Die Gründung der Universität Leipzig jährt sich 2009 zum 600sten Mal.
Dieses Jubiläum ruft in Erinnerung, dass Studium und Lehre immer auch einhergehen mit dem Drang nach geistiger Freiheit, nach persönlicher Entfaltung und dem Wunsch nach Veränderung. Leidenschaftlicher Widerstand gegen die Bedrohung von selbständigem Denken und Handeln wurde zu allen Zeiten geübt. Im Jahr 1409 führte er zur Gründung der heute zweitältesten Universität in der Bundesrepublik Deutschland. Seitdem standen Leipziger Studierende immer wieder im Fokus gesellschaftspolitischer Entwicklungen und Umbrüche, von der Reformation über die beiden Weltkriege bis in die jüngere deutsche Geschichte. Dieses Erbe ist bis heute lebendig. Kulturelle Identität wird über Geschichtsbilder auf der einen und über individuelle und kollektive Erinnerungen auf der anderen Seite geprägt. Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei persönliche Erlebnisse von Zeitzeugen ein, deren Berichte Geschichte „erlebbar“ machen und eine direkte Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart schaffen. Mitunter halten sie uns auch einen Spiegel vor, dessen Bild uns zum Nachdenken anregt. Oft genug lehren sie uns jedoch, die kleinen alltäglichen Dinge mit anderen Augen zu betrachten, hinzusehen statt wegzuschauen, unerschrocken für die eigenen Überzeugungen einzustehen – dies auch in dem Bewusstsein möglicher Nachteile. Das 600-jährige Jubiläum der Universität Leipzig ist ein Anlass, noch einmal zurückzuschauen und den Einsatz couragierter Menschen für Freiheit und Demokratie in unserer jüngeren deutsch-deutschen Geschichte zu würdigen.
Um das öffentliche Bewusstsein für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu sensibilisieren, hat das Bildungswerk Dresden der Konrad Adenauer-Stiftung gemeinsam mit der Universität Leipzig die „Belter Dialoge“ ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um eine jährlich stattfindende Veranstaltungsreihe, die durch Interdisziplinarität verschiedene Aspekte des Unterdrückungssystems an ostdeutschen Bildungseinrichtungen zur Geltung bringen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Die „Belter Dialoge“ sollen Mahnung sein, das Leben in einem demokratischen Rechtstaat nicht als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Allen Versuchen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen oder auch nur in Frage zu stellen, gilt es mit Mut und Kraft entgegenzutreten, damit Diktaturen sich in unserem Land nicht wiederholen können. Die „Belter Dialoge“ sind ein Plädoyer für Freiheit und Demokratie. Es war vor allem die geistige Unfreiheit der beiden totalitären Regime in Deutschland, die politischen Widerstand motivierten. In der Zeit des Nationalsozialismus war es zum Beispiel die Gruppe um die Geschwister Scholl, die sich in München dem System entgegenstellte. Ihre Mitglieder haben dafür mit dem Leben büßen müssen. In der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR sahen viele Studentinnen und Studenten in den Geschwistern Scholl ein Vorbild und wandten sich aktiv gegen den Totalitarismus des SED-Regimes, nachdem die Hoffnungen auf einen demokratischen Neubeginn an den Universitäten in der SBZ und der frühen DDR schon bald enttäuscht wurden. Unter dem Kurs der SED nahm ab 1948 der stalinistische Terror und Einfluss der politischen Vereinigungen an den Hochschulen systematisch zu, um das „bürgerliche Bildungsprivileg der Ausbeuterklasse“ zu brechen. Übrig blieben „nur noch Fassadenreste der traditionellen Freiheit“. Gegen diesen radikalen Umbau des gesamten Hochschulwesens nach sozialistischem Vorbild begehrten Studentenschaft und Professoren an allen ostdeutschen Universitäten auf. Ihr Ziel war es,
die Freiheit in Forschung und Lehre zu verteidigen und ein freies demokratisches Gemeinwesen zu schaffen. Dafür wurden sie mit aller Härte
verfolgt, auf Jahre ins Gefängnis geworfen, in die UdSSR deportiert oder
erschossen. An rechtsstaatliche Verfahren war dabei nicht zu denken.
So lag der Unschuldsbeweis bei dem Beschuldigten und Haftstrafen von
25 Jahren wegen „Spionage und antisowjetischer Propaganda“ waren an
der Tagesordnung. Zwischen 1945 und 1955 sind an den fünf mitteldeutschen Universitäten 377 Studenten verhaftet worden. In diesen zehn Jahren wurden allein neun Studenten der Universität Leipzig hingerichtet und 95 erhielten langjährige Haftstrafen. In der gesamten SBZ/DDR wurden zwischen 1945 und 1953 1897 deutsche Zivilisten durch sowjetische Militärtribunale zum Tode verurteilt. Die Zahl der Haftstrafen lag in diesem Zeitraum noch um ein Vielfaches höher. Auch nach 1955 wurden Andersdenkende verfolgt. Zahlen, die eine Vorstellung vermitteln, was es bedeutet, in einem totalitären System „freie Gedanken“ offen auszusprechen.
„Unter Freiheit verstehen wir das Selbstdenken und Handeln aus eigener
Einsicht“, schreibt der einflussreiche Philosoph Karl Jaspers. Der leidenschaftliche Widerstand junger Studentinnen und Studenten gegen die erneute Bedrohung der geistigen Freiheit und den Totalitarismus des SEDRegimes nach dem Ende des Nationalsozialismus legen Zeugnis ab von dieser Einsicht. Vielen waren die Konsequenzen ihres Handelns bewusst, wenn auch nicht immer im vollem Umfang, dennoch stritten sie unerschrocken für ihr Recht. Dies gilt es in Erinnerung zuhalten mit der Mahnung, dass wir nur im Wissen um unsere Vergangenheit die Zukunft verantwortungsvoll gestalten können.
Die „Belter Dialoge“ sind nach dem Leipziger Studenten Herbert Belter
benannt. Er verteilte in Leipzig vor den Volkskammerwahlen im Herbst 1950 Flugblätter und protestierte damit gegen die von der SED durchgesetzte Einheitsliste. Zusammen mit seinen Kommilitonen wurde er von der Leipziger Polizei verhaftet und an den sowjetischen Geheimdienst ausgeliefert. Herbert Belter, der „Anführer“ der Gruppe, wurde im Januar 1951 von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und in Moskau erschossen. Die anderen Studenten verurteilte man zu je 25 Jahren Freiheitsentzug und brachte sie zum Teil bis nach Workuta weit jenseits des Polarkreises, wo sie jahrelang Zwangsarbeit zu verrichten hatten. Der Name „Belter Dialoge“ steht symbolisch für alle in jener Zeit an ostdeutschen Bildungseinrichtungen tätigen Widerstandsgruppen. Junge Menschen,
die sich der Gleichschaltung widersetzten und die geistige Bevormundung
nicht länger hinnehmen wollten sowie für ihre Rechte kämpften.
Dem Zeugnis von erlebter Zivilcourage und studentischem Widerstand an der Universität Leipzig widmeten sich die ersten „Belter Dialoge“ vom 19. Mai 2009. Die Auftaktveranstaltung mit abendlichem Festakt fand im ehrwürdigen Alten Senatssaal der Universität Leipzig statt, an der auch die fünf noch lebenden Mitglieder der „Belter-Gruppe“ teilnahmen. Der vorliegende Band dokumentiert die Reden und Grußworte dieser ersten
Veranstaltung und des Festaktes.
Herzlich gedankt sei an dieser Stelle dem Staatsminister der Justiz,
Herrn Geert Mackenroth, und Herrn Oberbürgermeister Burkhard Jung
für die freundliche Einwilligung, ihre Redebeiträge für eine Veröffentlichung
zur Verfügung zu stellen. Ein besonderer Dank für die konzeptionelle
Unterstützung und Aufbereitung ihrer Manuskripte gebührt Herrn Prof. Dr.
Ulrich von Hehl, Herrn Prof. Dr. Gerald Wiemers und den beiden ehemaligen Mitgliedern der „Belter-Gruppe“, Herrn Prof. Dr. Werner Gumpel und
Herrn Prof. Dr. Siegfried Jenkner, sowie dem Direktor des Universitätsarchivs Leipzig, Herrn Dr. Jens Blecher, für die Beratung und Ausgestaltung
der begleitenden Ausstellung. Für die Ermöglichung der gesamten Veranstaltung und der anschließenden Publikation sei der Konrad-AdenauerStiftung auf das Herzlichste gedankt.
Prof. Dr. Franz Häuser,
Rektor der Universität Leipzig
Dr. Joachim Klose,
Landesbeauftragter der
Konrad-Adenauer-Stiftung
für den Freistaat Sachsen