Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung, meine sehr verehrten Damen, meine Herren, verehrte Gäste,
Universität und Reform (Stichwort: universitas semper reformanda), Studierende und Opposition – das sind zwei Begriffspaare, die sich in der gut 800jährigen europäischen Universitätsgeschichte in einer recht stabilen Symbiose zusammen gefunden haben. Schon die Gründung unserer Universität vor 600 Jahren ist aus einem Akt vermeintlicher Hochschulerneuerung hervorgegangen. Im Jahre 1409 schrieb König Wenzel IV. im sog. Kutenberger Dekret die Verfassung der Karls-Universität in Prag um, und die sich dadurch diskriminiert fühlenden nichtböhmischen Akademiker verließen unter Protest die Stadt der Moldau. In der Pleißestadt Leipzig fand dann ein Großteil von ihnen eine neue Heimat. Das Verhältnis zwischen der Mutter- und der Tochteruniversität hat sich inzwischen zu einem konstruktiven und freundschaftlichen Dialog entwickelt, und vor wenigen Tagen am 9.5.2009 konnten wir den Prager Rektor, Magnifizenz Hampl, zur Auftaktveranstaltung unseres Jubiläumsjahres im Gewandhaus zu Leipzig begrüßen. Es werden weitere gemeinsame Auftritte folgen, so insbesondere im Zusammenhang mit dem spektakulären Lauf von Studierenden und Mitarbeitern beider Universitäten von Prag nach Leipzig, der an den Auszug im Jahre 1409 erinnern soll.
Die dann am 2. Dezember 1409 gegründete Hohe Schule in Leipzig, heute die älteste in Mitteldeutschland und zweitälteste in der Bundesrepublik Deutschland, entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten zu einem der geistigen Zentren unseres Landes. Die Impulse, die von Leipzig ausgingen, waren freilich nicht nur wissenschaftlicher Natur. Professoren und Studenten nahmen immer wieder auch zu allgemeinpolitischen Fragen ihrer Zeit Stellung. War es in der Reformation der Name von Thomas Müntzer, eines ehemaligen Leipziger Theologiestudenten, der im Bauernkrieg 1525 eine führende Rolle spielte, so finden sich auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder Leipziger Studierende im Fokus gesellschaftspolitischer Entwicklungen. In den napoleonischen Kriegen geht von Mitteldeutschland, von Jena und Leipzig, eine demokratische Bewegung aus, in der junge Studenten in den Burschenschaften um die nationalstaatliche Einheit Deutschlands auf demokratischer Grundlage kämpfen. Gut 100 Jahre später, mit dem Ende des ersten Weltkreis und des Kaiserreiches 1918, konfrontieren plötzlich revolutionäre Garden von bewaffneten Arbeiter und Soldaten die Universität. Auseinandersetzungen zwischen Studenten und bewaffneten Trupps, der erstmalige Rücktritt eines frei gewählten Rektors, des Mathematiker Hölder, wegen der sog Fahnenaffäre –man holte nachts die rote Fahne der Revolutionäre über dem Augusteum ein und zog stattdessen die Universitätsfahne auf – geben schon einen Vorgeschmack auf die nun folgenden Jahrzehnte. Im Frühjahr 1919 stürmen bewaffnete Revolutionäre mehrfach die Universitätsgebäude: einmal, weil man in den Universitätsgebäuden einen geheimen Stapelplatz für Waffen der Konterrevolution vermutete, ein anderes Mal weil man eine philosophische Antrittsvorlesung im Augusteum als Gegendemonstration zum Liebknecht-Gedenken betrachtete, nach einer Schießerei zwischen Soldaten in der Grimmaischen Straße wurde die Universität sogar regelrecht belagert.
Noch ein Novum ist mit diesen Ereignissen verbunden: Kamen die geistigen Impulse für gesellschaftliche Veränderungen bisher meistens aus dem akademischen Umfeld, so zieht nun die Politik direkt in die Universitäten ein. Auch an der Leipziger Universität etablieren sich politischen Studentenorganisationen: Sozialdemokraten, Konservative, Demokraten sowie kommunistische und nationalistische Gruppierungen werben um Mitglieder in der Universität. Die Hochschule und die Wissenschaften werden so politisch und polarisieren zugleich. Mit der Gleichschaltung der Universitäten im Nationalsozialismus erfährt diese Entwicklung eine ganz neue Dimension – nun soll eine ideologiekonforme Wissenschaftselite erzogen werden. Trotz zurückgehender Studentenzahlen lassen sich demokratischen Ideale freilich nicht aus den Köpfen tilgen – mutige Studentinnen und Studenten wie Hermann Reinmuth, Maria Grollmus oder Margarete Blank verlieren wegen ihrer politischen Überzeugungen und ihrer Standhaftigkeit das Leben.
Mit dem Kriegsende und der schrecklichen Hinterlassenschaft der Nazibarbarei konfrontiert, geht im Nachkriegsdeutschland von der jungen Generation ein enormer Motivationsschub aus: nach einem Jahrzehnt des Hasses und der Vernichtung soll endlich wieder ein besseres Deutschland entstehen. Voller Idealismus und von einem unbändigen Aufbauwillen beseelt, beginnen die Leipziger Studenten mitten in einer kriegszerstörten Stadt, zusammen mit den wenigen noch verbliebenen Dozenten und bei schmalen Essensrationen sich für eine Zukunft ohne Trümmer zu bilden. Doch welchen Weg das neue Deutschland einschlagen sollte und welche Gestalt es endlich annehmen sollte, das bleibt Primat der Politik. Dabei ist die Politikbegeisterung enorm: Öffentliche Studentenversammlungen müssen in den größten Sälen der Stadt abgehalten werden, Teilnehmerzahlen von 700-800 Studierende bei den kontroversen Diskussionen sind nicht ungewöhnlich. Um die politischen Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten zu wenden, setzten die Kommunisten in der Ostzone auf Gewalt. Die sowjetische Geheimpolizei verhaftete 1948 den Vorsitzenden des Studentenrats Wolfgang Natonek und beendete zugleich die freien Diskussionen an den Hochschulen mit Gewalt.
Gewalt und Arroganz erzeugten jedoch Gegendruck. Aus diesem Antrieb heraus entwickelte sich auch die Belter-Gruppe. Heute würde man eher von einem lockeren Bekanntenkreis von Studenten sprechen, erst die sowjetische Geheimpolizei definierte sie zu einer Spionageorganisation in strafrechtlichem Sinne. Was waren die Verbrechen der damals noch sehr jungen, knapp 19 oder 20 Jahre alten Studenten? Herbert Belter, Student der Volkswirtschaft in Leipzig, hatte sich im Frühjahr 1950 politisches Informationsmaterial aus Westberlin besorgte. Darüber diskutierte er mit seinen Freunden Siegfried Jenkner und Werner Gumpel und übergab ihnen Broschüren zur weiteren Verbreitung im Freundeskreis. Um auf die skandalösen Verhältnisse bei den ersten Wahlen in der DDR hinzuweisen, plante Herbert Belter, in der Innenstadt Flugblätter zu kleben. Dabei rührte er an einen sensiblen Punkt der SED-Mächtigen. Denn diese Volkskammerwahl im Oktober 1950 war die erste der sogenannten Blockwahlen. In einer Pervertierung des demokratischen Gedankens konnte der Wähler nur einem vorgeschriebenen Block von Abgeordnetennamen seine Zustimmung zu geben, Gegenstimmen zählten nicht. Bei einer nächtlichen Aktion wurde Herbert Belter gefasst, in den nächsten Tagen und Wochen verhaftete man dann acht weitere Studenten. Binnen zwei Monaten hatte das sowjetische Militärtribunal genügend konstruierte Beweise gesammelt, um über Herbert Belter die Todesstrafe und für die anderen neun insgesamt 210 Jahre Zwangsarbeit zu verhängen. Wenn sich auch keiner der Verurteilten im Januar 1951 vorstellen konnte, 10 oder 25 Jahre in einem russischen Lager zu überleben, so traf es einen von ihnen existenziell: Für Herbert Belter gab es keine Gnade, er wurde am 28. April 1951 in Moskau hingerichtet. Für die anderen Studenten, die das Glück hatten, ihre Haftjahre in den Strafanstalten des sowjetischen Gulags zu überstehen, bot sich erst nach 1990 wieder die Möglichkeit, an ihre alma mater zurückzukehren. Einige von ihnen, wie der viel zu früh an den Folgen der Haft im Jahre 1998 verstorbene Chemiker Hans-Dieter Scharf, wurden selbst zum Aufbauhelfer in den neuen demokratischen Hochschulstrukturen in Leipzig.
Erstmals erinnerte sich damals auch die Universität wieder ihrer verstoßenen und verschleppten Studenten. Bereits 1996 eröffnete sie, als erste ostdeutsche Universität überhaupt, eine Ausstellung über den studentischen Widerstand. Die Bild- und Informationstafeln haben wir dann im Frühjahr des letzen Jahres im Rahmen einer von Studierenden konzipierten und organisierten Ausstellung an der Hochschule der Bundeswehr in München, die sich allgemein mit studentischem Widerstand befasste, gezeigt. Das Gedenken an diese aufrechten freiheitsliebenden Studenten, die mit ihrer Standhaftigkeit und ihren Leiden auch das Bild unserer gegenwärtigen Universität mit prägen, soll und muss lebendig bleiben. Und damit dem künftig so ist, laufen gegenwärtig Planungen zu einem Erinnerungsort im neuen Augusteum. Dort soll künftig auch das Ehrenbuch der Universität ausliegen, das die Namen der über 100 Ermordeten und unschuldig inhaftierten Universitätsangehörigen seit 1933 verzeichnet, neben der Ehrentafel in der Universitätsbibliothek.
Wenn im Jahre 2010 die Universität ihr neues Hauptgebäude am Augustusplatz beziehen wird, so werden wir dort also in würdiger Form an den heldenhaften studentischen Widerstand gegen Unrecht und Willkür erinnern. Die Universität Leipzig darf und wird auch in der Zukunft nicht vergessen, was als Kern auch von Forschung und Lehre und als ihr gesellschaftspolitischer Auftrag für die nächsten Generationen zu bewahren ist: sie hat ihre Studierenden zu freiheitlich denkenden selbständigen Persönlichkeiten heranzubilden. Das freie Denken und Handeln trennt uns von den Diktaturen. Unsere Universität musste den Verlust der Freiheit gleich zweimal schmerzvoll erfahren – sich den Stellenwert dieses wertvollen Guts bewußt zu machen und seine Bedeutung nicht zu unterschätzen, darum haben wir uns heute zu den Belter-Dialogen über Impulse zu Widerstand und Zivilcourage versammelt. Bleiben wir also wachsam.
Vielen Dank der Konrad-Adenauer-Stiftung und ihren Repräsentanten, dass sie sich mit den Belter Dialogen diesen gedenkwürdigen Teil unserer Geschichte zum Anliegen gemacht und die heutige Festveranstaltung ausgerichtet haben.