Rede und Christen
sollen darin einbezogen sein. Hierzu passte die polemische Propagierung des Atheismus nur schlecht.
Die Hauptmatadore der Beschäftigung mit dem „wissenschaftlichen Atheismus”, nämlich Olof Klohr,
Hans Lutter und Wolfgang Kliem verschwanden zwar nicht aus der Öffentlichkeit, konnten aber von
Wismar und Güstrow aus kaum noch öffentliche Wirkung entfalten. 1973 erschien die letzte atheistische
Propagandaschrift, wiederum aus dem Russischen mit dem Titel: „Wie das Christentum entstand”. In den
achtziger Jahren wird ein sogenannter „Problemrat” zum Thema „Weltanschauliche Probleme der
Zusammenarbeit von Kommunisten und Gläubigen” gebildet, der von Wolfgang Kliem, dem Leiter des
Forschungsbereiches „Wissenschaftlicher Atheismus” am Institut für Marxistisch-Leninistische
Philosophie an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED geleitet wurde. Hier
wurden zwar Religionswissenschaftler, aber keine Theologen und schon gar keine Vertreter der Kirchen
bzw. der „Gläubigen” einbezogen. Der Problemrat tagte im Wesentlichen hinter verschlossenen Türen
und konnte nur wenige Texte (in winzig kleinen Auflagen, zum Teil auch nur in sowjetischen Zeitschriften
auf Russisch) veröffentlichen. Er wurde noch im November 1989 aufgelöst. Auch für die Zeit des
„Problemrates” gilt: Eine wirkliche streitige, öffentliche Auseinandersetzung fand nicht statt, auch wenn
die Tagungen des Problemrates selbst interessant gewesen sein mögen. Vergleichbares lässt sich auch
von den speziellen „Expertengesprächen” zwischen Kirchengeschichtlern und marxistischen
Reformationshistorikern sagen. Immerhin: in den ca. 20 Gesprächen gab es ein wirkliches Gegenüber und Miteinander. Aber auch diese Gespräche, die im Umfeld der LutherEhrung und des Müntzer-
Gedenkens in der Zeit von 1981 bis 1990 stattfanden, erreichten nur wenig Öffentlichkeit. Offizielle,
abgestimmte Protokolle wurden nicht gefertigt. Es gab darüber einige wenige Berichte, vor allem von
Beteiligten der Kirche, wie z.B. Dr. Siegfried Bräuer. Dokumente aus dem Umfeld belegen: In der Parteispitze wurden solche „Dialogveranstaltungen” ziemlich kritisch gesehen und auf ihre Einschränkung und zeitliche Begrenzung gedrängt. Dokumente dazu und (kirchliche) Mitschriften der Gespräche wurden unlängst erstmalig veröffentlicht.
III.
Auch wenn das verkürzt erscheinen mag: In der Honecker-Zeit (ab 1971) ging es nicht mehr so sehr um
den Kampf – wie heute morgen schon gezeigt – um die „Köpfe und Herzen”. Was einer im „Herzen”
dachte war dann schon relativ egal, Hauptsache es drang davon nichts in die Öffentlichkeit und die
Menschen verhielten sich angepasst und waren massenhaft Mitglied in den einschlägig bekannten
Organisationen (Pioniere, FDJ, GST, DSF usw.). Der „Organisationsgrad” von Arbeitsbrigaden und
studentischen Kollektiven war relevant für finanzielle Vergütungen (Prämien), was die Mitglieder
dachten, war nicht relevant. Hier entfaltete sich die DDR-typische Haltung von innerer Ablehnung bei äußerer Anpassung gesellschaftsweit („Die Unterschrift möchte ich sehen, die ich nicht leisten kann!”).
Studenten etwa empfanden es geradezu als einen Akt revolutionärer Unbotmäßigkeit, wenn sie an
Wahltagen erst um 9:00 Uhr und nicht schon um 7:00 Uhr zum Wahllokal kamen. Widerständiges
Verhalten, geschah – besonders auch in den Studentengemeinden – in sehr kleiner Münze. Für die
kirchliche Arbeit hieß das: Was im geschlossen sakralen Raum geschah war (außer für den
Staatssicherheitsdienst) nicht wirklich interessant, aber wehe, es drang davon etwas nach außen. Hier
griff der Versuch des Staates, durch Veranstaltungsverordnungen und Anmelde – bzw.
Genehmigungspflichten die kirchliche Arbeit auf den innerkirchlichen Raum zu beschränken. Praktisch lässt sich dieser ideologische Wandel in der Honecker-Zeit an einer der größten Bürgerinitiativen der DDR, dem Bau von Gemeinschaftsantennenanlagen, gut ablesen. Während unter Ulbricht noch
FDJBrigaden auf die Dächer stiegen um Antennen von der Ausrichtung auf den „Ochsenkopf”
wegzudrehen und den Empfang westlicher Sendungen so zu verunmöglichen, konnten in den 1970iger
Jahren (mit etwas Glück und guten Beziehungen) PAL-taugliche Fernseher gekauft werden. Das ist eine
der DDR-Typischen Schizophrenien: alle wussten, dass alle wussten, aber niemand hat darüber
gesprochen. Die Antennenanlagen wurden offiziell natürlich für den Empfang des DDR-Fernsehens
beantragt und genehmigt. Aber: alle wussten, dass alle wussten: niemand hätte eine Schippe angefasst um Kabelgräben auszuheben fürs „Ostfernsehen”. Es ging nur ums „Westbild” – Ein DDR-Gruß hieß:
Atomfreies Wochenende und gutes Westbild!”. Die Einschätzung ist sicher nicht falsch: Die SED hatte ihre
Ideologie schon ziemlich resigniert aufgegeben. Sie rechnete nicht mehr damit – was bei Ulbricht
durchaus noch der Fall gewesen ist – dass der Sozialismus in absehbarer Zeit zu „verwirklichen” wäre.
Hier trat die den Theologen nur allzu bekannte „Parusieverzögerung” ein. Hinzu kam, dass die notorische
Devisenknappheit der DDR zu Zugeständnissen führte, die überhaupt nicht in die Ideologie passten und
den gläubigen Genossen nur schwer zu erklären waren: Intershops, westlich finanzierter Autobahnbau, Milliardenkredite (von Franz Josef Strauß vermittelt!) gegen den Abbau von Minenfeldern und Selbstschussanlagen und schließlich sogar die Erlaubnis zu Kirchenneubauten gegen Westgeld. Das alles
bedeutete für die Kirchen und besonders auch für die Studentengemeinden eine große
Herausforderung: niemand war mehr da und willens, weltanschaulich zu streiten. An den Hochschulen
verkamen die auch für Theologen obligatorischen Lehrveranstaltungen für Marxismus-Leninismus zur
totalen Nebensächlichkeit. Schon Kinder waren darin geübt das zu sagen, was die Verantwortlichen hören wollten. Sie lernten vor allem schon frühzeitig zu unterscheiden wo etwas gesagt werden konnte,
was man in der z.B. in der Schule nicht sagen darf. Aber: alle wussten, dass alle wussten …. Nicht zufällig
bekam die belletristische Literatur damals eine ganz entscheidende Bedeutung. Hier wurden versteckt
und manchmal verklausuliert die Themen diskutiert, die eigentlich hätten in den Zeitungen und
Zeitschriften aufgegriffen werden müssen. Und auch nicht zufällig: Bei der Partei gerieten kritische
Schriftsteller der DDR unter besondere Beobachtung. Unter Ihnen setzte ein Massenexodus in die
Bundesrepublik ein und ließ resignierende Leser zurück. Der ideologische Streit wäre ein Thema der
Studentengemeinden gewesen, aber der fand nicht statt. Hingegen war wirklich widerständiges
Verhalten nicht unbedingt Sache der Studentengemeinden. Studenten hatten eben mehr zu verlieren als
„ihre Ketten”. In den Friedens-, Umweltund Menschenrechtsgruppen waren auch Studenten engagiert,
aber die Studentengemeinden als Gruppe waren da eher zurückhaltend. Ja, einige mussten die
Erfahrung machen (z.B. die ESG in Berlin) dass Studenten wegblieben, wenn an den Gemeindeabenden
zu aufmüpfig diskutiert wurde oder „Aktionen” vorbereitet werden sollten. Die Studentengemeinden
waren – etwa im Vergleich mit den 68igern – wieder viel „frommer” geworden. Allerdings hat sich auch
gezeigt, dass die Gemeinden helfen konnten, Studierende im Glauben zu stabilisieren und das hat sie
wiederum entschiedener und mutiger im Leben gemacht. Wir konnten damals die Feststellung machen,
dass Glaubenshilfe wirkliche Lebenshilfe ist und dass Menschen, die Gott „Gott” sein lassen, es
hoffentlich leichter haben, den Menschen „Mensch” sein zu lassen und es nicht nötig haben, ihn zu
vergötzen oder zu verteufeln. Das gilt bis heute. Und dass die, die Gott fürchten, die Menschen ein
bisschen weniger fürchten. Und dass die, die sich vor Gott beugen, mit einem geraden Rücken vor den
Menschen stehen. Das ist eine große Hoffnung, die eine Basis bildete für das, was wir in den
Studentengemeinden damals geleistet haben.
IV.
Wie wichtig diese Arbeit ist, das merken wir Heute. Jetzt, nach dem Ende der DDR und auf dem
Hintergrund westlicher individualisierter Lebensverhältnisse, ist zu spüren, dass die SED ideologisch gar
nicht so erfolglos war, wie etwa auf ökonomischem Feld. Ein „praktischer Atheismus” hat sich
durchgesetzt, der sich heute paart mit einer ziemlichen Interessenlosigkeit. Einer der wichtigsten
Glaubensätze der heutigen Menschen lautet wohl: „Das muss doch jeder selber entscheiden.” In vielerlei
Hinsicht lässt sich von einer ausgesprochenen „Bindungsscheu” junger Menschen sprechen. Das gilt für
die Partnerbeziehungen bis hin zur Mitgliedschaft in Parteien und gesellschaftliche Organisationen, die
Kirchen eingeschlossen. Es gilt aber eben auch hinsichtlich der Bindung an Überzeugungen, Haltungen
und Einstellungen. Es ist heute nicht „in” eine Überzeugung zu haben und eine Position mit
Wahrheitsanspruch zu vertreten: „Das muss doch jeder selber entscheiden … ”. Mittlerweile ist auch die
Generation herangewachsen, die von ihren Eltern nicht oder fast nichts in Bezug auf Glauben und
Religion mitbekommen hat. Die Eltern der heute jüngeren Erwachsenen hätten auch gar nichts
weitergeben können, weil sie selbst schon kaum etwas empfangen haben. Eltern haben aufgehört – aus
Rücksichtnahem auf ihre Kinder – die Kinder zur Taufe zubringen, zum kirchlichen Unterricht zu schicken
und konfirmieren zu lassen. Nach zwei Generationen war dann die kirchliche Bindung „ausgelaufen”.
Dazu brauchten die damaligen Eltern gar nicht aus der Kirche auszutreten. Es reichte die Zurückhaltung
im Blick auf die religiöse Sozialisation der Kinder und Enkel. Heute, nach dem Ende der DDR, haben wir etliche unter den ganz alten Gemeindgliedern, die ziemlich bekümmert sind, wenn sie im Blick auf
Religion und Glauben an ihre Enkel und Kinder denken: Das haben sie doch nicht gewollt, dass nun gar
nichts mehr da ist. Sie haben es doch gut gemeint und aus Liebe zu ihren Kinder so gehandelt. Das
Resultat haben wir alle vor Augen: Fragt man heute etwa Studenten oder auch kirchliche Mitarbeiter in
der Diakonie, die mit ziemlicher Regelmäßigkeit keiner Kirche angehören, wie das denn in ihrer Familie
gewesen mit Glauben, Religion und Kirche, ob sie z. B. wissen, wann das aufgehört hat, dass die Kinder
getauft worden sind oder konfirmiert, ob z.B. der Großvater Kirchenmitglied gewesen, dann erhält man
sehr oft zur Antwort: Nein, das weiß ich gar nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht, darüber hat
noch niemand in unserer Familie gesprochen. Es gibt heute keinen wirklichen weltanschaulichen Streit in
der (östlichen) Gesellschaft. Ginge man auf die Straße oder den Uni-Campus und fragte: „Bist Du Christ
oder Atheist?”, dann würden vermutlich die meisten antworten: „Ich bin nichts, ich bin normal”. Es ist
also nicht das Thema unserer Zeit. Die Leute haben eben nicht nur Gott vergessen, sondern sie haben
vergessen, dass sie Gott vergessen haben.
V.
Aber: Jammern nützt nichts, gerade aus dem Glauben muss die Fähigkeit folgen, jeder Situation ins Auge
zu blicken, deswegen muss man das ganz nüchtern wahrnehmen. Allerdings gilt auch heute: Das Leben
in einer offenen, demokratischen Gesellschaft erfordert es, dass Gruppen vorhanden sind, die helfen
Werte zu bilden und Überzeugungen zu stabilisieren. Wir spüren das natürlich, aber meist versuchen wir,
Probleme dadurch zu lösen und zu verhindern, dass wir das Recht verschärfen und also vornehmlich auf
Kontrolle setzen. Also: Wenn etwa die Banken verrückt spielen, dann rufen alle nach mehr Kontrolle und
mehr Aufsicht. Oder: Jetzt gibt es ja sogar den Vorschlag, dass alle Dissertationen durch den Computer
geschickt werden sollen, damit Plagiate sichtbar werden. Aber: Die Verschärfung des Rechts in diesem
Geist weckt geradezu Phantasien, nach neuen Schlupflöchern zu suchen. In unserer Gesellschaft scheint
daher schon eine Art unseliger Wettbewerb ausgebrochen zwischen „Schlupflochsuchern” und
„Schlupflochstopfern”, wobei die ersteren immer etwas schneller zu sein scheinen. Am Ende braucht es
doch die nüchterne Überzeugung: „So etwas macht man nicht!”. Sie können das bei sich selber testen,
ob sie sich im Straßenverkehr ordentlich verhalten aus Einsicht, oder weil geblitzt wird. Es ist natürlich
nicht falsch zu sagen, dass es Recht und Ordnung in der Welt braucht. Wer wüsste das besser als
Protestanten. Schon Luther hat es als „Schwärmerei” bezeichnet, zu meinen: Wenn alle fromm sind,
braucht man keine Polizei mehr. Das ist Schwärmerei. Es braucht Recht und Ordnung. Aber wir müssen
auch klar sehen, dass es – wiederum nach Luther – „eitel Heuchelei” ist, zu meinen, eine Gesellschaft
nur mit Recht und Ordnung regieren zu wollen. Es braucht nämlich Menschen, die sich freiwillig und aus
Einsicht ordentlich verhalten und nicht, weil sie sonst gestraft werden. Ich kann nicht sagen: weil der
Doktorvater einen PC hat, darf ich nicht falsch zitieren. Ich muss es von mir aus und um meiner selbst
willen wollen. Und wo bestärke ich genau diesen Willen? Der Staat kann das mit der Verschärfung von
Aufsicht und Kontrolle nur schwer durchsetzen. Der demokratische Staat kann den Bürgern Freiheit
garantieren, das ist auch seine Aufgabe. Aber er kann nicht garantieren, dass die Bürger ihre Freiheit
auch zum Wohle der Gemeinschaft gebrauchen und nicht egoistisch missbrauchen. Das kann der Staat
nicht garantieren. Luther hat deshalb schon auf – seiner Meinung nach – zwei wichtige Berufe gesetzt:
Juristen und Theologen, weil die Juristen für die Ordnung sorgen müssen und die Theologen für den guten Menschen. Es sei die Obrigkeit dafür verantwortlich, die entsprechenden Schulen zu errichten und
die Eltern müssen ihre Kinder zur Schule schicken und nicht einfach nur zum Geldverdienen erziehen.
„Und kehre dich nichts dran, daß jetzt der allgemeine Geizwanst die Wissenschaft so sehr verachtet und
sagt: Ha, wenn mein Sohn deutsch schreiben, lesen und rechnen kann, so kann er genug; ich will ihn zum
Kaufmann (in die Lehre) tun. Sie sollen in Kürze so kirre werden, daß sie einen Gelehrten gern zehn Ellen
tief aus der Erde mit den Fingern grüben. Denn der Kaufmann soll mir nicht lange Kaufmann sein, wo die
Predigt und die Rechte hinfallen, das weiß ich fürwahr. Wir Theologen und Juristen müssen bleiben, oder
sie sollen allesamt mit uns untergehen; das wird mir nicht fehlgehen. Wo die Theologen aufhören, da
hört Gottes Wort auf und bleiben nichts als Heiden, ja nichts als Teufel; wo die Juristen aufhören, da hört
das Recht samt dem Frieden auf und bleibt nichts als Raub, Mord, Frevel und Gewalt, ja nichts als wilde
Tiere. Was aber der Kaufmann erwerben und gewinnen wird, wo der Frieden aufhört, das will ich ihm
alsdann sein Kassenbuch sagen lassen, und wie nütze ihm alsdann all sein Gut sein wird, wo die Predigt
dahinfällt, das soll ihm sein Gewissen recht zeigen.”
Das mutet heute natürlich etwas schlicht an, was Martin Luther in seiner „Predigt dass man Kinder zur
Schule halten soll”, darstellt. Aber der Kern ist richtig: Recht ist nötig, aber Recht allein reicht nicht aus.
VI.
Auch wir brauchen heute beides, auch wenn es etwas komplizierter geworden zu sein scheint. Wie
funktioniert Überzeugungsbildung unter den Bedingungen des freiheitlichen, weltanschaulich neutralen
Rechtsstaates? Es ist richtig: Der weltanschaulich neutrale Staat kann und darf keine Überzeugungen
vorgeben. Wir im Osten sind froh darüber, dass es vorbei ist, dass der Staat – „zum Wohl des Volkes” –
eine Weltanschauung vorzuschreiben sich bemühte. Aber es ist falsch daraus nun abzuleiten, dass der
Staat wegen seiner weltanschaulichen Neutralität nun passiv auf diesem Felde zu sein habe. Der
bekannte Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das so formuliert: Der weltanschaulich
neutrale Staat hat die Aufgabe, „raumgebend” tätig zu sein. Er muss „Räume” ermöglichen, in denen sich
Werte und Überzeugungen bilden können. Er tut das, indem er Museen unterhält und Universitäten,
Archive, Theater und öffentlichrechtlichen Rundfunk usw. In diesen „Räumen” selbst ist dem
weltanschaulich neutralen Staat dann große Zurückhaltung auferlegt. Er geht damit freilich ein Wagnis
ein, aber das muss er tun, da er selbst nicht die Voraussetzungen schaffen kann, auf denen eine
demokratische Gesellschaft aufbaut. An diesem Punkt haben dann auch die Kirchen etwas zu sagen: Da
können wir uns als Christen nicht drücken. Wir sind nicht die Einzigen – das wollen wir auch gar nicht
beanspruchen –, aber wir sind die unwichtigste gesellschaftliche Gruppe nicht, die dazu helfen kann,
Werte und Überzeugungen zu bilden und bei den Menschen zu stabilisieren. Das ist keine leichte
Aufgabe, aber gerade die Kirche haben dazu gute Voraussetzungen, weil man ja weiß: Werte,
Überzeugungen, Haltungen lassen sich niemals nur „über den Kopf”, gewissermaßen durch Belehrung
vermitteln. Darin muss man sich üben. Die Kirche hat ein Kirchenjahr, eine Liturgie, sie hat Feste und
Feiern und Fastenzeiten. Und: Alle Jahre wieder ist Weihnachten. Und jeden Sonntag kann man es hören,
auch wenn es möglicherweise von Montag bis Samstag wieder etwas „wegrutscht.” Aber dann kommt ja
wieder der Sonntag. Wertebildung muss geübt, eingeübt und trainiert werden, am Besten von
„Kindesbeinen” an bis ins hohe Alter. Ein weiterer Vorteil für die Kirchen ist, dass sie, weil sie wissen,
dass Menschen „Menschen” und eben keine Heiligen oder kleine Götter sind, mit Schuld und Versagen umgehen können. Sie helfen Menschen nach Niederlagen wieder aufzustehen und einen neuen Anfang
zu wagen. Denn bei allen guten Vorsätzen und bei allem, was ich wirklich will: ich bleibe – wenn ich
ehrlich bin – hinter meinen eigenen Zielen zurück. Es gibt eine Differenz zwischen meinem Wollen und
meinem Vollbringen. Der Glaube will mir helfen zum nüchternen und wahrhaftigen Umgang mit mir und
meinem „Zurückbleiben” hinter dem, was ich mir vorgenommen habe. Ich gebe ihnen ein Beispiel dafür,
wie äußere Formen innere Haltungen bestärken können: Ich habe z. Z. einen kirchlichen Auftrag für das
Verhältnis unserer Kirche zu den Organisationen des Handwerks. Betrachtet man die Entwicklung der
letzen Jahre, so ist deutlich, dass auch im Osten wieder verstärkt auf Traditionen des Handwerks
(Meisterfeiern, Innungstage, „Freisprechungen” etc.) gesetzt wird. Das alte Brauchtum, auch mit
öffentlichen Umzügen und Fahnenschwenken ist zurückgekehrt. Es war auch in der DDR nie ganz
beseitigt, aber stark eingeschränkt. Heute ist daran abzulesen, wie Brauchtum Werte stabilisieren hilft.
Was „ehrbares Handwerk” ist, muss man auch „körperlich” und fassbar erfahren. Manche Universitäten
überlegen, wie sie z.B. Promotionsfeiern wieder würdiger gestalten können (Doktorhüte?). Und sogar
manche Schulen wollen ihre Abschlusszeugnisse am liebsten in einer Kirche überreichen. Alle
Institutionen haben die Aufgabe Werte zu sichern und gegen die „Tagesform” zu schützen.
VII.
Wir können froh sein, dass wir als Kirchen mit so vielen Möglichkeiten und Chancen heute mit tätig sein
können. Das gilt auch für die kirchliche Arbeit an und mit Studierenden. Und: Die Studentengemeinden
stehen da vor spannenden Herausforderungen. Wir haben heute schon gehört, dass die
Studentengemeinden schon in der DDR ziemlich stolz drauf waren, dass sie – katholisch und evangelisch
– viel gemeinsam tun konnten und die Oekumene bei ihnen lebendig war. Aber wie funktioniert das
heute mit anderen Gruppen, z.B. an der Universität? Ich sehe da eine große Aufgabe für unsere ganze
Gesellschaft und an der Universität können wir das schon ein bisschen üben: Wie leben Leute mit
verschiedenen Religionen, verschiedenen Weltanschauungen zusammen? Das ist für unsere Kirchen die
härteste Herausforderung, vor der wir heute stehen. Denn die Leute im Lande glauben uns das nicht
mehr, dass von Kirche oder vom Glauben eine Friedfertigkeit ausgeht. Es gibt viel mehr Menschen als wir
denken, die sagen: Bloß gut, dass wir das hier im Osten mit der Religion hinter uns haben, schaut sie
euch doch an, schaut nach Nordirland, nach Pakistan und nach Israel. Die hauen sich doch bloß
gegenseitig die Köpfe ein. Wenn es keine Religion gäbe, wäre die Welt viel friedlicher. So oder ähnlich
denken heute viel mehr Menschen, als wir vermuten. Und das ist eine große Herausforderung für uns: zu
zeigen, dass wir das hinkriegen, dass verschiedene Konfessionen und Religionen miteinander
auskommen und im Gespräch miteinander stehen können. Es gibt ja selbst in der Universität in Leipzig
nicht nur evangelisch und katholische Christen, es gibt ja auch andere christliche Gruppen, die nicht zur
KSG oder ESG gehören (z. B. die stärker evangelikal ausgerichtete SMD oder auch „Campus für Christus”).
Und es gibt es gibt christliche Gruppen mit anderer Kulturprägung, „Migrationsgemeinden” zu denen
auch Studenten gehören. Und dann die anderen Religionen, die in einer pluralen Gesellschaft und ihren
Universitäten nun einmal alle vorhanden sind. Auch wenn wir im Osten erst anfangen das zu erleben und
immer noch eine gewisse kulturelle Geschlossenheit haben: Wir dürfen schon einmal ein wenig üben.
Wir stehen vor der Aufgabe zu zeigen, dass von Glauben und Religion Friedfertigkeit ausgeht und Liebe
zu den Menschen. So ganz einfach nehmen es die Menschen nicht mehr ab. Wir sind es schuldig, diesen Beweis anzutreten.
VIII.
Es reicht nämlich nicht mehr darauf zu verweisen: Wir sind doch alle so tolerant. Der Toleranzbegriff
verkommt zunehmend zur Banalität. Ich kann nur etwas tolerieren, was ich für falsch halte. Wenn ich es
nicht für falsch halte, kann ich ja zustimmen. Und da muss es Gründe geben, warum ich das, was ich für
falsch halte trotzdem hinnehme, aushalte und akzeptiere. Das können verschiedene Gründe sein. Aber
wir müssen uns klar machen, von Toleranz zu reden ist Unsinn, wenn ich nicht auch von den Grenzen der
Toleranz rede. Das gilt im persönlichen Leben und eben so auch für das Leben einer Gesellschaft.
Grenzen der Toleranz müssen zumeist streitig ermittelt werden, eine schöne und wichtige universitäre
Aufgabe, an der sich die Studierendengemeinden beteiligen können. Wir werden die Welt nicht einfach
verbessern können, aber unsere Gesellschaft braucht das, dass es Menschen gibt, die sich aus
Überzeugung einlassen. Die von ihrer Überzeugung getrieben, etwas tun. Als Christen werden wir dabei
sein und wir haben heute gute Chancen und gute Möglichkeiten.