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Außeruniversitäres Studium generale?

Christliche Studentengemeinden in der DDR

Peter-Paul Straube

Die Ausgangsthese lautet: Die Studentengemeinden in der DDR haben aufgrund ihres spezifischen studentischen Gemeinschaftslebens sowie der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Fragen der Philosophie, Geschichte oder Literatur bei Vortragsabenden, Seminaren oder Bildungswochenenden über den Rahmen ihres eigentlichen theologisch-pastoralen Auftrages hinaus Bildungsarbeit im Sinne eines außeruniversitären Studium generale geleistet. Durch die Beschäftigung mit verschiedenen philosophischen Denkweisen sowie literarischen oder kulturgeschichtlichen Realitätsorientierungen, die in der universitären und staatlichen Öffentlichkeit tabu waren, wurde die ideologisch eindimensionale Erziehung und Bildung im Hochschulwesen nicht nur ergänzt, sondern dieser auch gezielt entgegengewirkt. Dieser These wird exemplarisch bezüglich der Arbeit der katholischen Studentengemeinden (KSG) und deren Entwicklung nachgegangen.

I. STUDIUM GENERALE – GESCHICHTE UND GEGENWART

Hinter dem Stichwort „Generalstudium” verstecken sich zwei unterschiedliche Ausprägungen. Studium generale diente zunächst als Bezeichnung für die mittelalterliche Universität an sich. Zum ersten Mal taucht der Begriff Studium generale in einer päpstlichen Bulle aus dem Jahre 1233 als Bezeichnung für die Hochschule von Paris auf. Bedeutende Generalstudien existierten u.a. in Magdeburg, Erfurt und auch in Leipzig. Zum Zweiten steht Studium generale für eine nach 1945 aus der Reformbedürftigkeit der deutschen Hochschulen erwachsene Universitäts-Einrichtung bzw. – Bewegung, die über alle Geteiltheit und Zerissenheit hinweg wieder eine Einheit von Lehre und Forschung sowie von Professoren und Studenten – hier klingt die Humboldt’sche Universitätskonzeption an – durch gemeinsame Seminare, Gast- und Ringvorlesungen, interfakultative Zusammen- arbeit, studentische Wohngemeinschaften, Studienhäuser und fächerübergreifende Tagungen zum Ziel hatte. An vielen Universitäten und Hochschulen der drei Westzonen kam es Ende der 40er Jahre zur Einrichtung derartiger Studium generale-Veranstaltungen. Hauptveranstaltungsformen waren neben den schon erwähnten Ringvorlesungen Kolloquien, Arbeitsgemeinschaften oder der sogenannten Dies academicus. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre verflachte die Studium generale-Bewegung immer mehr und hatte in den 60er Jahren de facto keine Bedeutung mehr. In den 70er Jahren kam es in der Bundes- republik Deutschland vor allem in Folge der 68er Studentenbewegung an einzelnen Universitäten und Hochschulen in sehr unterschiedlicher Ausprägung zu einer punktuellen Wiederbelebung der Studia generalia. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR wurde der Begriff Studium generale explizit nicht verwendet, dessen Anliegen jedoch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg partiell verfolgt. Auf einem Kongress der Vertreter von Studentenräten der SBZ im Juni 1947 in Halle erreichte man erst nach äußerst kontrovers geführten Diskussionen insbesondere zur Frage einer möglichen Wiederholung der Verabsolutierung einer Philosophie oder Weltanschauung an den Universitäten und Hochschulen – der Marxismus/Leninismus wurde als sehr anfällig in dieser Hinsicht eingeschätzt – einen Konsens darüber, „dass die permanente philosophische Diskussion und die Auseinandersetzung um weltanschauliche Fragen über das Fachliche hinaus immanenter Bestandteil des Studiums sein müsse.” In der in Ostberlin herausgegebenen Zeitschrift „Forum” heißt es in einer hier veröffentlichten Denkschrift der deutschen Studenten, die an- lässlich der ersten interzonalen Studententagung Anfang 1948 in Berlin verfasst wurde: „Allgemeinbildende Vorlesungen und staatspolitischer Unterricht scheinen das einzige Mittel zu sein, Staatsbürger zu bilden.” Gleichzeitig wurden die auf Anweisung der SMAD, der Sowjetischen Militäradministration, eingeführten und in der Regel im Sinne der marxistisch-leninistischen Ideologie determinierten Pflichtvorlesungen zu politischen und aktuellen Fragestellungen kritisch beurteilt. „Die zur Zeit abgehaltenen Pflichtvorlesungen tragen nicht den gegebenen Forderungen Rechnung, sondern sind eher geeignet, den Studenten vom politischen Leben abzustoßen, da in ihnen zu den Problemen der heutigen Zeit fast ausnahmslos einseitig Stellung genommen wird.” Deshalb verlangte man, dass sich Vertreter verschiedener politischer Richtungen an den Pflichtvorlesungen beteiligten sollten und dabei auch die gesamte Bandbreite der Philosophie zur Sprache kommen müsse. Im Zusammenhang mit der Transformierung des Hochschulwesens in der SBZ/DDR bei der 2. Hochschulreform 1951/52 nach sowjetischem Vorbild wurde der grundsätzlich atheistisch und religionsfeindlich determinierte Marxismus-Leninismus auf administrativem Wege zur alleinigen Grundlage der Auseinandersetzung mit Wissenschafts-, Weltanschauungs- oder Lebensfragen an den Universitäten und Hochschulen bestimmt. Alle anderen Denkansätze wurden als überholt, spätbürgerlich und unwissenschaftlich abgetan. Die Abschaffung des totalitären Staatswesens und die damit verbundene Aufhebung der Unterordnung von Wissenschaft und Bildung unter die ideologischen Vorgaben der SED waren nach den Ereignissen im Herbst 1989 unabdingbare Voraussetzungen für die jetzt angestrebte demokratische Erneuerung der Universitäten und Hochschulen. Schon zu Beginn des Jahres 1990 ist es im Kontext der universitären Reformbemühungen an vielen Universitäten und Hochschulen in der DDR zur Einführung von in der Regel wahlobligatorischen Studia generalia mit dem Ziel gekommen, die wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen Defizite und Verformungen der sozialistischen universitären Theorie und Praxis aufzuarbeiten. Zunächst hatte es – insbesondere zum Zwecke der Existenzsicherung von Lehrenden des Marxistisch-lenistischen Grundlagenstudiums – Versuche gegeben, Studium generale-Veranstaltungen als Ersatz für das Marxistisch-leninistische Grundlagenstudium anzubieten; die sogenannten gesellschaftswissenschaftlichen Fächer waren in politik- und sozialwissen- schaftliche umbenannt worden, was sich jedoch als Etikettenschwindel herausstellte. Gleichzeitig gab es aber auch Initiativen, die in eindeutiger Abgrenzung zum Marxistisch-lenistischen Grundlagenstudium die Einführung eines demokratisch und pluralistisch geprägten Studium generale betrieben. Es stellte sich bald heraus, dass insbesondere in den geisteswissenschaftlichen Fächern eine Erneuerung des Hochschulsystems von innen, d.h. über die alten Kader, nicht gelingen konnte. Neue Bildungsinhalte verlangten nach neuen Bildungsstrukturen und vor allem nach neuen Persönlichkeiten an den Universitäten und Hochschulen. Die Leiter der Sektionen und Institute hatten sich nicht selten über das Stellen der Vertrauensfrage von ihren langjährigen Mitarbeitern im Amt bestätigen lassen und ver- standen dies als demokratischen Prozess. Damit war jedoch weder eine personelle noch eine strukturelle Erneuerung verbunden; diese konnte erst über die Einsetzung von Evaluierungskommissionen und von Gründungsdekanen eingeleitet werden. An Stelle des Begriffes Studium generale lassen sich heutzutage in den Vorlesungs- und Veranstaltungsverzeichnissen weitere Verbindungen des Substantives Studium mit anderen Attributen als generale ausmachen, die einen besonderen Aspekt des Studium generale betonen: „Studium fundamentale” – dadurch soll die Notwendigkeit eines philosophischen Diskurses hinsichtlich der Grundlagen eines Faches sowie der Wissenschaft an sich deutlich werden –, „Studium integrale” – hier wird die integrative Einbindung eines Faches in die Wissenschaft sowie der interdisziplinäre Dialog betont – oder „Studium universale” – dieses richtet den Blick vor allem auf die allgemeine universitäre Bildung.

II. BILDUNG UND GEMEINSCHAFT – KATHOLISCHE STUDENTENGEMEINDE IN DER DDR ALS ORT EINES AUSSERUNIVERSITÄREN STUDIUM GENERALE

1. ZUR GESCHICHTE DER KATHOLISCHEN STUDENTENGEMEINDEN

Hinsichtlich der neuzeitlichen Studentenseelsorge bis 1945 können drei Etappen der Entwicklung konstatiert werden: 1. Von der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis zum Ende des ersten Weltkrieges; 2. von 1918/19 bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und 3. die 12-jährige Zeit der Nazidiktatur bis 1945. Ausgangspunkt für eine spezielle Studentenseelsorge um die Jahrhundertwende war eine allgemeine Verunsicherung und Orientierungslosigkeit unter der Studentenschaft insgesamt. Diese wurde insbesondere hervorgerufen durch eine tief greifende Individualisierung und Technisierung des Studiums seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit dem Impetus der Universitäten und Hochschulen nach Vermittlung eines mehr utilitaristisch ausgerichteten spezifischen Fachwissens als allgemeiner und ganzheitlicher Bildung kam es zu grundsätzlichen Defiziten in der subjektiven Befindlichkeit der Studierenden. Katholische Studierende riefen deshalb in einer von Modernisierung, Technisierung und Säkularisierung geprägten Zeit eines umfassenden Kulturwandels Ende des 19. Jahrhunderts nach eigenen Seelsorgern. Diese bekamen zunächst über die individuelle Seelsorge Kontakt zu den Studierenden. Weitere Ursachen für den Ruf nach einer eigenen Studentenseelsorge sind in dem in diesen Jahren nicht selten defizitär erfahrenen Wechsel aus der vertrauten heimatlichen in die anonyme großstädtische Umgebung sowie in der steigenden Zahl von Frauen unter den Studierenden, die z.B. in die studentischen Verbindungen nicht eintreten konnten, zu sehen. Die wirtschaftliche Not und die Sehnsucht nach geistig-geistlicher Orientierung nach dem Ersten Weltkrieg erforderten eine intensive soziale Arbeit mit den Studierenden sowie religiöse und allgemeine Bildungsarbeit. Die Feier von Gottesdiensten bildete in den 20er Jahren nicht nur das Fundament für die Sammlung einer Gemeinschaft von Studierenden, sondern ebenso für ein nun verstärkt einsetzendes Ringen um ein eigenständiges Gemeindeverständnis. Zu den weiteren Charakteristika der Arbeit mit katholischen Studierenden in dieser Zeit gehörten: intensive Zusammenarbeit mit den katholischen Studentenvereinen und -verbänden; soziale Aktivitäten, auch über den Kreis der Studierenden hinaus; besonderes Augenmerk auf die Arbeit mit Studentinnen. Es handelte sich hier also nicht mehr nur um pastorale Arbeit. Sowohl eine allgemeine Bildungsarbeit wie auch ein intensives Eingehen auf Vorgänge an den Universitäten und Hochschulen sowie aktuelle Zeitfragen wurden in diesen Jahren zu Constitutiva der Arbeit in der katholischen Studentenseelsorge. Sie hatte von Beginn ihrer organisierten Bildungsarbeit von 1917/18 an – die konstituierende Tagung der Vereinigung der katholischen Studenten- und Studentinnenseelsorger für das deutsche Sprachgebiet, die es heute noch gibt, fand 1918 in Leipzig statt – nicht nur um die weitere Entwicklung ihres Selbstverständnisses zu ringen, sondern sich dabei u.a. auch gegen die – nicht selten grundsätzliche – Infragestellung ihrer Spezialpastoral vor allem von Seiten des Klerus der Territorialgemeinden sowie der zuständigen Bischöfe zu wehren und zu behaupten. Von 1933 an kam es verstärkt zur Herausbildung eigener Studentengemeinden. Aufgrund des Verbots von studentischen Vereinen und Verbänden wuchsen diesen während der Zeit des Nationalsozialismus weitere Aufgaben sowohl als Gemeinschaft von Studierenden wie hinsichtlich der Bildungsarbeit zu, die auch in der SBZ/DDR weitestgehend erhalten blieben. Im Mittelpunkt standen: die Versammlung zum Gottesdienst, Gespräche und Diskussionen über (mitunter auch Aktivitäten gegen) einen totalitären Weltanschauungsstaat (so tauschte man sich bei Wanderungen „oberhalb der Vegetations- und Gestapogrenze”, z.B. in den Alpen, aus), religiöse Veranstaltungen als Deckmantel für aktuelle gesellschaftspolitische Gespräche sowie als Raum zur Bildung über den staatlich normierten ideologischen Rahmen hinaus sowie eine aktive Sozialarbeit sowohl untereinander als auch gegenüber Dritten. Das zusammenhaltende Band der Gemeinschaft war die Person des Studentenseelsorgers.

2. KATHOLISCHE STUDENTENGEMEINDE IN DER DDR

Die Geschichte der katholischen Studentengemeinden in der SBZ/DDR kann in zwei Perioden eingeteilt werden: zum einen 1945 bis 1961 und zum anderen 1961 bis 1989. Hintergrund dieser Periodisierung ist der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus, und die damit verbundenen Folgen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in der DDR und somit auch für die Arbeit der Studentengemeinden. Die dadurch entstandene Getthoisie- rung hatte vor allem in den 60er Jahren zur Folge, dass – wie sonst in keinem anderen Jahrzehnt – in den Studentengemeinden intensiv über den geschichtlichen Ort und die gesellschaftspolitische Situation nachgedacht wurde. Politische Bildung stand hoch im Kurs. Man wollte auf die ideologischen Auseinandersetzungen an den Universitäten und Hochschulen vorbereitet sein und sich als katholischer Christ in die gesellschaftliche Ent- wicklung einbringen. Bei Vortragsabenden mit Diskussion, in Seminaren, Arbeits- und Gesprächskreisen in kleinen Hausgruppen, bei regionalen und überregionalen Bildungswochenenden sowie katholischen Studententagen und -wallfahrten wurde eine umfassende Bildungsarbeit geleistet und somit die ideologisch verengte und einseitige Sicht der Wissenschaft und des Menschen im DDR-Hochschulwesen aufgebrochen.

2.1. Aufbruch und Widerstand – 1945 bis 1961

Aufgrund der massiven ideologischen Indoktrinierung des universitären Prozesses sowie der Beibehaltung des durch die Nationalsozialisten ausgesprochenen Verbots von katholischen studentischen Vereinen und Korporationen stellten sich für die Studentengemeinden vielfältige Aufgaben. Standen in den 40er Jahren grundlegende Lebens- und Sinnfragen im Mittelpunkt der Semesterprogramme, so waren es in den 50er Jahren Grundfragen der Philosophie, ausgelöst durch die 2. Hochschulreform 1951/52 und die Einführung des Marxismus-Leninismus als Pflichtfach für alle Studienrichtungen, der mit einer Flut von antireligiöser und militant atheistischer Literatur propagiert wurde. Bücherspenden aus der Bundesrepublik, die dem Aufbau von Bibliotheken in den Gemeinden dienten, sowie katholische Studententage, Begegnungstreffen mit westdeutschen Studentengemeinden und regionale Bildungsveranstaltungen erwiesen sich als Basis notwendiger geistiger Auseinandersetzungen. Insbesondere Anfang der 50er waren die Studentengemeinden und ihre Mitglieder öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt – die Hoffnung auf einen demokratischen Aufbruch war längst verflogen. Im Kontext der 2. Hochschulreform wurden die Studentengemeinden aus dem universitären Raum „unter das Dach” ihrer Kirchen gedrängt. Sie wurden dort zu geistigen Oasen. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre verhielten sich universitäre und staatliche Stellen taktisch anders gegenüber den Studentengemeinden im Vergleich zu 1952/53, nämlich moderater. Man griff die Studentengemeinden als Institution nicht mehr öffentlich an, ging aber weiter gezielt gegen deren Mitglieder vor; anstelle von Liquidierung war Differenzierung angesagt.

Exkurs 1: Verbannung der Studentengemeinden aus dem universitären Raum „unter das Dach der Kirchen” 1950 bis 1953

Den verantwortlichen Funktionären der DDR-Hochschulpolitik war die Arbeit der Studentengemeinden schon deshalb grundsätzlich suspekt, weil diese gesamtdeutsch organisiert wurde und man keinen direkten Einfluss auf ihre Arbeit nehmen konnte. Die staatlichen und universitären Behörden verfolgten deshalb das Ziel, die Studentengemeinden aus dem offiziellen universitären Alltag – sie standen der Erziehung einer sozialistischen Intelligenz im Wege – in den Raum der Kirche, „unter das Dach der Kirchen”, zu verbannen, der man kein langes Überleben unter sozialistischen Verhältnissen in Aussicht stellte. Das mitunter radikale Auftreten der SED Anfang der 50er Jahre an der Basis zeigt ein Bericht über eine Parteiversammlung der SED-Betriebsgruppe der Pädagogischen Fakultät der Leipziger Universität vom 09.06.1950: „Als Hort der Reaktion und der grundsätzlichen Ablehnung, der FDJ beizutreten, werden hauptsächlich die katholische und evangelische Studentengemeinde bezeichnet … Es wurde einstimmig der Beschluss gefasst, dass ein Ausschuss der Nationalen Front gebildet werden wird. Sodann werden alle Studierenden, die der FDJ nicht angehören, gezwungen, vor diesem Ausschuss Stellung zu beziehen. Es gäbe nur 2 Möglichkeiten: Eintritt in die FDJ oder Exmatrikulation und sei es auch 14 Tage vor dem Staatsexamen.”

Bis Ende der 40er Jahre war es noch üblich gewesen, dass die evangelischen und katholischen Studentengemeinden in den Vorlesungsverzeichnissen der Universitäten und Hochschulen aufgeführt wurden. Noch im Oktober 1949 wurde der Leipziger Studentenpfarrer Becker persönlich zum Rektoratswechsel eingeladen, auch zu einer Universitätsveranstaltung zum Thema „Zweijahresplan und Hochschule” im November 1948 ist eine Einladung des Studentenpfarrers nachweisbar. Im Jahre 1948 war noch überlegt worden, Studentenpfarrer dem jeweiligen Rektor zu unterstellen. Vier Jahre später wird in einer Aktennotiz des Staatssekretariates für das Hochschulwesen vom 28.05.1952 ausge- führt: „Die heute wieder amtierenden Studentenpfarrer sind eine völlig ungesetzliche Institution … Sie werden von den Kirchenleitungen ernannt und bezahlt, weil die Auswahl ihrer Person dafür garantiert, dass sie den staatsfeindlichen Zielen der reaktionären Kirchenleitungen in jedem Sinne dienen … Durch die kirchliche Bindung werden die Studenten bewusst der Lebensgemeinschaft mit den anderen Studenten und damit der gesellschaftlichen Erziehung und auch der Möglichkeit, in der FDJ-Hochschulgruppe mitzuarbeiten, entzogen.” Der Rektor der Hallenser Universität, Agricola, veranlasste im Juli 1952 den Dekan der Juristischen Fakultät sowie den Universitätsrat Gutachten zu erstellen und den Nachweis zu erbringen, dass „Studenten”-Pfarrer ihrer Titel zu Unrecht trügen, weil dadurch in der Öffentlichkeit die Meinung entstehen könne, es handle sich bei ihnen um Universitätsangehörige. Mit diesen Vorgängen korrespondiert das Verdrängen der Studentengemeinden von den schwarzen Brettern und aus den Räumlichkeiten der Univer- sitäten und Hochschulen. In einer gemeinsamen Einladung der ESG und KSG Leipzig an Neuimmatrikulierte aus dem Jahre 1952 heißt es noch: „Unsere Aushänge und Monatspläne befinden sich am Eingang der Universitätskirche u. an mehreren Stellen der Innenstadt.” In einem Schreiben des Staatssekretärs für das Hochschulwesen vom 17.11.1952 an den Rek- tor der Leipziger Universität wird aufgrund von nicht näher bezeichneten Hinweisen festgestellt: „Die Studentenpfarrer sowie die evangelischen und katholischen Studentengemeinden (bzw. die sogenannten ‚Jungen Gemeinden’) gehören nicht zu den an den Universitäten und Hochschulen zugelassenen Personen bzw. Organisationen, sondern sind lediglich im Bereich der Kirche tätig. Daher dürfen den Studentenpfarrern und den Studentengemeinden keinesfalls staatliche, d.h. universitätseigene Räume für Veranstaltungen zur Verfügung gestellt werden.”

Bereits vier Tage später teilte der Rektor der Leipziger Universität, G. Mayer, dem Staatssekretariat mit, dass er bereits von der Hochschulgruppenleitung der FDJ auf die Werbung der Studentengemeinden an schwarzen Brettern der Universität aufmerksam gemacht worden sei und er dies sofort verboten hätte. Insbesondere im Jahr 1953 wurden die Studentengemeinden im Zuge der Auseinandersetzungen mit der „Jungen Gemeinde” durch staatliche Stellen, durch den Staatssicherheitsdienst und die FDJ immer wieder provoziert und u. a. als Agentenzentralen, als illegal und ungenehmigte Organisation diffamiert. Abschließend kann gesagt werden: Bei offiziellen Bildungsveranstaltungen der Studentengemeinden wurde die offene Konfrontation mit dem Marxismus-Leninismus und den Gesellschaftsbedingungen in der DDR in der Regel vermieden. Ziel war es, sich inhaltlich damit auseinander zu setzen, um gegebenenfalls im universitären Alltag argumentativ gewappnet zu sein. Die Sprecherinnen und Sprecher gewannen in diesen Jahren zu- nehmend nicht nur hinsichtlich der Organisation der Arbeit der Studentengemeinden, sondern auch in Bezug auf die inhaltliche Konzipierung der Semesterprogramme an Bedeutung. Nicht wenige katholische Studierende flohen in diesen Jahren in die Bundesrepublik Deutschland, wodurch die Arbeit der Studentengemeinden mitunter beeinträchtigt wurde.

2.2. Engagement und Verweigerung – 1961 bis 1989

Aus den thematischen Akzentsetzungen der Veranstaltungen der Studentengemeinden im Zeitraum von 1961 bis 1989 lassen sich zwei Etappen der Bildungsarbeit feststellen: Zum einen die Etappe von 1961 bis Anfang der 70er Jahre, die von der Suche nach einem verantwortlichen Platz als christlicher Studierender und Akademiker in der DDR-Gesellschaft geprägt war: Man wollte sich kirchlich und gesellschaftlich einbringen, engagieren. Zum anderen von Anfang der 70er Jahre bis zum Zusammenbruch der SED-Diktatur im Herbst 1989, in der zunächst ein resignativer Rückzug auf religiöse Fragesellungen festzustellen ist, man sich dem kirchlichen und gesellschaftlichen Gespräch nicht mehr stellte, sich verweigerte; Anfang der 80er – insbesondere ausgehend von Friedensdiskussionen und der Reserveoffiziersproblematik – ist es wieder zu einer partiellen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemstellungen gekommen. Grundsätzlich ist auch für diesen Zeitraum zu konstatieren: In den Studentengemeinden versammelten sich vor allem, aber nicht ausschließlich, katholische Studierende der verschiedenen Hoch- und Fachschulen eines Studienorts. Sie boten ein Forum für Bildungsarbeit und Diskussionen sowie Raum für kulturelle und soziale Aktivitäten und persönliche Gespräche. Der Höhepunkt des wöchentlichen Gemeindelebens war der Hauptabend, in der Regel mit Vortrag und Diskussion. Die Themen dieser Vorträge waren nicht primär von religiösem oder theologischem Inhalt. In einem weitaus größeren Umfang wurden Fragen der Philosophie und Soziologie, naturwissenschaftliche Problemstellungen oder Themen aus Kunst und Literatur sowie von aktuellen gesellschaftlichen oder kirchlichen Entwicklungen ausgehende Fragestellungen behandelt. Der Hauptabend wurde in vielen Studentengemeinden mit einem Gottesdienst begonnen. Zu den weiteren Programmpunkten der wöchentlichen Bildungsarbeit sind Glaubens- und Bibelseminare sowie thematische Arbeitskreise und Wochenendseminare zu zählen, in denen ebenso Fragestellungen der Philosophie, Kunst, Geschichte oder Literatur häufiger anzutreffen sind als theologische oder kirchliche Themen. So hatten die Studierenden die Möglichkeit zu einem fächer- und semesterübergreifenden Dialog, der im Alltag des verschulten DDR-Hochschulwesens nicht möglich war. Den Bibliotheken der Studentengemeinden kam in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu, weil sie mit einer Vielzahl in der DDR nicht zugänglicher belletristischer und wissenschaftlicher Literatur ausgestattet waren. Diese Bibliotheken wurden vor allem mit Hilfe der westdeutschen Partnergemeinden aufgebaut. Auf oft abenteuerlichen Wegen, u. a. über Polen, wurden diese Publikationen in die DDR gebracht. Büchersendungen aus Westdeutschland per Post wurden häufig Fällen beschlagnahmt. Der jährliche Höhepunkt der Arbeit der Studentengemeinden war das Patronatsfest – mit Festakademie und Festgottesdienst sowie nicht selten mit einem von den Studentinnen und Studenten vorgeführten Theaterstück –, zu dem neben den Studierenden insbesondere die Absolventen der Gemeinde sowie Studierende anderer Studentengemeinden eingeladen wurden. Weitere hervorzuhebende Programmpunkte sind ökumenischen Aktivitäten, die in der Regel in ihrer Intensität weit über die ökumenische Arbeit in den Ortsgemeinden hinausgingen und vorbildhaft für diese waren, die Partnerschaftsarbeit mit westdeutschen Gemeinden, bei denen über die persönliche Kontaktnahme hinaus auch thematisch gearbeitet wurde, gemeinsame Ferienfahrten oder der Besuch von Kulturveranstaltungen. Das primäre Ziel der Arbeit der Studentengemeinden wurde in der Befähigung der Studierenden zu einer Lebensorientierung aus dem christlichen Glauben gesehen. In einem Aufgabenkatalog der katholischen Studentengemeinden aus den 70er Jahren heißt es: „Ausgehend von den Erwartungen und Bedürfnissen soll das Gemeindeleben beitragen zu kritischem Bewußtsein, zu Mündigwerden, zur Persönlichkeitsbildung. Das Gemeindeleben soll Hilfe zur Selbsthilfe sein. … Die Studentengemeinde soll eine Vertrauensatmosphäre schaffen, in der sowohl weiterhelfende Gespräche als auch harte sachliche Auseinandersetzungen möglich sind. Dabei ist von jedem das Interesse an der Emanzipation des anderen gefordert.” Verantwortlich für die Arbeit der Studentengemeinden waren Studentenseelsorger sowie Sprecher und der Gemeinderat. In der Regel bildeten zwei bis vier Sprecher, die meist zwei Semester amtierten, mit den hauptamtlichen Mitarbeitern ein Leitungsteam, das dem Gemeinderat rechenschaftspflichtig war. Die Sprecher werden vom Gemeinderat oder direkt von der Gemeinde gewählt. In der Satzung des Gemeinderates der KSG Jena vom April 1970 heißt es: „Die Mitglieder des Gemeinderates sollen in brüderlicher Zusammenarbeit die Situation der Gemeinde und ihrer Umwelt erkennen und die notwendigen seelsorglichen, gesellschaftlichen, missionarischen und ökonomischen Aufgaben überlegen und verwirklichen”. Die wichtigste Aufgabe des Gemeinderates bestand in der Erarbeitung des Semesterprogramms. Bis in die 60er Jahre war das Semesterprogramm primär vom Studentenpfarrer gestaltet worden. Der Studentenpfarrer fungierte bis dahin auch bei den meisten Vortragsabenden in seiner Gemeinde als Referent. In den 70er und 80er Jahren wurde die Mehrzahl der Referate von externen Referenten gehalten. Durch die Einbeziehung des Gemeinderates wurde die Erarbeitung der Semesterprogramme auf eine breitere Basis gestellt. Auf diese Weise konnten die Interessen und Bedürfnisse der Studierenden direkt in die thematische Gestaltung der Bil- dungsarbeit einfließen. In Leipzig entstand ein Semesterprogramm, das jeweils ungefähr 14 Vortragsabende umfasst, an einem Sitzungswochenende des Gemeinderats. Das Verfahren dazu war wie in allen größeren Studentengemeinden ein differenziert geregeltes und festgeschriebenes Ritual. Die Vorarbeit für dieses Sitzungswochenende bestand darin, dass Studenten sich in Programmgruppen zusammensetzten und ein komplettes Vortragsprogramm ausarbeiteten. Dazu wurden Fachleute konsultiert, Bücher herangezogen, eigene Interessen, Anliegen und Erlebnisse eingebracht. Die so erarbeiteten Programmvorschläge wurden dann an einem Gemeinderatswochenende vorgestellt und erläutert, dann wieder überarbeitet und erneut vorgestellt, bis ein Vorschlag mehrheitsfähig war. Dieser Vorgang war mehr als nur ein demokratisches Spiel, sondern für die Beteiligten schon ein umfassendes Bildungserlebnis an sich. „Diese Art der Programmwahl war eine nicht zu unterschätzende Schule der Demokratie … In all dem liegt m. E. eine Erklärung, warum nach der ‚Wende’ eine erhebliche Zahl von katholischen Akademikern in der Lage war, verantwortungsvolle Posten in einer sich 1989/90 erst einübenden Demokratie zu übernehmen, warum sie gewissermaßen aus dem Stand Verhandlungen, Versammlungen, Abstimmungen leiten konnten, ihre Meinung vertraten, Reden hielten und über ein für DDR-Verhältnisse breites Allgemeinwissen verfügten.” – so der ehemalige Leipziger Studentenpfarrer Eberhard Tiefensee in einem Vortrag im September 1992 in Untermarchtal.

3. NISCHE STUDENTENGEMEINDE

In vielen Studentengemeinden wurde insbesondere in den 60er Jahren intensiv über den geschichtlichen Ort sowie die konkrete gesellschaftspolitische Situation nachgedacht und nach Möglichkeiten eines christlichen Weltdienstes und dessen praktischer Umsetzung gesucht, nach einem Platz als katholischer Student und Akademiker in der real-existierenden Gesellschaft des DDR-Sozialismus – ohne faule Kompromisse, ohne bloßes Überwintern. Anfang der 70er Jahre wurde die Suche nach einem praktizierbaren verantwortlich Weg eines Engagements in der Gesellschaft in den Studentengemeinden schwächer, wofür es neben der massiven Einschüchterung der Studierenden durch vielfältige Aktivitäten des MfS in diesen Jahren in den Studentengemeinden eine Reihe weiterer Gründe gab. Mit der 3. Hochschulreform in der zweiten Hälfte der 60er Jahre wurde der Studienablauf einer strengeren Kontrolle unterzogen und außerdem versucht, die Ergebnisse der marxistisch-leninistischen Erziehungsarbeit „zu verbessern”. Demzufolge verschärfte sich der ideologische Druck auf die Studierenden. Insbesondere drei Ereignisse aus dem Jahr 1968 hatten für die Mitglieder der Studentengemeinden eine desillusionierende Wirkung. Zunächst das Inkrafttreten der 2. Verfassung der DDR am 6. April, in der den Kirchen nur ein Artikel gewidmet ist (in der 1. Verfassung 1949 war es noch ein ganzer Abschnitt mit mehreren Artikeln) – diese formale wie inhaltliche Verkürzung sollte letztlich die gesellschaftliche Irrelevanz der Kirchen auch optisch unterstreichen. Dann die Sprengung der Leipziger Universitätskirche am 30. Mai 1968, die bis dahin zu Gottesdiensten genutzt wurde, sowie der Einmarsch des Warschauer Pakts im August dieses Jahres in Prag. In den 1960er Jahren und Anfang der 1970er Jahre sind in den katholischen Studentengemeinden in der Hauptsache drei Trends zu beobachten, die einander bedingen und nicht isoliert betrachtet werden dürfen:

a) Bildungstrend: Auf die Defizite der universitären Bildung hinsichtlich ihres allgemeinen Aspektes sowie die marxistisch-leninistische Normierung insbesondere der geisteswissenschaftlichen Fächer reagierten die katholischen Studentengemeinden mit einem vielseitigen Bildungsprogramm, in dem auch Themen behandelt wurden, die in der universitären Öffentlichkeit tabu waren. Dessen Erarbeitung war bereits ein Bildungserlebnis für die Studierenden. In der „Nische Studentengemeinde” entwickelte sich eine Einheit von Bildung und Gemeinschaft.

b) Demokratisierungstrend: Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen weitgehende Mitverantwortung und Mitbestimmung im Gemeindeleben – ganz im Gegensatz zur Erfahrung der ideologischen Bevormundung und totalitären Kollektivismuspraxis im Studium; der vom Zweiten Vatikanischen Konzil betonte missionarische Weltauftrag und dessen Realisierungsmöglichkeiten unter den gegebenen sozialistischen Bedingungen sowie Überlegungen zur Demokratisierung der Gesellschaft in der DDR sowie der „Reformierung” der Kirche.

c) Oppositionstrend: Neues Bewusstsein der Zugehörigkeit zur Kirche sowie der Mitverantwortung in der Gemeinde; beispielhafte Praxis einer von Dialog und Offenheit geprägten Kommunikationsstruktur innerhalb der Studentengemeinde, die – ohne das persönliche „Kirchesein” grundsätzlich in Frage zu stellen – eine oppositionelle Haltung bei einzelnen Problemstellungen implizierte und deshalb immer wieder zu innerkirchlichen Spannungen führte.

Die katholischen Studentengemeinden verstanden sich über den gesamten Zeitraum von 1945 bis 1989 als christliche Gemeinschaften, die im Vergleich zu den kirchlichen Ortsgemeinden von einem hohen Maß eigenverantwortlicher Aktivitäten der Gemeindeglieder und einem intensiven Gemeinschaftsleben geprägt waren. Durch ihre vielfältige Bildungsarbeit wurde dem verschulten und ideologisierten Erziehungsund Ausbildungsprozess an den Universitäten und Hochschulen und der damit verbundenen Entmündigung und Subalternisierung der Studierenden entgegengewirkt. Die strukturelle und organisatorische Entwicklung der Studentengemeinden auf lokaler und regionaler Ebene fand bis Mitte der 70er Jahre einen grundsätzlichen Abschluss.

Exkurs 2: MfS und Studentengemeinde

Christliche Studierende, die als solche an den Universitäten und Hochschulen bekannt waren, durften sich in manchen Fällen einer besonderen Beachtung durch die SED-Kreisleitung ihrer Hochschule „erfreuen”. In einer neunseitigen „Einschätzung des Einflusses und der staatsbürgerlichen Haltung religiös gebundener Studenten unserer Universität”, die im März 1977 von der SED-Kreisleitung der TU Dresden für das Direktorat für Studienangelegenheiten angefertigt wurde, wird zur Frage Stellung genommen, wie sich religiös gebundene Studierende bemerkbar machten: „Übernahme von gesellschaftlichen Funktionen in Seminargruppen und Wohnheimen … Versuche, unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit zu provozieren … Unter dem Deckmantel der Glaubensfreiheit versucht man gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entgehen … Mit guten fachlichen Leistungen. Damit gewinnen sie großen Einfluß in der Gruppe und können Genossen-Studenten, die schlechtere Leistungen haben, zurückdrängen … Die kirchlich gebundenen Kräfte nutzen jede Gelegenheit, um Einfluß auf das politische Niveau in der Gruppe zu nehmen … Sie nutzen jede politische Anonymität, um unerkannt ihren Einfluß geltend zu machen”. Diese Punkte werden jeweils mit Beispielen belegt. Auf drei Seiten wird die Arbeit der Studentengemeinden dargestellt und abschließend u. a. geschlussfolgert: „Die atheistische Propaganda sowohl in den Lehrveranstaltungen des ML, als auch in interessanten Foren außerhalb des Lehrbetriebes ist so zu verstärken, daß der gezielten Arbeit der Kirche offensiv begegnet werden kann”.

Gravierender war jedoch für christliche Studierende sowie die Studentengemeinden insgesamt die „Bearbeitung” durch das MfS. In einem Dienstgespräch im November 1966 stellte der Minister für Staatssicherheit, Mielke, fest: „Die Beeinflussung der jugendlichen Intelligenz erfolgt weiter vor allem im Rahmen der evangelischen und katholischen Studentengemeinden an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen. An den regelmäßigen Veranstaltungen der Studentengemeinden nehmen häufig zahlreiche jugendliche Gäste teil, so daß der Hörerkreis bei interessanten Veranstaltungen bis zu 500 Personen erfaßt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch einmal an meine Ausführungen über die Maßnahmepläne, wo ich besonders auf die Bearbeitung dieser ideologisch zersetzend wirkenden Konzentration hinwies. Die reaktionärsten Mitglieder dieser studentischen Organisationen sind in ‚Kernkreisen’ zusammengefaßt, von denen maßgeblich die negative Beeinflussung und Organisierung der Tätigkeit der evangelischen und katholischen Studentengemeinden ausgeht.” Aufgrund der immer wieder vorgekommenen Fälle, in denen der Staatssicherheitsdienst Mitglieder der Studentengemeinde aufforderte und zum Teil drängte, sich für seine Aufgaben zur Verfügung zu stellen, sah sich der Leipziger Studentenpfarrer Wolfgang Trilling im Jahre 1963 veranlasst, einen „Offenen Brief” zu verfassen, der in den Räumen der Studentengemeinde ausgehängt und an die anderen katholischen Studentengemeinden weitergereicht wurde. Trilling selbst brachte ihn zur Leipziger Bezirksbehörde des MfS.

„Erklärung: Es kommen immer wieder Fälle vor, in denen der Staatssicherheitsdienst Mitglieder der Studentengemeinde auffordert und zum Teil drängt, sich für seine Aufgaben, auch für Erkundigungen über die Arbeit der Studentengemeinde zur Verfügung zu stellen. Dazu möchte ich folgendes erklären:

1. Die Veranstaltungen der Studentengemeinde sind öffentlich, das Monatsprogramm ist allen katholischen Kirchen von Leipzig ausgehängt. Gäste, die sich dem Studentenpfarrer bekannt machen, sind jederzeit willkommen.

2. Die Studentengemeinde gehört zum seelsorglichen Verantwortungsbereich des Bischofs von Meißen, besitzt eine von ihm verfaßte Satzung und wird von seiner Autorität getragen. Für Auskünfte über die seelsorgliche Arbeit im allgemeinen und über die einzelnen Veranstaltungen der Gemeinde ist allein der von ihm eingesetzte Studentenpfarrer zuständig, an den bei Anfragen regelmäßig zu verweisen ist.

3. Über private Auffassungen und die Gesinnung von einzelnen Mitmenschen planmäßig Nachrichten zu sammeln und staatlichen Organen weiterzugeben, ist sittlich nicht erlaubt. Das verbiete

a) nach dem natürlichen Sittengesetz das Gebot, die Ehre des Nächsten zu schützen,

b) nach den allgemeinen Menschenrechten das Prinzip der Gedanken- und Gewissensfreiheit,

c) nach der christlichen Ethik das Gebot der Nächstenliebe.

4. Sofern es sich nicht um die Aufklärung eines Verbrechens handelt, ist jedem Ansinnen auf eine oben beschriebene Mitarbeit von Anfang an entschlossener Widerstand entgegenzusetzen. Erfahrungsgemäß läßt man bei einer entschiedenen Haltung bald von dem Versuch ab. Als Motiv genügt der Hinweis, daß sich eine solche Tätigkeit nicht mit dem Gewissen vereinbart. Auch die Bemerkung, daß man seinem Beichtvater von dieser Gewissensnot Kenntnis geben müsse, kann die Situation klären helfen.

5. Es empfiehlt sich, in solchen Fällen zur Beratung und Unterstützung den Studentenpfarrer zu informieren. Die oft auferlegt Schweigepflicht bindet im Gewissen nur dann, wenn sie in völliger Freiheit und aus eigenem Entschluß übernommen worden ist.

Leipzig, den 23. November 1963 gez. Wolfgang Trilling Studentenpfarrer.”

In der Praxis war es Studierenden in der Tat in den meisten Fällen möglich, über eine Dekonspiration den Werbeversuchen des MfS zu entkommen. Von den 283 Respondenten einer schriftlichen Befragung, die 1992/93 durchgeführt wurde, gaben 12 (4 %) an, dass sie – ohne Erfolg – für eine Mitarbeit beim MfS geworben wurden. Auf die Frage „Sind Ihnen Disziplinarverfahren oder Exmatrikulationen mit politischem Hintergrund, Übergriffe des MfS, die in Zusammenhang mit einer KSG-Zugehörigkeit stehen, bekannt?”, antworteten 272 Teilnehmer der Befragung, davon 89 mit JA und 183 mit NEIN. Eine der aufwendigsten Aktionen des MfS bezüglich der katholischen Studentengemeinden war der Operative Vorgang (OV) „Schild”, bei dem von 1969 bis 1974 die KSG Leipzig „bearbeitet” wurde. Die bisher aufgefundenen Materialien dieses OV bestehen aus 3 Bänden, 14 Nebenbänden sowie einer Mappe mit Briefen. Im Beschluß zur Einleitung des Operativen Vorlaufs vom 05.09.1969 wird als Grund dafür der Verdacht der Bildung einer Gruppe in der KSG Leipzig genannt, die sich für ähnliche Verhältnisse wie 1968 in der C ˘SSR engagiere und deshalb mit staatsfeindlicher Hetze in Erscheinung trete. Beim sogenannten Messetreffen während der Leipziger Frühjahrsmesse mit Studierenden aus der Bundesrepublik im März 1973 waren z. B. mindestens sechs Inoffizielle Mitarbeiter im Einsatz, die das MfS fast „rund um die Uhr” mit Informationen über die Themen der Gespräche und Vorträge, Teilnehmerzahlen und auffällige Diskutanten versorgten und somit dem MfS die Möglichkeit eines umfassenden Vergleichs der Informationen gegeben war. Im August 1974 wurde abschließend festgestellt, dass vor allem aufgrund der Verhaftung vier ehemaliger KSG-Mitglieder im November 1971, personeller Veränderungen in der Leitung der KSG Leipzig und einer vom Meißner Bischof Schaffran im Juli 1973 ausgesprochenen Empfehlung, in den KSG-Veranstaltungen politische Themen nicht zu behandeln, sich die weitere „Bearbeitung” des OV „Schild” erübrige. Der Staatssicherheitsdienst hat über Inoffizielle Mitarbeiter nicht nur versucht, die Arbeit der Studentengemeinden auszuspionieren, sondern auch mitzugestalten. Dies betrifft auch Veranstaltungen, von denen eigentlich zu erwarten gewesen wäre, dass das MfS ausschließlich daran interessiert sein müsste, die Durchführung dieser Veranstaltungen zu verhindern. Denn zu den Hauptaufgaben eines IM gehörte die Verhinderung von „öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte.” Ein be- merkenswerter Fall in dieser Hinsicht ist folgender: Am 18.02.1975 fand im Rahmen des von der ESG und der KSG Leipzig gemeinsam durchgeführten Zwischensemesterprogramms ein „Reiner-Kunze-Abend” statt. Der Lyriker Kunze – vom MfS als äußerst „feindlich-negativ” eingestuft – war in den 70er Jahren ein gern gesehener Gast in christlichen Jugend- und Studentengruppen. In einem Bericht des IM „Horst”, den Kunze in seinen Stasiakten gefunden und auszugsweise in einem kleinen Band mit dem Titel „Deckname Lyrik” veröffentlicht hat, ist über diesen Abend u. a. zu lesen: „Anwesend waren etwa 250 Personen, darunter R. Kunze und Frau … Der Verlauf bestätigte, daß bei … unsere Gesellschaft in Frage stellenden Texten oft spontan Beifall bekundet wurde (vergl. Mitschnitt)”. „IM Horst”, Christoph Unger, Schauspielstudent und Mitglied der KSG Leipzig, hatte diesen Abend vorbereitet und anschließend über einen schriftlichen Bericht und Tonbandmaterialien dem MfS die Reaktionen der Studierenden auf Kunzes Texte mitgeteilt. Dieser IM wurde in die Leipziger KSG eingeschleust. Er arbeitete von 1969 an auf freiwilliger Basis und aus Überzeugung sowie für umfangreiche finanzielle Zuwendungen als – zeitweise halbamtlicher – IM und kehrte im Auftrag des MfS im Jahre 1980 von einer Besuchsreise in die Bundesrepublik nicht in die DDR zurück, um dort u. a. die KSG Freiburg und den Frankfurter Fischer Verlag zu „bearbeiten”.

4. FAZIT

Zusammenfassend ist zu konstatieren: Die katholischen Studentengemeinden in der DDR haben überwiegend, aber nicht ausschließlich, christlichen Studierenden nicht nur die Möglichkeit zu einem studentischen Gemeinschaftsleben und zu religiöser Weiterbildung, sondern insbesondere zu philosophischer, historischer und kultureller Bildung über den ideologisch normierten Rahmen an den Universitäten und Hochschulen hinaus geboten. Diese als „Bildung und Gemeinschaft” praktizierte Bildungsarbeit stellt eine spezifische Form eines außeruniversitären humanistischen Studium generale dar. Die evangelischen und katholischen Studentengemeinden waren für Studentinnen und Studenten in der DDR die einzigen öffentlichen „loci liberitatis, veritatis et communitatis”, an denen weitestgehend unanhängig vom direkten Einfluss des totalitären Staates bei Vortragsveranstaltungen, in Seminaren oder in kleinen Gesprächsgruppen Kritik- und Dialogprozesse erprobt sowie eigenständiges Denken und Verantwortung eingeübt werden konnten. Die eigenverantwortliche Organisierung dieser Bildungsarbeit war für viele Studenten eine „Grund”-Schule der Demokratie. Neben der daraus resultierenden unmittelbaren subjekt- und gemeinschaftsbezogenen Sozialisation ist eine für die Gesellschaft an sich relevante mittelbare Folge der Arbeit der Studentengemeinden in der Tatsache zu sehen, dass nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur im Herbst 1989 eine überproportional große Zahl christlicher Akademiker bereit und in der Lage war, sich in den gesellschaftlichen Demokratisierungs- und Transformationsprozess aktiv einbringen zu können. Die Studentengemeinden waren ein bevorzugtes Terrain der Aktivitäten des MfS, weil es sich bei den Studierenden um eine kirchlich wie gesellschaftlich gesehen bedeutsame Population handelte. In enger Zusammenarbeit mit universitären Stellen, der SED und der Ost-CDU sowie über den Einsatz einer Vielzahl von IM und technischer Hilfsmittel versuchte das MfS, die Arbeit der Studentengemeinden konspirativ zu bearbeiten und zu kontrollieren, über IM in Führungspositionen in den Gemeinden zu kommen sowie über „Zersetzungsmaßnahmen” auf einzelne Personen Einfluss zu nehmen. In einzelnen Fällen kam es zu Verhaftungen, mitunter zu „Stasiphobie” in einzelnen Studentengemeinden und in der Summe zu einer Verunsicherung der KSG-Mitglieder, welche einem stärkeren Rückzug in die Nische Studentengemeinde zur Folge hatte. In einer Analyse der MfS-Kreisdienststelle Greifswald vom 5.7. 1973 über die Situation in der evangelischen und der katholischen Studenten- gemeinde in Greifswald heißt es: „Global kann eingeschätzt werden, daß die beiden kirchlichen studentischen Jugendorganisationen entsprechend ihren zentral geleiteten Organisationen im Rahmen der Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus aktiv feindlich ideologisch wirksam sind. … Von vielen Studenten wird die ESG und die KSG als ‚Freiraum’, ‚wirkliche Freiheit’ oder ‚Modell der Demokratie’ für unkontrollierbare Diskussionen betrachtet. Damit bietet sich den reaktionären Studenten eine Plattform zum Studium und zur Auswertung westlicher Publikationen, zur Verbreitung feindlicher Ideologien bis zur Bildung von Gruppierungen.” Bei den Ereignissen im Oktober und November 1989 in der DDR sowie dem dabei eingeleiteten gesellschaftlichen und universitären Erneuerungsprozess haben die katholischen Studentengemeinden als Institutionen keine wesentliche Rolle gespielt. Bemerkenswert ist die Mitarbeit von Vertretern des Zentralen Arbeitskreises am „Zentralen runden Tisch der Jugend” sowie ein neunseitiges Schreiben der Arbeitsgemeinschaft Studentenseelsorge an das Bildungsministerium vom April 1990 mit dem Titel „Überlegungen zur Jugendpolitik im Bereich der studentischen Jugend”, das vom Grundtenor her mehr die praktischen Belange des Studiums und der Studierenden behandelt und weniger auf universitäre oder studentengemeindliche Innovation bedacht ist. Einzelne Mitglieder der Studenten- gemeinden waren jedoch bei der Ökumenischen Versammlung der Kirchen in der zweiten Hälfte der 80er Jahre vertreten, haben sich an den Friedensgebeten und Demonstrationen in der Wendezeit beteiligt und in den neuen Gremien an den Universitäten und Hochschulen mitgearbeitet.