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Immun gegen Ideologien? II

Das Spannungsfeld von Wissen und Glauben gestern und heute

Eberhard Tiefensee

1. CHRISTEN IM SPANNUNGSFELD VON MARXISMUS UND CHRISTENTUM

„Zum Glück haben wir keine Christen in unserer Seminargruppe”, sagte mir vor Jahrzehnten ein FDJ-Sekretär einer solchen Gruppe, „die machen nämlich ständig Ärger.” Damit gab er die verbreitete Meinungen der in der DDR Herrschenden wieder: Christen galten als Störenfriede, außer sie ordneten sich in das gesellschaftsübliche Gefüge ein, d. h. sie schickten ihre Kinder wie alle anderen zu den Jungen Pionieren und zur Jugendweihe, waren Mitglieder der Freien Deutschen Jugend und der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, nahmen an den Wehrkundeübungen teil, leisteten ihren – wie es euphemistisch hieß – „Ehrendienst” in der Nationalen Volksarmee und waren auch ansonsten gesellschaftlich engagiert – selbstverständlich nur im Sinne des Sozialismus. Besser war es natürlich, sie wären gar nicht Mitglied einer Kirche, aber man konnte ja nicht alles haben. In der Regel wurden sie in Ruhe gelassen, wie gesagt: Solange sie das übliche Spiel mitmachten. Nicht wenige Christen verhielten sich entsprechend, eben wie die meisten DDR-Bewohner. Die wenigsten waren Helden. Das gilt auch für viele christliche Studierende in der DDR, hatten sie doch fast immer einiges an Zugeständnissen machen müssen, um erst das Abitur und dann den gewünschten Studienplatz zu bekommen. Die eigentlichen Helden waren schon in der Oberschule auf der Strecke geblieben und versammelten sich in den Berufsschulen, wo sie über den Status eines Facharbeiters kaum hinauskamen. Aber offensichtlich, das zeigt das eingangs zitierte Statement, galten besonders die Christen trotzdem als unkalkulierbare Störenfriede, die im entscheidenden Moment dann doch Gewissensprobleme bekamen und sie auch artikulierten und dadurch vielleicht andere zum Nachdenken und sogar zum Umdenken brachten. Und Störenfriede sind sie ja häufig auch heute noch: Mancher Naturwissenschaftler oder Politiker würde dem FDJSekretär insgeheim beipflichten: Die Christen machen ständig Ärger. Also immunisierte Religion trotz allem in mehr oder minder großen Dosen gegen Ideologie? Von einem Philosophen werden präzise Definitionen erwartet. Nun sind die hier hintergründig zur Verhandlung stehenden Begriffe „Ideologie” und „Religion” Labyrinthe, in denen man sich schnell verlieren kann. Das zeigte schon ein kurzer Blick auf die Begriffsgeschichten und damit zusammenhängenden Diskussionen, die im Fall des Begriffs „Ideologie” ins Ende des 18. Jahrhunderts, im Fall der „Religion” sogar schon in die Antike zurückreichen. Es besteht die Gefahr, dass es wie oft im philosophischen Geschäft geht: Es bleibt wegen Eröffnung geschlossen. Also dürfen wir es kurz machen: Nach wie vor wird das Wort „Ideologie” mit einer negativen Bedeutung versehen. Daran haben alle anderen Verwendungsweisen z. B. am Anfang des 19. Jahrhunderts und bei Marx und Engels bis in die heutige Soziologie hinein nichts ändern können. Ich zitiere den Jenaer Philosophen Klaus-Michael Kodalle: „In Situationen, in denen die Menschen ihr Handeln … ganz auf eine Idee ausrichten (wie: die Geschichte, die Menschheit, die klassenlose Gesellschaft), laufen sie Gefahr, den konkreten anderen Menschen aus dem Blick zu verlieren. Vampirhaft stärken sie sich an der Phantasmagorie der Idee und werden heldenhaft-unerbittlich, wenn es nötig ist, Menschen für das Erreichen des hohen Zieles zu schädigen oder gar zu opfern. Schließlich sind sie selbst ja auch bereit, sich vorbehaltlosopferwillig für das abstrakt-allgemeine, aber für substantiell gehaltene Ziel einzusetzen. Warum sollten sie also im Kampf für das Gute nicht auch andere ,gutwillig’ opfern!? Die ,Logik’ solchen Heldentums, das sich gegen alle Infragestellung immunisiert hat, ist gnadenlos. … [H]ier stellt der Abweichler, Skeptiker, Zögerer, Kritiker eine Anfechtung dar, die niedergekämpft werden muss. Denn die Idee – welche es auch sei – bindet hier stärker als der Respekt für das Leben (vor allem: das Leben der anderen). […] Mithin: die direkte Identifizierung mit einem abstrakten Menschheitsziel und dessen monopolartige Verabsolutierung gegenüber den vielen anderen Zielvorstellungen spiegelt ein Denken, das … nun die Erde im Zeichen einer Wahl für das Gute verwüstet.” Gilt das aber nicht auch für viele Formen von Religion: heldenhafte Unerbittlichkeit, gnadenloses Opfer anderer Menschen, besonders von Andersdenkenden, Verwüstungen im Zeichen einer Wahl für das Gute? Religion kann wahrlich zur Ideologie werden. Eine Charakterisierung als Ideologie ist also nicht auf die marxistisch-leninistische Weltanschauung eingegrenzt, betrifft jedoch ohne Zweifel diese mit. Da sich diese spezielle Weltanschauung selbst als „wissenschaftlich” bezeichnete, war der Konflikt mit der Religion vorprogrammiert, die – und hier kürze ich wieder einen verschlungenen Weg durch mögliche Definitionsprobleme ab – nach allgemeiner Meinung immer etwas mit „Glauben” an ein Absolutes, Gott genannt, zu tun hat. Es geht also im Folgenden um das Spannungsfeld von Wissen und Glauben, das weiterbesteht, auch wenn sich das ursprüngliche Spannungsfeld von Marxismus und Christentum weitgehend aufgelöst haben dürfte. Denn der Pulverdampf der dogmatischen Auseinandersetzungen hatte sich nach 1989 weitgehend verzogen und hervor trat der ostdeutsche „Otto Normalverbraucher”, der weder Marxist noch Christ war und ist, sondern religiös indifferent, d. h. von religiösen Fragen zumeist unberührt. In der Regel dürfte dieser ostdeutsche Durchschnittsbürger in der Tiefe seines Herzens, was die Theorie betrifft, Naturalist oder Physikalist sein, d. h. von einem naturwissenschaftlichen, eher neopositivistischen Weltbild überzeugt, in dem allein gilt, was mathematisch logisch oder durch Beobachtung und Experiment belegbar ist. In der Praxis wird er als nüchterner Pragmatist auftreten. Religion ist aus diesem Blickwinkel etwas für Leute, die sie eben brauchen und deshalb Privatsache.

2. RELIGION – „OPIUM DES VOLKES”?

Die in der DDR landläufig herrschende Meinung über das Verhältnis von Wissen und Glauben macht vielleicht folgende Episode deutlich: Als ich mich am Ende meiner Lehrzeit als Chemielaborant mit Abitur für ein Mathematikstudium bewarb, wunderte sich ein Lehrer, wie ich das mathematischnaturwissenschaftliche Denken mit meinem christlichen Glauben vereinbaren könnte. Ich wiederum wunderte mich über seine Verwunderung, denn ich konnte da keinen Widerspruch erkennen, auch wenn ich mich dann doch für ein Theologiestudium entschieden habe. Selbstverständlich war mir bekannt: Christen wurden als rückständig und dem bürgerlichen Denken verhaftet geblieben angesehen. Eine Karriere stand ihnen nur offen, wenn sie sich, wie gesagt, den Machtverhältnissen beugten und der staatlichen Ideologie nicht widersprachen. Zu deren Grunddogma gehörte die Inkompatibilität von Religion und Vernunft: Religion ist Opium des Volkes, so Karl Marx, eine tröstende, aber verkehrte Modellierung einer verkehrten Welt. Mit deren revolutionärer Umgestaltung werde jede Art von Religion allmählich verschwinden. Ludwig Feuerbach und Sigmund Freud sahen in Gott eine Projektion unaufgeklärter Menschen, waren also ähnlicher Meinung. Der Leninismus verschärfte diese Aussage noch: Religion ist nicht nur Opium des Volkes, sondern Opium für das Volk, d. h. von den Herrschenden dem Volk eingeflößt, um es ruhig zu stellen. Man muss also die Kirche zurückdrängen, um eine Gesellschaft zu modernisieren. Wie die Ereignisse von 1989 zeigten, sahen viele Christen das genau anders herum: Unter anderen waren sie es, die angesichts der weitverbreiteten ideologischen Verblendung ihren gesunden Menschenverstand zusammen hielten und halfen, das sozialistische Experiment abzubrechen, ohne dass es zu Gewalt und Rache kam – beginnend im katholischen Polen, dann folgten die anderen Länder. „Das nächste Mal experimentiert erst mit Kaninchen”, so lautete damals eine sarkastische Aufforderung an die Kommunisten, mit anderen Worten: Was ihr geplant und getan hattet, war nicht durchdacht und unvernünftig. Damit steht es in der Frage Glaube gegen Vernunft zunächst „1:1”. Religion ist tatsächlich – wie Marx voraussah – mit der Modernisierung der Gesellschaft aus vielen Bereichen verschwunden. Andererseits hat sie sich als für Marxisten überraschend kräftig erwiesen, selbst in vielen ehemaligen sozialistischen Staaten ist sie wieder recht lebendig. Die Frage drängt sich auf, wer unvernünftiger ist: der religiöse Glaube oder eher eine zuweilen sehr oberflächliche Wahrnehmung der Probleme, mit denen die Menschen in ihrem Leben konfrontiert sind, und die daraus resultierende Gedankenlosigkeit in manchen Lösungsstrategien, auch wenn solche Bemühungen oft gut gemeint sind. Das Opium des Volkes, wenn nicht sogar für das Volk, könnte durchaus weniger aufseiten der Religion als bei deren Alternativen zu finden sein. Das ist eine Vermutung, die ich im Folgenden zu klären versuche.

3. DAS ENDE DER SÄKULARISIERUNGSTHESE

Ich beginne wieder mit einer Episode, die kurz nach 1989 spielt: Als ein Student aus Leipzig sich in Zürich zum Studium anmeldete, fragte ihn der Beamte nach seiner Konfession. Darauf der Student: Er habe keine. Darüber wunderte sich der Beamte. Und über dessen Verwunderung wunderte sich der Student. Mit Recht: In Leipzig hätte sich nämlich über die Tatsache, dass er keiner Konfession angehörte, niemand gewundert. Denn hier sind mehr als zwei Drittel der Bevölkerung konfessionslos. Mit anderen Worten: Dieser Student ist normal, alle Christen, Muslime und sich anderweitig als religiös deklarierenden Menschen sind dagegen außerhalb der Norm. Ähnlich wie in den neuen Bundesländern ist es in vielen anderen Ländern Europas. Es gibt in Europa offenbar so etwas wie einen atheistischen Halbkreis, der sich grob gezeichnet von Estland und Lettland über die nordischen Länder und Teile Nord- und Ostdeutschlands bis Böhmen zieht. In diesem Bereich bilden nichtreligiöse Menschen die Mehrheit. Die Fakten zeigen aber, dass genau das weltweit unnormal ist. Immer wieder berichten ostdeutsche Studierende, dass sie im Ausland bestaunt wurden: Das gibt es also, Menschen ohne Religion? Was in Ostdeutschland normal ist, ist dort unnormal. Inzwischen wird das sogar von einer Reihe von Soziologen bestätigt. Lange Zeit nämlich galt die so genannte Säkularisierungsthese: Mit wachsender Modernisierung schwindet die Religion. Westeuropa sah sich hier als Vorreiter einer globalen Tendenz, die letztlich zur Entzauberung der Welt (so Max Weber), zum Sieg einer aufgeklärten Vernunft, zu einer säkularen Lebenseinstellung führt. Ablesbar war das am beispiellosen Siegeszug dieser Vernunft in Naturwissenschaft und Technik. Inzwischen, so z. B. José Casanova und Hans Joas, sind allerdings starke Zweifel angebracht: Der angebliche Vorreiter Westeuropa ist die weltweite Ausnahme. Denn nur in unseren Breiten führte Modernisierung zu einem solchen Rückgang des religiösen Glaubens, nicht aber in den asiatischen „Tigerstaaten” inklusive Japan, Indien und China, nicht in Kanada – von den USA ganz zu schweigen. Im Gegenteil: Es kommt in Modernisierungsprozessen teilweise sogar zu einer Vertiefung der Religiosität, auch wenn das nicht immer erfreuliche Konsequenzen hat. Westeuropa ist mit Peter L. Berger ein kirchliches Katastrophengebiet, Ostdeutschland und Böhmen wären dann das Epizentrum. Es wäre natürlich von großem Interesse herauszufinden, warum das so ist und wie es nun weitergehen wird. Doch das ist hier nicht unser Thema. Es sind also Zweifel erlaubt. Es ist diesmal nicht der atheistische Zweifel, der Religiöse zuweilen befällt, sondern der religiöse Zweifel, den auch Atheisten kennen: Ist der Glaube – vielleicht doch – vernünftig? Das ist nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Dafür sind beide Begriffe – Glauben und Vernunft – zu unbestimmt.

4. „GLAUBEN” UND „VERNUNFT” – EINIGE ANMERKUNGEN ZUM BEGRIFF

Zunächst ist nicht jeder Glaube vernünftig. In der deutschen Sprache gibt es den Unterschied von Glauben und Aberglauben. Aberglaube gilt per definitionem als unvernünftig. Warum eine schwarze Katze, die von links nach rechts läuft, Unglück bringen soll, ist wohl kaum nachvollziehbar. Natürlich ist strittig, wo genau Glaube aufhört und Aberglaube anfängt, aber entscheidend ist, dass es diese Differenz gibt. Glauben ist weniger als Wissen, so wird behauptet, also noch nicht vernünftig. Das gilt beispielsweise für Hypothesen, Vermutungen und subjektive Meinungen, die ja zumeist so eingeleitet werden: „Ich weiß es nicht, aber ich glaube (meine, vermute, nehme an), dass … ” Von Wissen kann nach Platons uralter Definition erst gesprochen werden, wenn solche Aussagen sich als wahr erwiesen haben und gerechtfertigt werden können. Doch diese Art von Glauben kann hier nicht gemeint sein, wenn wir von religiösem Glauben sprechen. Wenn jemand z. B. im Glaubensbekenntnis sagt: „Ich glaube an Gott”, dann will er doch nicht ausdrücken, dass er vermutet, es gäbe einen Gott – er wisse es nur nicht genau. Sondern er will verdeutlichen, dass dies seine tiefste Überzeugung ist, die sein ganzes Leben prägen soll. Glaubensüberzeugungen stehen insofern quer zur Skala Vermuten – Wissen – Wissenschaft. Sie speisen sich aus persönlichen Erlebnissen, reflektierten Lebenserfahrungen und kulturellen Traditionen, die helfen, diese Erlebnisse und Lebenserfahrungen zu deuten. Glauben in diesem Sinne hat umfassende existentielle Auswirkungen: Er prägt die gesamte Lebenseinstellung, akzentuiert das Verhalten in bestimmter Weise und versorgt es mit einer bestimmten motivierenden Kraft. Glauben als Überzeugung hat etwas mit Beständigkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen zu tun. Diese Art von Glauben geht über Wissen hinaus: Ob man einem Arzt trauen kann, ob es verantwortbar ist, der Stimme seines Gewissens zu folgen, ob man hoffen darf, dass das Leben trotz aller Rückschläge gelingt – das alles schließt Wissen im Sinne der Wissenschaft ein. Aber selbst dieses wissenschaftliche Wissen muss zur Überzeugung werden, damit es trägt. Gerade die neueren Forschungen zu einer Philosophie des Geistes zeigen, dass Wissen ohne diese emotive Komponente irrelevant bleibt (so Eva-Maria Engelen), als würde ein Computer Daten sammeln, mit denen er letztlich nichts anzufangen weiß. Es muss also zu einer Überzeugung kommen. Sie erst bietet Weltorientierung und Handlungsanleitung, alles andere bleibt steril. In diesem Sinne spricht man sogar vom Glauben an die Wissenschaft. Dass man glaubt, ist also der Normalfall, es ist jedoch nicht unabhängig von dem, was man glaubt. Glauben als Überzeugung, so sagten wir, hat etwas mit Beständigkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen zu tun. Unsinniges ist letztlich nicht verlässlich, wie die Etymologie des englischen Wortes für „wahr” – „true” andeutet: Es meint „treu”, „standfest wie ein Baum” (tree). Jede Art von Glauben, auch der religiöse, darf sich deshalb nicht von Geltungsfragen verabschieden. Er ist nicht nur eine persönliche Geschmacksfrage, über die sich bekanntlich nicht streiten lässt, sondern hat etwas mit der menschlichen Vernunft zu tun – und die ist nicht privat, sondern letztlich allgemeinmenschlich. Allerdings wird die Rechtfertigung von Glaubensüberzeugungen nicht mathematisch oder experimentell, sondern eher narrativ, also in Form von Erzählungen erfolgen, die aber auf ihre Weise etwas verständlich und intersubjektiv nachvollziehbar machen sollen. Offenbar waltet hier aber eine andere Art von Vernunft als die mathematisch-naturwissenschaftlich-technische, die sich auf logische Analyse, Beobachtung und Experiment beruft. Zumeist wird jedoch nur diese Art von Rationalität gelten gelassen. Schon Mitte des 18. Jahrhunderts hat David Hume am Ende seines „Enquiry Concerning Human Understanding” gefordert, alle Bücher, wenn sie nicht über Zahlen oder Tatsachen handeln, ins Feuer zu werfen. Das beträfe dann natürlich auch alle religiösen Bücher. Inzwischen wissen wir durch die Judenverfolgung des 20. Jahrhunderts: Erst brennen die Bücher, dann brennen die Menschen. Und die modernen Christenverfolgungen zeigen: Ehe man religiöse Menschen ausschaltet, bezeichnet man sie als aufklärungsresistent oder als dumm und zurückgeblieben. Gegen diese Einengung des Vernunftbegriffs auf das in Zahlen und Fakten Erfassbare haben besonders die Geisteswissenschaften immer wieder protestiert, voran die Philosophie und die Theologie. Wie ist es, so lässt sich fragen, mit der Vernunft im Bereich der Ästhetik? Betrifft das, was schön oder hässlich, erhaben oder banal ist, nur Geschmacksfragen? Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten. Wie sieht es in der Ethik aus – sind Diskussionen über das Gesollte oder Nicht-Gesollte, Erlaubte und Verbotene nur Austausch von subjektiven Meinungen, oder gibt es auch hier eine Art von Allgemeingültigkeit, die aber anders ist als die mathematisch-naturwissenschaftliche? Wir in Europa sind beispielsweise für Menschenwürde, Menschenrechte und Demokratie, woanders ist man da gegenteiliger Meinung – Ende der Diskussion? Mit anderen Worten: Sind auch in diesen Bereichen Geltungsfragen sinnvoll? Geht es hier ebenfalls um objektive Gegenstände oder nur um menschliche Konstrukte, die sich vor keinem Anspruch der Wirklichkeit verantworten müssen? „Wir fühlen”, so sagt der Mathematiker und Philosoph Ludwig Wittgenstein Anfang des letzten Jahrhunderts, „dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.” Entscheidend ist, ob jemand in der Lage ist, diese Diskrepanz überhaupt zu bemerken. Bevor also über die Vernunft im Glauben oder gegen den Glauben zu diskutieren ist, wären einige Testfragen zu deren Flexibilität zu stellen: Ist die Wahrheit nicht immer größer, größer auch als das, was wir mathematisch-naturwissenschaftlich erfassen, so dass der Anspruch der Wirklichkeit an uns diese Denkweise sprengt? Wie gelingt es z. B. einem streng ökonomisch denkenden Menschen, ethische Fragestellungen gelten zu lassen, obwohl er sie ökonomisch nicht angemessen fassen kann? Wann müsste ein Techniker aus seinen Kategorien ausbrechen und sich zum Beispiel auf ästhetische Kriterien einlassen? Oder meinen der Ökonom und der Techniker dann immer zwangsläufig, sie bewegten sich nun auf irrationalem Territorium oder im Bereich rein subjektiver Meinungen? In diesem Fall wäre die Übung wohl misslungen, die lehren soll, dass der Anspruch der Wirklichkeit auf nur mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Weise nicht umfassend genug gewürdigt wird.

5. SCHRANKEN UND GRENZEN – HORIZONTVERÄNDERNDE ERFAHRUNGEN

Hier müssen nämlich Grenzen aufgezeigt werden und nicht nur Schranken. Das ist eine Unterscheidung, auf die Immanuel Kant in seinen vernunftkritischen Schriften aufmerksam gemacht hat und die dann von Hegel weiter diskutiert wurde. Es dürfte den Rahmen dieses Vortrags sprengen, den Verästelungen dieses Diskurses nachzugehen. Alltagssprachlichintuitiv verbinden wir mit „Beschränkung” ein Defizit in einem bestimmten Bereich, das durch Überwindung der jeweiligen Barriere ausgeglichen und so der Bereich erweitert werden kann – z. B. eine beschränkte Sehfähigkeit durch Sehhilfen wie Brillen, Mikroskope, Fernrohre etc. Grenze wäre dagegen als etwas zunächst Prinzipiell-Unüberwindbares zu begreifen. Beispielsweise richtet sich Sehen immer auf irgendwie Sichtbares; somit ist die Sehfähigkeit in Grenzen eingeschlossen, weil das „Unsichtbare” nur durch völlig andere Fähigkeiten erschlossen werden kann: Töne durch Hören, Gerüche durch Riechen. Keine irgendwie denkbare „Entschränkung” des Sehsinnes ermöglicht einen Vorstoß in diese neuen Dimensionen der Wirklichkeit, andere davon differierende Sinnesvermögen sind notwendig. Wie ist ein „Wissen” um die Grenze jener Fähigkeit und damit um ein Jenseits des zugeordneten Bereichs möglich, wenn man vielleicht nicht über Hör- und Geruchssinn verfügt? Das Gesagte gilt dann auch für die Sinneserfahrung als solche – und infolgedessen z. B. für den gesamten naturwissenschaftlichen Zugang zur Welt: Schranken können hier ständig fallen, aber es bleibt eine prinzipielle Grenze, auf die Wittgenstein hinzuweisen versucht, nämlich der Bereich „unsere[r] Lebensprobleme”, die naturwissenschaftlich-technisch „noch gar nicht berührt sind”. Hat man sich einmal dieserart terminologisch verständigt (was natürlich ein anderes Verständnis der fraglichen Begriffe nicht ausschließt), wird die Aussage hoffentlich plausibel, dass es nicht ausreicht, Schranken zu überwinden, man muss Grenzen spüren und zu überwinden versuchen. Geographisch gesehen können hinderliche Bahn-, Zoll- und andere Schranken fallen, um aber die zweifellos begrenzte, in Quadratkilometern präzise messbare Erdoberfläche zu verlassen, hilft keine Aufhebung von Beschränkungen, sondern nur die Bewegung in eine neue Dimension hinein – und das erfordert eine alternative Fähigkeit (z. B. die der Raumfahrt). Grenzen zu überwinden ist offensichtlich ein erheblich schwierigeres Geschäft als die Beseitigung von Schranken (so schwer letzteres z. B. im Fall des Eisernen Vorhangs auch gewesen sein mag). Trotzdem ist es möglich: durch „horizontverändernde Erfahrungen” (Richard Schaeffler). Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass das bisherige Kategorienschema gesprengt wird – ganz im Sinne des biblischen „Metanoiete! – Denkt um! Denkt neu!” (Mk 1,15) Naturwissenschaftler entdecken die Ethik, Ökonomen die mitmenschliche Verantwortung, Deterministen den Zufall, „hinter dem Gott lächelt” – also etwas, das in den bisherigen Schemata keinen Platz hatte und in diese auch nur um den Preis seiner Fehl- und Missdeutung eingeordnet werden kann. Es ist ja ein typischer Kategorienfehler, Mitmenschlichkeit nur nach ökonomischen Parametern zu beurteilen oder Religion nur nach ethischem oder gesellschaftlichem Nutzen. Ein Anzeichen für diese horizontverändernden Erfahrungen ist eine mehr oder minder lang anhaltende Sprachlosigkeit, vielleicht sogar Orientierungslosigkeit: Ich verstehe selbst nicht mehr, wie ich damals dachte. Ein Zurück in vorherige Denkmuster erscheint unangemessen, irgendwie bin ich einen Schritt weiter gekommen, wenn auch unsicherer als früher. Um Paulus zu zitieren: „Ich bilde mir nicht ein, dass ich es schon ergriffen hätte. Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist.” (Phil 3,13) Horizontverändernde Erfahrungen haben also immer eine Gerichts- und eine Befreiungskomponente. Diese Erfahrung eines Bruches oder einer Differenz – die es nicht mehr möglich macht, die Dinge zur Synthese zu bringen – ist destruierend, hat aber auch Verweisungscharakter: Es erscheint ein (noch) unbestimmbar Anderes, Neues, die „veritas semper maior” – die immer größere Wahrheit. Sie lässt sich nicht in die nun als begrenzt erkannten Wahrnehmungsund Denkschemata pressen, auch wenn die Versuchung dazu besteht. Letztlich weisen Erfahrungen dieser Art auf „das, umfassender als welches nichts zu denken möglich ist” (aliquid (id), quo maior nihil cogitari potest), um an Anselm von Canterburys Gottesbegriff zu erinnern. Um Grenzen als solche zu erkennen und sie sprengen zu lassen, braucht es also eine Achtsamkeit auf diese Unterbrechung des Gewohnten, welche eine Gegenwart „dahinter” oder „dazwischen” verbirgt und zugleich offenbart. Brüche und Differenzen als Ort einer „veritas semper maior”: In dieser revolutionsverdächtigen Perspektive können auch die Reaktionen auf den Fall der Mauer in Richtung auf eine solche horizontverändernde Erfahrung gelesen werden. Das gilt vor allem für den (inzwischen abgeschliffenen) spontanen Ruf „Wahnsinn” der Nacht des 9. November – ein Ausdruck des offenkundigen Versagens geregelter Sprache. Welche Denkschemata sind damals zerbrochen? Vielleicht das einer in gesetzmäßigen Bahnen verlaufenden Geschichte, wie es der Historische Materialismus bis in den schulischen Staatsbürgerkundeunterricht hinein immer wieder propagiert hatte. Dieses Schema schimmerte noch in dem Gorbatschow zugeschriebenen Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben” durch.

6. SICH REALISTISCH ODER SITTLICH VERHALTEN? – EIN UNLÖSBARER WIDERSPRUCH

Nicht die gesetzmäßige Kontinuität, nicht der Fortschritt, sondern die Brüche und Differenzen offenbaren die Grenzen und reißen neue Horizonte auf: Es ist Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung, dem wir die gut begründete Erkenntnis verdanken, dass mindestens zwei Vernunftarten schwerlich zu vereinigen sind, jede für sich allein aber an ihre Grenze kommt. Es handelt sich um den Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft oder, um es in unsere Lebenswirklichkeit zu übersetzen, um den Widerspruch zwischen realistischem und sittlichem Verhalten. Wir leben einerseits in der Welt der physikalischen, ökonomischen und soziologischen Gesetze, die für Kant das Reich der Natur bilden, und andererseits in der Welt der (sittlichen) Zwecke oder Ziele, die Gegenstand von Moral und Sitte ist und bei Kant Reich der Freiheit heißt. Wir sind hier mit zwei Unbedingtheiten konfrontiert: Erstens mit der Unbedingtheit der Naturgesetze, die sind, wie sie sind. Sie sind nicht bereit, sich irgendeinem menschlichen Sollen zu beugen. Zweitens mit der Unbedingtheit, mit der sich das Gewissen geltend macht – und mit dem Gewissen ist bekanntlich nicht zu diskutieren. Man kann nur versuchen, es zum Schweigen zu bringen. Beide Welten erweisen sich aber zumeist als nicht kompatibel. Wenn ich aus meinem Leben etwas machen will, lautet doch immer wieder die quälende Frage: Verhalte ich mich nun realistisch oder moralisch? Folge ich zum Beispiel der ökonomischen Vernunft oder folge ich meinem Gewissen? Nur selten passt beides zusammen. Kant konnte zeigen, dass es sich hierbei um einen Antagonismus, d.h. einen unüberwindlichen Widerspruch handelt. Wir kennen das: Ein Wirtschaftsunternehmen ist keine diakonische Einrichtung, was aber, wenn eine diakonische Einrichtung ein Unternehmen sein muss: den ökonomischen Gesetzen folgen oder der Nächstenliebe? Wer eingreift, macht sich notwendigerweise die Hände schmutzig, was moralisch unakzeptabel ist. Wer aber die Hände sauber behalten will, muss tatenlos zuschauen, wie sich die Dinge ihren jeweiligen Gesetzen gemäß entwickeln, auch das ist nicht moralisch: Er macht sich der Unterlassung schuldig. Was aber ist dann vernünftig zu raten? Der Rat der Philosophen war immer, sich mit diesem Faktum abzufinden oder gar anzufreunden, um glücklich leben zu können, allerdings verlangt das Gewissen eben oft anderes, spätestens dann, wenn der Schrei der Opfer unüberhörbar wird. Nehmen wir noch die ästhetische Vernunft dazu, welche Schönheit und Erhabenheit fordert, wird es noch komplizierter. Eine Lösung könnte so lauten: Letzter Zweck alles wahrhaft sittlichen Handelns müsste eine Konstellation sein, in der man sich zugleich realistisch und sittlich gut verhalten kann. Kant nennt dieses Ziel die „moralische Weltordnung”. Dieser Vorschlag hat viele Freunde gefunden: Sozialisten, Kommunisten, Demokraten, Menschenrechtler, Fundamentalisten und Humanisten aller Couleur – aber leider ist er naiv, denn er verstärkt nur das Problem und löst es nicht. Alle Versuche, eine solche „moralische Weltordnung” zu schaffen, machen die Welt zur Hölle. Kant hatte die Französische Revolution vor Augen, bei welcher die Bemühungen um Vernunft und Moralität in Terror umschlugen, und das war schließlich nicht der erste missglückte Versuch, den Himmel auf die Erde zu holen. Diese Entgleisung in den Terror und in gesellschaftliche Verwerfungen ist nämlich nicht zufällig: Wo gehobelt wird, fallen eben Späne, sagt das Sprichwort. Kant hat das wahrscheinlich noch nicht so scharf gesehen. Aber im 21. Jahrhundert ist nach den verschiedenen Experimenten dieser Art der Zusammenhang deutlicher: Der Wille zum umfassenden Guten führte zwangsläufig und nicht nur aufgrund fehlerhafter Entscheidungen zu verheerenden Folgen für Individuum und Gesellschaft. Solche Experimente zu erneuern, verbietet sich von daher (so forderte schon Kant). Das wäre also das Verbot jeder Art von Ideologie, wie wir sie eingangs kennzeichneten. Man ist natürlich versucht, das Dilemma durch einen Kompromiss zu unterlaufen: Verhalte dich den Gegebenheiten entsprechend und nutze die Spielräume, die sie dir lassen, soweit wie möglich, um das zu tun und zu lassen, was du als richtig erkannt hast. „Social engenieering” wie es Karl Popper nennt. Alle darüber hinausgehenden Forderungen sind unverantwortlich. Das klingt pragmatisch. Für uns aber ist die Frage: Ist diese Haltung auch vernünftig, d. h. rational vertretbar? Kant wäre nicht dieser Meinung gewesen. Die Vernunft fordert Einheit, das ist ihr geheimes Ideal. Mit Kompromissen gibt sie sich letztlich nicht zufrieden. Es kann nicht zwei „Vernünfte” geben, die sich schiedlich-friedlich auf die Mitte einigen. Das zerreißt nämlich auch die Einheit des Vernunftsubjekts in zwei „Ichs”. Meine Identität wäre angesichts einer gespaltenen Vernunft nicht mehr zu wahren, wenn ich je nach Situation mich einmal als Teil der Natur und ein andermal als Freiheitssubjekt erlebe und einmal realistisch und dann wieder mal sittlich verhalte. Wenn aber dieses Einheitsideal sich als unerreichbar erweist? Dann, so Kant, muss die Vernunft eben eine Lösung fordern, um nicht unterzugehen. Sie postuliert die Existenz eines Wesens, das beide Weltordnungen vereint, gemeinhin Gott genannt. Kant sagt nicht, dass dieses Wesen wirklich existiert, er fordert nur seine Existenz, damit Vernunft überhaupt möglich ist. „Gäbe es keinen Gott, so müsste man ihn erfinden”, so Voltaire. Präziser fasst es der Philosoph Robert Spaemann: In dieser dilemmatischen Situation heißt an Gott glauben, „die Antinomie der beiden Unbedingtheiten [des Gewissens und der Naturgesetze] nicht als das letzte Wort gelten zu lassen. Gott ist, das heißt: Die unbedingte Macht und das schlechthin Gute sind in ihrem Grund und Ursprung eins – … ein Exzess der Hoffnung.”4 Dass die Hoffnung berechtigt ist, lässt sich an dem ablesen, was Kant „Geschichtszeichen” nannte und als denkwürdig, aufschlussreich und hoffnungsvoll kennzeichnete („signum rememorativum, demonstrativum, prognosticum”)5. Zuweilen passen zum Beispiel Ökonomie und Ethik zusammen, wenn ein Unternehmer, der sich ständig gegen Moral und Sitte verhält, letztlich scheitert, oder wenn eine caritative Einrichtung ökonomische Gesetze beachten muss, um effektiv wirksam zu sein, und trotzdem ihr Ideal der Nächstenliebe und Barmherzigkeit leben kann. Aber das sind punktuelle Hoffnungszeichen – nicht mehr. Denn in vielen Fällen erweist sich der Fall als unlösbar widersprüchlich.

7. RELIGION – EINE KRITISCH FORDERUNG NACH EINER „UMGEWENDETEN” VERNUNFT

Seit Sokrates ist die Vernunft vor allem kritisch am Werk. Die Vernunft des religiösen Glaubens besteht demgemäß in der Kritik der bestehenden Verhältnisse, das hat übrigens sogar Marx anerkannt. Sie ist die Enttarnung einer zu oberflächlichen Weltdeutung und zu kurzsichtigen Handlungsanleitung. „Die kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung”, so der Theologe Johann Baptist Metz. Und damit sind wir auf langem Weg wieder bei dem Eingangsbeispiel, dem Statement des FDJ-Sekretärs, angekommen. Religion unterbricht Routinen und unterläuft zu oberflächliche Weltdeutungen, seien sie naturalistisch, materialistisch, marxistisch-leninistisch oder sonstwie. Religiöser Glaube lotet die menschlichen Widersprüchlichkeiten aus und ist aufmerksam für die Bruchstellen, in religiöse Sprache übersetzt: Die Sünde der Welt und die Endlichkeit des Menschen werden offen gelegt, in all ihren Dimensionen erfasst und nicht übersprungen oder verdrängt. Illusorische Lösungsvorschläge werden entlarvt, in der Terminologie der alten Propheten: Es werden selbst gemachte Götter gestürzt, weil sie nicht zum Heil führen können. Es dürfte wohl nicht ausreichen, mit Kant einen Gott nur zu fordern oder mit Voltaire ihn nur zu erfinden, sondern hier ist eine Entscheidung verlangt, die das alltäglich vor Augen Liegende überschreitet. Noch einmal: „Metanoiete” heißt es am Anfang der Evangelien: Denkt um, denkt neu! Dahinter verbirgt sich das Wort „nous” – Vernunft. Religion verlangt also eine „umgewendete” Vernunft. Sie ist – aus einem starken Glauben gespeist – auf Hoffnung gegründet. Denn niemand kann behaupten, die Lösung zu haben, sondern auf eine solche muss eben gehofft werden – verbunden mit der Bereitschaft, aus dieser Hoffnung zu leben und für sie Zeugnis in Wort und vor allem Tat abzulegen. Damit wird religiöser Glaube praktisch. Manchmal dient der Glaube allerdings dazu, sich in einer unheilen Welt gemütlicher einzurichten oder aus ihr innerlich auszuwandern. Dann wird er aber tatsächlich zum Opium. Deshalb richtet sich die Forderung nach einer umgewendeten Vernunft auch immer an die Religion selbst. Die Religionskritik kommt zunächst einmal aus ihr selbst – aus der eigenen und den fremden –, gleichwohl hat auch die externe Religionskritik eine zwar oft ätzende, aber letztlich reinigende Funktion.

8. DER POSTMODERNE VERNUNFTPESSIMISMUS

Inzwischen hat sich das Spannungsfeld von Wissen und Glauben allerdings erweitert, haben sich die Extreme verstärkt: Fundamentalismus in religiöser und atheistischer Version einerseits, Vernunftpessimismus andererseits. Seine Berechtigung sieht dieser Pessimismus in den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die sich im Namen Auschwitz konzentrieren (wobei Ruanda nicht zu vergessen ist). Seitdem sind „die großen Erzählungen” (so Jean-François Lyotard) der modernen, aufgeklärten Vernunft als Mythen entlarvt worden: der unaufhaltsame Fortschritt der Wissenschaften, der mögliche Sieg der Humanität – all das, was bisher die Befreier motivierte und auch legitimierte, hat einen schalen Beigeschmack bekommen, auch wenn es vielleicht noch nicht alle gemerkt haben. Die abendländische Kultur scheint zwar weltweit auf dem Siegeszug zu sein, aber genau in diesem Moment wird das alte Europa zunehmend unsicher über seine eigenen Grundlagen. Sind wir nicht in den letzten 200 Jahren oft sehr naiv die Menschheitsprobleme angegangen? Haben wir mit unserem scheinbar vernünftigen Handeln nicht mehr zerstört als aufgebaut? Der jüdische Philosoph Walter Benjamin hat das während des zweiten Weltkrieges in ein starkes Bild gefasst: Der Engel der Geschichte wird von einem Sturm hilflos in die Zukunft geblasen, rückwärtsgewandt aber kehrt er sein entsetztes Gesicht den Leichenbergen zu, die sich in der Vergangenheit immer höher auftürmen. Deshalb gilt gern: „Das postmoderne Lebensgefühl ist aus zwei Komponenten gefügt: Erstens, der Erfahrung, dass es keinen Sinn mehr gibt für das Ganze, und zweitens, der Entschlossenheit, dass dies noch lange kein Grund zu sein braucht, Trübsal zu blasen.” (Bernd Guggenberger) Kann der Mensch auf Dauer so leben? Man hat den Eindruck einer gigantischen Verdrängung, deren Wurzel Resignation ist, wie das schon Anfang des 19. Jahrhunderts Sören Kierkegaard kritisch analysierte.

9. ALLES IST GABE

Wo also ist das Opium des Volkes zu finden, das illusorisch die Realität verklärt? In der Religion oder doch eher in vielen alternativen Lebensoptionen? Religion darf die Wunden offen halten, gespeist aus einem tiefen Glauben an das mögliche Heil. Religiöser Glaube wird gerade angesichts der modernen Katastrophenerfahrungen hartnäckig die Frage stellen: Ist es wirklich vernünftig und verantwortlich, eine letzte Einheit, genannt „das Heil”, aufzugeben? Reicht es, bei einer „schwachen” Vernunft stehenzubleiben, die letzte Fragen ausklammert, oder maximal zu einem vagen „Etwasismus” bereit ist: „Da gibt es noch Etwas … ”? Die Hoffnung auf eine letzte Einheit kann Religion, wenn sie ihr Geschäft ernst nimmt, zum Anwalt der Vernunft werden lassen. Religiöser Glaube ist keine Unvernunft, sondern die Ermöglichung und Erneuerung von Vernunft, gerade dann, wenn sie selbst an sich zu verzweifeln droht. Andere machen oft unhaltbare Versprechungen auf Zukunft hin, wenn sie nicht sogar die Wunden ganz verdrängen. Sie propagieren zumeist das Leistungsprinzip: Der Mensch müsse Schöpfer seiner selbst werden oder sich wenigstens selbst in Szene setzen. Er sei homo faber. Ein gelingendes Leben in einer komplexen Welt erfordere Kampf ums Dasein (Darwin, Nietzsche), Kampf um Anerkennung (Hegel). Letztlich führt das aber zu einer Ökonomisierung der Wirklichkeit, zu einem Denken in Funktionen und Machtkategorien, zur Angst zu versagen oder zur Angst, das Leben zu verpassen. Religiöser Glaube wird hier wieder fundamentalkritisch ansetzen: „Was hast du, was du nicht empfangen hättest”, so Paulus (1 Kor 4,7). Leben ist Gabe, und auch Vernunft ist Gabe. Nicht umsonst sagen wir, von etwas, das existiert: „Es gibt …”, nicht umsonst kommt das Wort Vernunft von „Vernehmen”. Aufmerksamkeit auf die Brüche und Differenzen öffnet für eine Wahrheit, die immer größer ist als das Gedachte und Erwartete, eine Wirklichkeit, die sich gibt. Erst die Gabe, dann die Aufgabe, ist nun aber die Grundbotschaft des Christentums. Es selbst hat diese Reihenfolge immer wieder einmal vergessen und den Leuten den Tugendschweiß auf die Stirn getrieben. Der Rückfall in das allgemein herrschende Leistungsdenken ist offenbar genauso unvermeidlich, wie dass wir auch nach Kopernikus und Kepler immer noch vom Sonnenauf- und -untergang reden. Religion ist nicht immer ein Heilmittel gegen die modernen Leistungsideologien, sie selbst kann zur Ideologie werden, das wurde schon eingangs festgestellt. Umkehrung der Vernunft, Sprengung ihrer Grenzen, Öffnung auf die immer größere Wahrheit hin ist ein hartes Geschäft. Aber vor der Aufgabe kommt die Gabe. Wer vernünftig und verantwortbar ein gelingendes Leben sucht, sollte demnach nicht nur nachdenken und etwas leisten, sondern vor allem und zuerst dankbar – feiern. „Der Prüfstein allen Glücklichseins ist Dankbarkeit”, so Gilbert K. Chesterton. – Man könnte daraus fast ein Kriterium entwickeln: Ideologen sind zur Dankbarkeit in der Regel nicht fähig. Und wenn sie feiern, dann letztlich nur sich selbst. Wie armselig.