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Allein im Kampf ums Überleben

Erfahrungen mitteldeutscher Studenten in den Lagern des GULag

Professor. Dr. Werner Gumpel

„Was im Folgenden Platz greifen soll, ist unüberschaubar. Um die ungeheuerliche Wahrheit all dessen begreifen und bis zum Grund erfassen zu können, hätte man viele Leben durch die Lager schleppen müssen, durch jene Lager, in denen auch schon die eine Frist nicht ohne Begünstigungen durchzustehen war, denn es sind die Lager zur AUSROTTUNG ersonnen worden. …. Doch auch ein Schluck genügt, um zu wissen, wie das Meer schmeckt.“

Alexander Solshenizyn, „Der Archipel GULag, Folgeband, 1974

Das SED-Regime in der DDR entledigte sich seiner politischen Gegner nicht nur in dem es sie in die landeseigenen Gefängnisse und Zuchthäuser sperrte, sondern auch durch deren Deportation in die UdSSR. Wie so vieles in diesem Staat, geschah dies ohne rechtliche Grundlage: Die Menschen wurden von den deutschen Sicherheitsorganen verhaftet, und nach wenigen Tagen bereits an das MGB (später KGB) übergeben. Die Verfassung der DDR bestimmte zwar in Artikel 10, Abs. 1 (alte Fassung): „Kein Bürger der DDR darf einer auswärtigen Macht ausgeliefert werden.“ Doch was bedeutete in diesem Staat die Verfassung oder ein Gesetz?

 Die Verhaftung erfolgte vornehmlich von der Straße weg oder an unauffälligen Stellen, und ohne Haftbefehl. Eine Benachrichtigung  der Angehörigen erfolgte nicht, so dass die Betroffenen spurlos verschwanden. Erst nach Jahren konnten sie den Eltern oder Ehepartnern eine Nachricht zukommen lassen. Die Sowjets  stellten diese Oppositionellen vor ein Militärtribunal und verurteilten sie zumeist zu 25 Jahren Zwangsarbeit oder zum Tode durch erschießen. Auch über mitteldeutsche Studenten wurden Todesurteile verhängt. So wurden beispielsweise auch neun Studenten der Universität Leipzig erschossen, unter ihnen Herbert Belter aus Rostock. Andere wurden, ebenso wie ihre Kommilitonen aus anderen Universitäten, in die Sowjetunion verbracht und landeten dort zumeist in den Lagern Workutas, 160 Kilometer nördlich des Polarkreises, mit einem entsprechend rauen, ja mörderischen Klima. Die Studenten gehörten zu den wahrscheinlich mehr als achttausend Personen, die bis 1955 in die Sowjetunion verbracht wurden. Nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial wurden 926 von ihnen in Moskau erschossen. 

Wessen wurden diese Menschen beschuldigt, was brachte sie in den GULag?[1] Für die Studenten, die ihre Stimme gegen das SED-Regime erhoben, war es zumeist die Unzufriedenheit mit der an der Universität herrschenden Unfreiheit und der allgegenwärtigen Gängelung und Bespitzelung, die sie in die Opposition führte. Die SED setzte aber auch Provokateure ein, um regimekritische Studenten zu erkennen und zu eliminieren. Der Widerstand gegen das Regime hatte aber keinen militanten Charakter. Er erfolgte vielmehr auf friedliche Weise durch das Verteilen von selbst gefertigten oder aus Westberlin beschafften Flugblättern und kritischen Schriften und Zeitschriften. Ein russisches Sprichwort sagt: „Ein Fischer erkennt den anderen schon aus der Ferne“. So erkannten sich auch die oppositionell gesinnten Studenten zum Beispiel an der Sprache, indem sie den offiziellen Jargon verschmähten, aber auch in der Art, wie sie sich den Kommilitonen gegenüber gaben und benahmen. Sie sprachen nicht „parteichinesisch“, sondern benutzten eine ganz „normale“ Sprache. So fanden sie zusammen.

Die Leipziger Studenten landeten zumeist in dem Kellergefängnis der Russen in Dresdens Bautzener Straße, in Zellen ohne Tagesicht. Nur eine Hundertwattbirne strahlte die Gefangenen Tag und Nach an. Auf einem Holzpodest lagen in der Regel vier Personen, die sich die etwa acht Quadratmeter große Zelle teilen mussten. Neben der Tür stand ein Kübel, in den die Notdurft verrichtet wurde. Das Essen: Tag für Tag Erbsensuppe, was nicht unbedingt zur Verbesserung der Luft beitrug. Tausende von Flöhen quälten die Gefangenen bei Tag und bei Nacht.

Die Verhöre erfolgten stets bei Nacht und dauerten bis in die Morgenstunden, tags jedoch wurde  jede Form des Schlafes unterbunden. In den Verhören wurde nicht preisgegeben, wessen der Angeklagte beschuldigt wurde, sondern er hatte nachzuweisen, dass er beispielsweise kein Spion war. Doch wie sollte dies geschehen? Doch auch wenn dies gelungen wäre, wäre es ohne Wirkung geblieben. Freigelassen wurde niemand und wo es keinen Grund für die Verhaftung gab, wurde er erfunden. Durch den Schlafentzug brach so mancher Gefangene psychisch und physisch zusammen.

Die Anklage gegen die Mitglieder der „Gruppe Belter“ lautete: Antisowjetische Propaganda (Art. 58, 10 des Strafgesetzbuchs der RSFSR), Gruppenbildung (Art. 58,11), und für vier ihrer Mitglieder Spionage (Art. 58,6). Allen wurde zur Last gelegt, antikommunistische Flugblätter und Schriften verteilt zu haben, als Spionage wurde eine Rundfunksendung für den Hochschulfunk des RIAS gewertet. Eine Anklageschrift wurde den Gefangenen nicht zugestellt, ebenso erhielten sie keine schriftliche Ausfertigung des Urteils. Einen Anwalt oder Verteidiger gewährte man ihnen nicht. Herbert Belter wurde als „Rädelsführer“ zum Tode durch erschießen verurteilt, drei Angeklagte, darunter der Verfasser dieses Berichts, wurden zu zweimal fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt (antisowjetische Propaganda und Spionage), die anderen zu je 25 Jahren Zwangsarbeit. Herbert Belter wurde, wie erst nach vierzig Jahren bekannt wurde, drei Monate nach der Verurteilung in Moskau erschossen.

Ziel der erbarmungslosen Militärjustiz war die Ausrottung der Opposition in der DDR, aber auch die Beschaffung von Arbeitssklaven für die unwirtlichen Erschließungsregionen der UdSSR. Der GULag hatte eine Doppelfunktion: Er war Terrorinstrument und er diente wirtschaftlichen Zwecken. Alle „Großbauten des Kommunismus“, wie der Eismeerkanal, der Wolga-Don-Kanal oder die Erschließung des Hohen Nordens, entstanden durch Gefangenenarbeit. Die Sowjetunion wurde durch Sklavenarbeit erschlossen. Die Gefangenen sollten durch schwerste Arbeit bei mangelhafter Ernährung vernichtet werden.

Etwa drei Monate nach der Urteilsverkündung  erfolgte die Verbringung der Gefangenen in die UdSSR. Der Weg nach Workuta erfolgte über verschiedene Zwischenstationen in den Gefängnissen verschiedener Städte, wie Brest, Gomel, Moskau und Syktyvkar. In den dortigen Massenzellen, die mit bis zu fünfzig Personen belegt waren, gab es zwar keine Flöhe, dafür aber Tausende von Wanzen, die die Gefangenen quälten. Dies galt auch für die Lager Workutas.

Der Transport erfolgte in speziellen Waggons, die im Gefangenen-Jargon  „Stolipinski“ genannt wurden. P. A. Stolypin war von 1862 – 1911 russischer Ministerpräsident. Er verbannte 1907 die sozialdemokratischen Duma-Abgeordneten als Revolutionäre nach Sibirien, wozu die speziellen Gefangenen-Waggons konstruiert wurden, die heute seinen Namen tragen. Die Fahrt in diesen Waggons, deren Zellen rettungslos überbelegt waren, war für die Gefangenen eine Qual, nicht nur wegen der herrschenden Enge, sondern auch wegen quälenden Dursts und Hungers. Die Verpflegung nämlich bestand aus einem Kanten Brot und einem ungewässerten Salzhering, den viele, um ihren Hunger zu stillen, verzehrten. Nur zweimal am Tag jedoch wurde ein Becher mit Wasser gereicht, dessen geringer Inhalt, vom Wachhabenden angetrieben, auf einen Zug hintergestürzt werden musste. Ohne Zwischensäuberung  diente er der „Tränkung“ aller Gefangenen des Waggons.

Workuta, wohin auch die Mehrzahl der oppositionellen mitteldeutschen Studenten verbracht wurde, galt in der UdSSR als eines der schlimmsten Strafgebiete. Als Zar Nikolaus I. (1825 -1855) von seinen Ratgebern vorgeschlagen wurde die Gegend um die Flüsse Petschora und Workuta zum Verbannungsgebiet zu erklären, ließ er sich angeblich einen Bericht über die dortigen Lebensbedingungen geben. Er entschied, dass es keinem Menschen zuzumuten sei, dort zu leben. Für das Politbüro der Kommunistischen Partei war dies allerdings kein Argument. Für die kommunistische Führung war entscheidend, dass die umfangreichen Kohlevorkommen dieser Region erschlossen wurden.

Den Befehl zur Errichtung des Lagerkomplexes Workuta gab Stalin im August 1943. Bis dahin war Workuta nur eine kleine Station am Ufer des Flusses Workuta. Die Verbringung politischer Gefangener in dieses Gebiet hatte allerdings schon im Jahr 1931 begonnen. Damals wurde der erste Schacht für den Kohlebergbau errichtet. Die Lager war so geheim, dass Post nur unter der Tarnadresse „Moskau, Postfach 223“ dorthin verschickt werden durfte (für deutsche Gefangene galt, nachdem sie Schreiberlaubnis erhalten hatten, die Tarnadresse „Moskau 5110“). Andere Lager, in denen sich missliebige DDR-Bürger befanden, waren Inta, Norilsk (ebenfalls im Hohen  Norden) und Taischet in Sibirien. Nördlich von Workuta befinden sich das Gebiet von Amderma und die Insel Novaja Semlja – beide seit 1957 absolut verstrahlt. Die radioaktive Strahlung übertrifft dort die natürliche Strahlung um das Tausendfache.[2] Dies allerdings blieb den deutschen Gefangenen noch erspart.

Die nach Workuta deportierten deutschen Studenten wurden sofort in den Arbeitsprozess eingegliedert. Je nach körperlicher Verfassung landeten sie im Bergbau oder wurden beim Bau der neu zu errichtenden Stadt Workuta eingesetzt. Im Bergbau galt die Achtstundenschicht, im Stadtbau währte eine Schicht zwölf Stunden. Erst nach Stalins Tod wurde die Arbeitszeit verkürzt. Jeder zehnte Tag war frei. Die Schächte Workutas unterstanden dem Ministerium für Kohleindustrie. Zu jedem der ca. 30 Schächte gehörte ein Zwangsarbeitslager.

Für die deutschen Studenten, wie für alle Deutschen, die neu ankamen, war es schwer, nach einem halbjährigen oder längeren Gefängnisaufenthalt unvermittelt schwere körperliche Arbeit verrichten zu müssen. Dazu kam die Notwendigkeit, sich dem extremen Klima und den Lagerbedingungen anzupassen. Zu diesen Bedingungen gehörte das Leben im Lager: In den Baracken, die mit etwa 100 Personen belegt waren, schliefen sie auf einer zweistöckigen, von Wand zu Wand reichenden Bretterstellage, auf der die Schlaf suchenden eng neben einander lagen. Als Matratze diente ein mit Holzspänen gefüllter Sack. Zu essen gab es am Morgen und am Abend: Die Ration war von der Erfüllung der Arbeitsnorm abhängig. Viele Gefangene litten auf Grund der mangelhaften Ernährung an verschiedenen Formen der Dystrophie.

Im Lager befanden sich zunächst relativ wenige Deutsche. Es waren zu einem großen Teil Mitglieder der sogen. Blockparteien der DDR, vor allem Liberaldemokraten und Mitglieder der CDU, aber auch Sozialdemokraten und auch einige Altkommunisten, die bereits unter Hitler in deutschen Konzentrationslagern gelitten hatten, Parteilose und Unpolitische, die auf die verschiedenste Weise mit dem DDR-Regime in Konflikt geraten oder völlig unschuldig dem kommunistischen Terror zum Opfer gefallen waren. Nach den eigenen Erfahrungen war das Verhältnis der Deutschen unter einander gut. Problematischer war das Zusammenleben mit den Bürgern der Sowjetunion. Hier überwogen die Ukrainer und die Angehörigen der baltischen Völker, aber auch die Völkerschaften Zentralasiens und des Kaukasus waren reichlich vertreten. In Relation zur Gesamtzahl der Gefangenen gab es relativ wenige Russen. Diese Menschen gehörten allen sozialen Schichten an, es überwogen aber die mit geringem Bildungsgrad. Das hatte den Grund darin, dass viele von ihnen auf irgendeine Art mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert hatten oder ukrainische Bauern waren, die den bis in die fünfziger Jahre hinein aktiven antikommunistischen Partisanen freiwillig oder unter Androhung von Waffengewalt Lebensmittel hatten zukommen lassen. Die Ukrainer pflegten aber auch eine militante Ablehnung des Sowjetsystems, weil mindestens sechs Millionen von ihnen dem Stalin’schen Terror zum Opfer gefallen waren.

Auch die baltischen Völker hatten unter Stalin besonders gelitten. Massenerschießungen und Deportationen in unwirtliche Gebiete bzw. Einlieferung in die  Lager des GULag waren dort an der Tagesordnung gewesen.

Relativ zahlreich im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung waren die Juden vertreten. Die meisten von ihnen, zumeist einfache Arbeiter, wollten nach Israel auswandern und wurden deswegen der Spionage bezichtigt: „In Israel hättet ihr über die Sowjetunion berichtet.“ Das Urteil: 25 Jahre Zwangsarbeit wegen Spionage. Gleichermaßen willkürlich war die Mehrzahl der Urteile. Ein russischer Arbeiter war nach Wodkagenuss durch Leningrad gelaufen und hatte wiederholt gerufen: „Stalin ist ein Teufel!“. Wegen antisowjetischer Hetze erhielt er 25 Jahre Zwangsarbeit. Ein georgischer Freund in meinem Alter sah auf der Straße einen  guten Bekannten auf sich zukommen – begleitet von einer ihm, nicht bekannten Person, in der Hand eine Zeitung. Zu jener Zeit gab es keine Zeitung, auf deren erster Seite sich nicht ein Bild Stalins befand. Der junge Georgier sagte: „Zeig’ mal deine Zeitung. Ach schon wieder der Stalin. Wenn ich ihn hier hätte, ich würde ihn umbringen.“ Der dritte Mann war ein Spitzel. 25 Jahre Zwangsarbeit wegen Terror: Wenn Stalin da gewesen wäre, hätte er ihn ja getötet…

Im Allgemeinen wurde nicht über den eigenen „Fall“ gesprochen, doch wenn man ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut hatte, konnte auch er Thema sein. So berichteten mir Kasachen und Turkmenen von ihrem Eintreten für einen freien kasachischen bzw. turkmenischen Staat und ihrm Ziel, alle Turkvölker in einem panturanischen Staatsgebilde zu einen, ein Gedanke, der nach der politischen Wende auch vom türkischen Ministerpräsidenten und späteren Staatspräsidenten Turgut Özal vertreten wurde.

In dieses Konglomerat von Völkerschaften und sozialen Schichten wurden die deutschen Studenten geworfen. Einige von ihnen hatten Kenntnisse der russischen Sprache von der Schule mitgebracht. Sie waren zwar gering, erleichterten aber das Zusammenleben mit den Menschen der anderen Nationalität. Für die, die keinerlei Sprachkenntnisse hatten, war der tägliche Kampf ums Überleben besonders schwer, denn insbesondere bei der Arbeit kam es leicht zu Missverständnissen, die oft großen Ärger brachten und, was schlimmer war, der Brigadier, bei dem es sich zumeist um einen nach einem politischen Paragraphen verurteilten Kriminellen handelte, schikanierte den „Sprachlosen“ und schrieb ihm weniger Prozente auf, so dass die Essensration gekürzt wurde.

Da das Erlernen der russischen Sprache die einzige intellektuelle Herausforderung war, bemühten sich die meisten Studenten ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, was ohne Lehrbuch und ohne Papier und Schreibmöglichkeit jedoch schwierig war. Doch je besser die Kenntnis des Russischen war, das die lingua franca des Lagers darstellte, desto mehr nahm die Möglichkeit zu, sich mit den Mitgefangenen zu unterhalten, kameradschaftliche oder gar freundschaftliche Bande zu zimmern und vom Leben in der Sowjetunion zu erfahren. Dazu brauchte es allerdings einige Zeit, denn zunächst wurden die Deutschen besonders von den Russen und den Ukrainern gerne als „Faschisten“ beschimpft. Auch hier galt es auf Russisch zu parieren und die wichtigsten Lagerschimpfworte zu kennen und anzuwenden. Das half zumeist.

An diese Dinge gewöhnten sich die deutschen Gefangenen. Besonders das Fluchen war bald erlernt. Schwer dagegen war es, das Gefangenendasein als solches zu ertragen. Als Gefangener war man niemals allein, weder bei der Arbeit, noch in der Baracke. Es gab keinerlei Privatheit, kein persönliches Leben, keinen persönlichen Besitz. Dem entsprechend verfügte der Gefangene auch über keinen Spind oder auch nur Fach, geschweige denn ein abschließbares. Wenn der Gefangene wirklich etwas besaß,  beispielsweise ein Stück Brot oder eine Nähnadel, so bewahrte er diese am Leib auf. Bei den immer wieder stattfindenden Durchsuchungen wurde ihm sogar ein Bleistift, den er vielleicht von einem freien Arbeiter auf dem Objekt erbettelt hatte, weggenommen.

Der Gefangene im GULag ist Besitz des Staates, wie ein Tier. Die Köpfe sind kahl geschoren, die Haare an allen Körperteilen entfernt. An Arm und Hose ist die Sträflingsnummer angebracht, mit der sich der Gefangene beim Appell zu melden hat. Der Gefangene ist in diesem System absolut entpersönlicht, entindividualisiert und damit entwürdigt. Er soll die Achtung vor sich selbst verlieren und sich als Abschaum empfinden. Wie stark dies psychisch auf ihn gewirkt hat erfuhr man, wenn man von der Abendschicht kommend in die Baracke mit den schlafenden Gefangenen trat. Die Menschen stöhnten im Schlaf, gaben Schreie von sich und sprachen wirr, dass einen das Erbarmen, aber auch das Grauen ergriff. Dabei war man ja der gleiche wie sie…

Besonders groß war die psychische Belastung der deutschen Gefangenen. Ihnen war jeglicher Kontakt mit den Angehörigen untersagt. Die jungen Studenten waren dabei noch weniger belastet als die älteren Kameraden, die in Deutschland eine Familie zurück gelassen hatten und nicht wussten, was aus dieser geworden war. Aber auch für die jüngeren Gefangenen war der seelische Druck groß: Sie waren spurlos verschwunden, niemand wusste wohin und warum, was mit ihnen geschehen war. Niemand würde wissen wann, wie und wo sie verstorben waren, falls der Tod sie traf, und wo ihre sterblichen Überreste im Boden liegen. Aber auch der Gedanke, für 25 Jahre, falls man sie erlebte, im Lager zubringen zu müssen und die Lieben niemals wieder sehen zu können, belastete die Seele schwer. An ein Ende des Martyriums war ja nicht zu denken, denn die Sowjetunion war international anerkannt und an Hilfe von außen war nicht zu denken – höchstens als brüchiger Strohhalm. Stalin war noch relativ jung – er war 1949 erst siebzig geworden und hätte noch lange leben können. Die Aussicht auf Freiheit und Leben war nahe Null. Stalin  starb, Gott sei Dank, unerwartet am 5. März 1953. Es dauerte aber noch mehr als anderthalb Jahre, bis die Mehrzahl der Gefangenen nach Hause in die Freiheit zurückkehren konnten. Trotz der Aussichtslosigkeit das Lager jemals lebend wieder verlassen zu können, trotz schwerster körperlicher und psychischer Belastung, hatten die deutschen Gefangenen und besonders die jungen Studenten einen nicht zu brechenden Überlebenswillen. Er trug, dazu bei, dass die Mortalität unter ihnen gering war.

Gefahren lauerten nicht nur bei der Arbeit auf Grund der fast völlig fehlenden technischen Sicherheitsmaßnahmen, gravierend waren auch die schlimmen sanitären Einrichtungen und die mangelnde Hygiene. In den Baracken stand ein Kübel, in denen bei Nacht die Notdurft verrichtet werden konnte. Tags lief man einige Meter zu einen Bretterverschlag. In die über einer Erdaushebung verlegten Bretter waren Löcher gesägt über denen die Gefangenen in Reihe hockten, und durch die die Exkremente fielen. Bei Temperaturen von minus 40 Grad und darunter musste dieses Geschäft so schnell wie möglich verrichtet werden.

Die Enge in den Baracken (zumindest in den ersten Jahren lagen die Gefangenen auf  durchgehenden Stellagen auf engstem Raum Seite an Seite, wodurch infektiöse Krankheiten einen idealen Nährboden fanden), sowie die praktisch nicht vorhandenen Möglichkeiten der Körperpflege (nur alle zehn Tage wurden die Gefangenen in die „Banja“ geführt, wo sie sich richtig waschen konnten) führten immer wieder zu Epidemien. Es gab nicht einmal Zahnbürsten. Krank geschrieben wurde nur, wenn der körperliche Zustand eine Arbeit tatsächlich unmöglich machte. Besonders häufig waren die Erkrankungen an Hepatitis und Tuberkulose. Aus den großen körperlichen und psychischen Belastungen, sowie aus den klimatischen Bedingungen resultierte meist schon nach kurzer Zeit eine Erhöhung des Blutdrucks. Zahlreiche Gefangene lebten mit einem Blutdruck von 240 -250 mm Quecksilber, also am Rande eines Schlaganfalls. Medikamente erhielten sie nicht. Aber auch Grippewellen verbreiteten sich durch die Überbelegung der Baracken und das Fehlen einer Prophylaxe. Häufig waren auch Avitaminosen, deren sichtbarstes Zeichen fehlende Zähne waren. Viele Gefangene befanden sich aber auch ohne direkte Erkrankung als  Folge der unzureichenden Ernährung, der schweren körperlichen Arbeit und den oftmals langen Wegen zu und von der Arbeitsstelle in einem Zustand permanenter Schwäche. Wenn ein Gefangener auf Grund seiner Schwäche nicht in der Lage war, die Arbeitsnorm zu erfüllen, erhielt er nur den sogen. „3. Kessel“. Der bestand aus 400 Gramm Brot, das zu 60 Prozent aus Wasser bestand, einer Kohlsuppe, 250 Gramm „Kascha“ (Brei), einem Stück Fisch und 3 Gramm Öl. Operationen, wie Blinddarmentfernung, Leistenbrüche oder das Ziehen von Krampfadern, erfolgten ohne Narkose oder maximal unter örtlicher Betäubung. Die Narkose- und Betäubungsmittel wurden unter Mitwirkung der Lagerleitung nach außen verschoben. 

Auch in den Gefängnissen und Lagern des Zaren waren die Ernährung und die allgemeinen Zustände Schrecken erregend, wie Dostojewskij in seinen „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ zu berichten weiß. Doch gab es ausreichend Brot und die Gefangenen hatten Geld, um sich Fleisch zu kaufen. Sie konnten sich ein eigenes Mahl bereiten. All dies war bei den Kommunisten auch noch einige Zeit nach Stalins Tod undenkbar.

Die deutschen Studenten überstanden in der Mehrzahl auch diese Fährnisse, viele erlitten jedoch bleibende gesundheitliche Schäden. Viel schwerer als für die Männer waren allerdings die Bedingungen, unter denen die gefangenen Frauen zu leben hatten. Auch unter ihnen befanden sich Studentinnen aus Deutschland. Unter unmenschlichen Bedingungen arbeiteten sie in Workuta in einer Ziegelei. Die sanitären und hygienischen Zustände, unter denen sie zu leben hatten, sind unvorstellbar. Viele zogen sich schwere Frauenkrankheiten zu. Über sie wird jedoch nur wenig berichtet. Ich selbst erfuhr von ihrem Leid aus Briefen, die sie zwischen den auf Eisanbahnwaggons geladenen Ziegeln versteckt hatten. Sie hatten die Hoffnung, dass die Ziegel nach Süden transportiert wurden und ihre Briefe gefunden und auf irgendeine Weise zu ihre Angehörigen gelangten. Leider hatten sie sich geirrt, denn die Fracht blieb in Workuta. Meinem ukrainischen Freund Wanja gelang es, die Briefe einem nach Workuta verbannten „freien“ ukrainischen Lkw-Fahrer, der das Objekt betreten durfte, zu übergeben. Vielleicht haben sie dadurch doch die Adressaten erreicht.

Der Zusammenhalt der Deutschen im Lager war im Allgemeinen gut. Nur selten gab es unter ihnen Spitzel, die sich an die Russen verkauft hatten. Spitzel wurden nach ihrer Enttarnung von den Mitgefangenen häufig mit dem Tode bestraft. Ich habe auch Fälle erlebt, wo ihnen ein Stück Zunge abgeschnitten wurde. So konnten sie niemanden mehr verraten.

Interessant  war für die deutschen Studenten der Umgang der verschiedenen Nationalitäten unter einander. Der Antisemitismus der Ukrainer und Polen, der  Russenhass fast aller Nationalitäten, die Gegensätze zwischen Polen und Ukrainern usw. Besonders die Ukrainer hatten ein in verschiedene Lager, ja bis in die Ukraine reichendes Untergrundnetz organisiert. Sie waren stets bestens übe die wichtigen politischen Ereignisse informiert. Hatte man ihr Vertrauen, so konnte man auch bei Verlegung in ein anderes Lager mit ihrer Unterstützung  rechnen. Nicht nur die (wahrscheinlich) wirkliche Todesursache Stalins (Tod durch „fliegendes Gift“) wurde mir dadurch bekannt. Auch den  Sturz des Stalin-Nachfolgers Malenkow (1953 -1955) erfuhr ich durch sie einige Tage vor dessen offizieller Bekanntgabe. Das Zusammenleben mit der Vielzahl von Menschen der verschiedensten Nationalität und Religion war für uns Studenten eine Erfahrung, die prägend für das ganze Leben war.

Es stellt sich die Frage, ob es in aller Tristesse nicht auch positive Erlebnisse gegeben hat. Zu ihnen gehört zweifellos das Erleben der Natur des Hohen Nordens. So furchtbar die Polarstürme sein konnten, so schwer auch die Kälte zu ertragen war (die Rekord-Temperatur die ich erlebt habe lag bei – 62 Grad Celsius, bis -38 Grad wurde offiziell im Freien gearbeitet, oft wurden die Gefangenen aber auch bei Temperaturen unter -40 Grad im Freien eingesetzt), dies war eine große Erfahrung, auch weil man lernte, sich gegen die Unbilden der Natur zu schützen. Wunderbar aber war es, wenn nach dem langen Winter und einer sehr kurzen Frühlingsphase die Tundra sich grün belebte und Tausende gelbe Blumen blühten. Interessant war die Tierwelt des Nordens: Die Lemminge, die Schnee-Eulen, die Schneehasen und Schneefüchse, und unvergesslich  das Nordlicht, das in der polaren Nacht den Himmel wie Feuer brennen ließ. Dieses wahrzunehmen brachte Licht in den Alltag der Gefangenen.

Was ist seither geschehen? Eine wirkliche Wende hat es weder in der UdSSR noch im nachfolgenden Russland gegeben. Im Gegenteil: Schon werden wieder Denkmäler für Stalin errichtet. Es wird verdrängt, wie viele Opfer das kommunistische System in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten gefordert hat. Zu viele Menschen waren in die Verbrechen Stalins und seiner osteuropäischen und deutschen Helfershelfer involviert. Im Gegensatz zu den Henkern Hitlers werden die Henker Stalins, Ulbrichts und Honeckers nicht zur Rechenschaft gezogen.  Es gibt heute nicht einmal eine Diskussion um die kommunistischenVerbrechen, die den Tod vieler Millionen Menschen gebracht haben. Ein Schuldgefühl, wie es von uns in Hinblick auf die Verbrechen Hitlers gepflegt wird, ist den Russen fern. Gleiches gilt für die deutschen Helfershelfer des kommunistischen Regimes, mit denen sich einige westdeutsche Politiker nur allzu gerne an einen Tisch gesetzt haben und die zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wieder aus ihren Löchern kriechen. Gerade deswegen ist es notwendig, das Wissen um das, was geschehen ist, wach zu halten, und dafür zu sorgen, dass es sich niemals wiederholt. Und wir sollten jener Studenten gedenken, die im Kampf gegen das unmenschliche System des Kommunismus, für die Demokratie ihr Leben geopfert haben. Einer von ihnen ist Herbert Belter.


[1] GULag ist eine Wortbildung aus „Gosudarstvennoje Upravlenie Lagerej) (Staatliche Verwaltung der Lager)

[2] Izvestija, 14. 10. 1992